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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Also ward Gertrudis vermählt an den edlen Herrn von Ringstetten, und Dietrich Fernbacher zog hinaus in den Kampf gegen die Ungläubigen und kam nimmer wieder.“

„Und kam nimmer wieder – nimmer!“

Hertha’s Lippen sprachen leise, wie traumverloren die Worte nach, und dabei nahmen ihre Augen wieder den seltsamen Ausdruck an wie vorhin, als sähen sie etwas, das in weiter Ferne lag, weit hinter dem Nebel und der Dämmerung, welche die Landschaft draußen zu verschleiern begann.

Es entstand ein längeres Schweigen, das Gerlinde nicht zu brechen wagte, aber endlich mahnte sie doch leise: „Hertha – ich glaube, es ist Zeit.“

Hertha sah auf, als werde sie aus einem Traume geweckt.

„Zeit – wozu?“

„Zu dem Feste, man erwartet uns.“

„Ja so – das hatte ich vergessen! Geh’ voran, Gerlinde, ich folge sogleich, ich will nur noch eine Kleinigkeit an meiner Toilette ändern. Ich bitte Dich, geh’!“

Die Aufforderung klang so bestimmt, daß das junge Mädchen ohne weiteres Zögern gehorchte, sie war aber kaum zu der Treppe gelangt, die in das untere Stockwerk führte, als ihr ein Diener entgegenkam, den der General abgesandt hatte. Excellenz ließen die junge Gräfin um ihre Gegenwart bitten, soeben sei der erste Wagen in den Schloßhof gefahren.

Gerlinde kehrte um, um selbst die Botschaft auszurichten; geräuschlos glitt ihr Fuß über den Teppich des Vorzimmers und ebenso geräuschlos öffnete sie die Thür, blieb aber betroffen auf der Schwelle stehen.

Hertha saß oder lag vielmehr in dem Armsessel am Fenster, die Hände krampfhaft in einander geschlungen, das Haupt zurückgelehnt, aber unter den geschlossenen Wimpern drängte sich Thräne um Thräne hervor, und die Brust hob und senkte sich unter einem wilden, leidenschaftlichen Schluchzen. Die junge Braut weinte, weinte so heiß und schmerzlich, wie einst das Kind geweint hatte, als die weißen Schneerosen, die man den zerstörenden kleinen Händen entrissen hatte, den Flammentod starben.

„Hertha, liebe Hertha, was ist Dir?“ rief Gerlinde erschrocken auf sie zueilend. Die Gerufene fuhr empor und ein Blitz des Zornes sprühte aus ihren Augen.

„Was willst Du? Weßhalb kommst Du zurück? Kann ich denn nicht eine Minute allein sein?“

„Ich wollte – ich kam nur, Dich zu holen,“ sagte das junge Mädchen scheu zurückweichend. „Graf Steinrück läßt Dich bitten zu kommen, die Gäste fahren bereits vor.“

Hertha erhob sich und fuhr mit dem Taschentuchs über das Gesicht. In einem Moment waren die Thränenspuren vertilgt, und die junge Gräfin trat anscheinend ganz ruhig vor den Spiegel, um noch einen prüfenden Blick auf ihre Toilette zu werfen, dann griff sie nach dem Rosenstrauß.

„Nun, so laß uns gehen!“

Sie gingen, das Atlasgewand rauschte über die Treppenstufen, und wenige Minuten später traten sie in den Empfangssalon, wo die Braut bereits mit Ungeduld erwartet wurde.

Im Schloßhofe fuhr jetzt Wagen auf Wagen vor und die Festräume begannen sich zu beleben, die Gäste trafen immer zahlreicher ein, und noch vor Ablauf einer Stunde war die ganze Gesellschaft versammelt, vor der General Steinrück nunmehr in aller Form die Verlobung seines Enkels mit der Gräfin Hertha verkündete.

Von Raoul’s Stirn war jede Wolke verschwunden, er schien heute nur Augen für seine Braut zu haben, die so schön, so stolz und siegesgewiß an seiner Seite stand und für jeden Glückwunsch, für jedes Kompliment ein Lächeln hatte. Man fand das sehr natürlich und begriff auch die strahlende Heiterkeit auf dem Antlitz des alten Grafen, dessen eigenstes Werk diese Verbindung war. Er hatte mit fester Hand zusammengefügt, was durch Geburt und Name, durch Glanz und Reichthum zusammengehörte, und es war ein so schönes, ein so glückliches Paar.


Ein trüber Oktoberhimmel lag über dem endlosen Häusermeer der Hauptstadt, das sich mit jedem Jahre weiter und mächtiger ausbreitete. In den Hauptstraßen fluthete der Verkehr wie gewöhnlich und das unaufhörliche Menschengewoge, der Lärm und das Wagengerassel hatten etwas Betäubendes für Jeden, der aus der stillen Einsamkeit der Berge kam und nun mitten in dies fluthende Leben gerieth.

