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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

alten Schlagododro! Das wog fürwahr den fraglichen Theatertriumph auf!

Mit einem Male fiel mir schwer auf die Seele: du hättest ihn hinausbegleiten sollen! Was kann sich nicht noch Alles ereignen, bis er durch die vier oder fünf Säle hindurch ist!

Im Begriff, ihm eilig zu folgen, prallte ich in der Thür auf Emil, daß ihm der Kneifer von der Nase fiel.

„Ah, da bist Du!“

„Suchst Du mich?“

„Ja. Mama schickt eben herunter. Jettchen hat gehört, daß Du hier bist. Ob Du nicht auf einen Augenblick herauf kommen möchtest? In der Nacht um halb ein Uhr! Welch’ sonderbare Einfälle diese Kranken haben! Und es soll in fünf Minuten gegessen werden! Wenn Du also gehen willst –“

„Natürlich will ich.“

„Du mußt durchaus gleich wieder kommen. Lili wäre untröstlich. Du brauchst nicht durch die Säle. Gleich hier durch diese Thür! Eine Verbindungstreppe nach oben, geradezu auf den Flur. Du kommst auf demselben Wege zurück. Aber in fünf Minuten!“

Ich hatte die letzten Worte nur noch eben gehört und war bereits durch die Tapetenthür, die mir Emil geöffnet hatte, auf der schmalen Treppe, welche von oben her ein mattes Licht empfing.

„Grüß’ Jettchen!“ rief Emil hinter mir her, indem er die Thür wieder zudrückte.


4.

Ich suchte noch, oben angelangt, leise auftretend, nach der Thür zum Wohnzimmer, als dieselbe geöffnet wurde und Frau Israel heraushuschte mit einem Lichte in der Hand, dessen Schein grell in ihr Gesicht fiel. Ich erschrak. Es lag ein so hilfloser Jammer auf den welken Zügen, in den rothen verweinten Augen. War ich bereits zu spät gekommen?

Aber die alte Frau schüttelte den Kopf, als ob ich es laut gefragt hätte, und deutete mit der zitternden Hand – sprechen konnte sie nicht – nach der angelehnten Thür, durch die ich ihr nun in das Gemach folgte. Sie stellte das Licht in der Nähe der Thür auf einen kleinen Tisch hinter einen Schirm und wies, abermals stumm, nach dem Lehnstuhl an dem großen runden Tisch in der Mitte, an welchem – ebenfalls hinter einem Schirm – ein Lämpchen brannte: ich erkannte es sofort als dasselbe, welches früher allabendlich der gesammten Familie, wenn sie hier um diesen Tisch herumsaß, geleuchtet hatte. Neben dem Lämpchen ein aufgeschlagenes hebräisches Gebetbuch, dessen Hieroglyphen dem Knaben stets so verwunderlich gewesen waren, ebenso wie die Thatsache, daß es Menschen gebe, die so etwas lesen könnten.

Ich wunderte mich, daß ich das Alles, was doch so gleichgültig war, bemerken und denken konnte, während in dem Stuhl, dessen hohe Lehne sie mir verbarg, eine Todte oder Sterbende lag. Der Uebergang aus dem lärmenden Fest unten und dem Lichterglanz in diese dämmerige Grabesstille war zu plötzlich gewesen. Ich fühlte es wie einen schweren physischen Druck auf der Stirn, und nur das dumpfe Klopfen meines Herzens sagte mir, daß ich nicht einen beängstigenden Traum träume, sondern dies Alles wirklich war und sie mich hatte rufen lassen, um von mir Abschied zu nehmen auf immer.

Sie, die, in ein weißes Gewand gehüllt, nun mein zagendes Auge erblickte – ganz so, wie ich sie zuletzt gesehen: wachsbleich mit fast geschlossenen Augen, die zarten durchsichtigen Hände in dem Schoß gefaltet.

„Ich danke Dir,“ flüsterte sie.

Es war so leise gewesen, mein Ohr hatte es kaum vernehmen können, als wäre es keine irdische Stimme mehr, sondern eine aus dem Reich, in welchem ihr seliger Geist schon schwebte, mitleidsvoll derer denkend, die sich noch da unten abmühten auf der dunklen, leidvollen Erde.

Und dieses Mitleid sprach auch aus dem Blick der göttlich sanften Augen, von denen sich die Lider jetzt langsam hoben, und aus dem seligen Lächeln, welches jetzt die blutlosen Lippen umspielte. Die Finger in den gefalteten Händen hatten sich geregt, als ob ich sie, die keine Kraft mehr hatten, fassen sollte. Ich that es, an der Seite der lieben Heiligen niederknieend, und während ihr Blick nun auf mir ruhte, und das Lächeln auf den Lippen blieb, flüsterte die geisterhafte Stimme:

„Ich wollte nicht von hier scheiden, ohne Dich noch einmal gesehen zu haben. Du bist gern gekommen, ich weiß es. Traure nicht um mich, wenn ich gestorben bin. Ich habe ein glückliches Leben gelebt und sterbe gern. Grüß’ Dein schönes vornehmes Lieb von dem armen Judenmädchen, und daß ich sie segne mit meinem besten Segen. Erbarme Dich meiner guten Mutter, habe Mitleid mit dem unglücklichen Emil. Und nun noch eine Bitte: Du wirst sie mir erfüllen: ich gab Dir einmal – vor Jahren – einen Kuß. Gieb ihn mir jetzt zurück!“

Die Augen hatten sich wieder geschlossen, aber das Lächeln um die Lippen war geblieben. Und in einer Empfindung, für die es keine Worte giebt, drückte ich meinen Mund auf die lächelnden Lippen.

Die Lider mit den langen dunkeln Wimpern hoben sich nicht wieder. Nur das holdselige Lächeln war nicht mit ihr gestorben.

Keines Gedankens mächtig, wie an allen Gliedern gelähmt, starrte ich noch immer in das Gesicht der Todten, als mich ein Wimmern aufschreckte und ich, seitwärts blickend, die alte Frau sah, die sich auf die Dielen geworfen hatte und ihr graues Haar zerraufte. Wohl hatte sie ein Recht zu klagen; aber angesichts der lächelnden Ruhe auf dem stillen Gesicht berührte mich der wilde Jammer der Mutter fürchterlich. Und in die Wimmertöne und die gemurmelten hebräischen Worte tönte dumpf das Geräusch des Festes unten und jetzt deutlicher die vibrirende Stimme der Frau Lili. Ein Schauder packte mich und der zornige Wunsch, ich könnte den frevlen Lärm zu einer jähen Ruhe bringen.

Die Thür wurde geöffnet. Ich glaubte, es sei Emil. Es war ein mir fremder Herr, ein Arzt, nach welchem die Mutter geschickt haben mochte, und der nun zu spät gekommen war. Eine alte Magd hatte ihn begleitet, die neben der jammernden Herrin sich auf den Boden warf, in die hebräischen Gebete einstimmend. Ich sah, daß ich vor der Hand hier nichts weiter nützen konnte, und sagte es dem Arzt – einem theilnahmsvollen und offenbar der Familie längst befreundeten alten jüdischen Herrn – und daß ich es über mich nehmen wollte, Emil zu benachrichtigen. Er war damit einverstanden, sagte auch, daß er vorläufig hier bleiben werde. Ich wagte nicht, die Todte noch einmal anzusehen, und verließ die Wohnung, nicht auf dem Wege, den ich gekommen und der mich mitten in die Gesellschaft geführt hätte. Ich wollte Emil herausrufen lassen, was nur von dem Hauptflur aus möglich war.

So ging ich die große Treppe hinab bis in den Vorraum des ersten Stockes, in welchem mir ein junger Herr begegnete, den ich in Emil’s Komptoir gesehen zu haben mich erinnerte. Er war jetzt im Gesellschaftsanzug und kam aus den Gesellschaftsräumen; aber er hatte eine verstörte ängstliche Miene, so daß ich glaubte, man habe bereits, ich konnte nur freilich nicht denken wie, Jettchen’s Tod hier unten erfahren. Ich fragte deßhalb in meiner Verwirrung, ob man es schon wisse? Der junge Mann ahnte offenbar nicht, wovon ich sprach, denn er sagte, jetzt völlig erschrocken: „Mein Gott, wie können Sie – ich sollte Herrn Löbinsky rufen; ich kann ihn nicht finden, habe Herrn Samuelson gesagt, er soll ihn suchen. Muß wieder zu Herrn Israel –“

„Wo ist Herr Israel?“

„Unten im Komptoir.“

Ich machte eine Bewegung; der junge Mann hielt mich fest: „Sie können ihn jetzt nicht sprechen!“

„Ich muß ihn sprechen. Gehen Sie immer voraus und sagen Sie es ihm. Ich will mir nur noch eben meine Sachen geben lassen.“

Der junge Mann wagte keinen Widerspruch; er eilte in großen Sprüngen die Treppe hinab; ich folgte ihm gleich darauf, verwundert, was dies zu bedeuten habe, in dem seltsam-sicheren Vorgefühl, daß es nichts Gutes sei; daß der heilige Mund, der sich eben für immer geschlossen, ein Prophetenmund gewesen, und daß ich den „unglücklichen Emil“ noch über etwas Anderes, als über ihren Tod zu trösten haben würde.

(Fortsetzung folgt.)

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 660. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_660.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2022)