Der General Graf Steinrück hatte seine Wohnung in einem der militärischen Dienstgebäude, wo ihm die sämmtlichen Räume des ersten Stockwerkes zur Verfügung standen. Die Einrichtung war eine reiche, theilweise sogar luxuriöse, soweit sie die Zimmer der Gräfin Hortense betraf; Steinrück trug in diesem Punkte dem Geschmack seiner Schwiegertochter Rechnung und ließ ihr überhaupt freie Hand in Allem, was die Repräsentation betraf, während er andererseits die Zügel seines Hauses fest in Händen hielt. Seine Stellung erlaubte ihm immerhin auf größerem Fuße zu leben, wenn auch die Einkünfte des Familiengutes nicht bedeutend waren.

Die Wohnräume des Generals waren im Gegensatz zu denen seiner Schwiegertochter sehr schmucklos eingerichtet, und das Arbeitszimmer vollends war von einer beinahe spartanischen Einfachheit. Hier herrschte kein trauliches Halbdunkel, wie in jenen Salons; hier gab es keine weichen Teppiche und orientalischen Vorhänge, sogar der künstlerische Schmuck von Gemälden und Statuen fehlte. Durch die hohen Fenster drang das Tageslicht voll und scharf herein; auf dem Schreibtische waren Papiere, Briefschaften und Bücher sorgfältig geordnet, die Möbel von hellem Eichenholz ohne jede Schnitzerei oder sonstige Verzierung, mit dunklem Leder überzogen, konnten kaum schmuckloser sein, und die Bilder an den Wänden hatten offenbar nur einen persönlichen Werth für den Besitzer, als Familienandenken oder Erinnerungszeichen. Es war ein Gemach zum Arbeiten, nicht zum behaglichen Ausruhen, und es entsprach in seiner strengen, fast nüchternen Einfachheit völlig dem Charakter seines Bewohners.

Steinrück saß am Schreibtische und sprach mit seinem Enkel, der soeben von Berkheim zurückgekehrt war, wohin er seine Braut und deren Mutter begleitet hatte. Raoul schien wirklich ein glücklicher Bräutigam zu sein; auf seinem Gesichte lag heller Sonnenschein, als er von der Reise berichtete, auch um die strengen Züge des Grafen spielte ein Lächeln; die Erfüllung seines Lieblingswunsches machte ihn weit milder und zugänglicher als sonst.

Sie hatten von dem bevorstehenden Besuch Hertha’s und ihrer Mutter, von der Vermählung gesprochen, die im nächsten Sommer stattfinden sollte, und Raoul sagte endlich: „Du wirst mich jetzt wohl fortschicken müssen, Großpapa, es ist die Stunde Deines dienstlichen Empfanges.“

„Noch nicht,“ entgegnete der General mit einem Blick auf die Uhr. „Wir haben immerhin noch eine Viertelstunde Zeit, und überdies liegt für heute nichts Besonderes vor, nur einige Meldungen und Vorstellungen jüngerer Officiere.“

Er nahm ein Blatt vom Schreibtische und überflog es, auf einmal aber verfinsterte sich sein Gesicht und halblaut murmelte er: „Ah so! Also heute!“

Raoul, der neben dem Großvater stand, hatte gleichfalls einen Blick auf die Liste geworfen und dort einen bekannten Namen gefunden.

„Lieutenant Rodenberg? Ist der zum Generalstab kommandirt?“

„Kennst Du ihn?“ fragte Steinrück, sich rasch umwendend.

„Einigermaßen, ich war im vergangenen Jahre mit den Rodenbergs zu einer Jagdpartie geladen. Es ist doch einer der Söhne des Obersten, der in W. kommandirt?“

„Nein!“ sagte der General kalt.

„Nicht? Ich glaubte, es gäbe gar keinen anderen Träger des Namens in der Armee.“

„Ich glaubte es auch und war in demselben Irrthum befangen wie Du. Ich werde Dich wohl darüber aufklären müssen, Raoul, welche Bewandtniß es mit diesem Rodenberg hat. Du bist ja durch Deine Mutter längst eingeweiht in die Familiengeschichte unseres Hauses.“

Der junge Graf stutzte und richtete einen fragenden Blick auf den Großvater.

„Ich weiß allerdings, daß dieser Name noch eine andere, peinliche Bedeutung für uns hat, aber davon kann doch hier unmöglich die Rede sein. Es ist doch nicht etwa –?“

„Louisens Sohn!“ vollendete Steinrück finster.

„Um des Himmels willen, das fehlte nur noch!“ rief Raoul in voller Bestürzung. „Taucht diese unselige Geschichte wieder

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 611. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_611.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)