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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Auch in anderen Ländern giebt es Eroberer und Eroberte. In Frankreich haben die Franken die Kelto-Romanen, in Preußen die Deutschen die Sorben und Wenden, in England die Normannen die Angelsachsen unterworfen. Aber in diesen Ländern sind die erobernde und die eroberte Bevölkerung unter dem Scepter der gemeinsamen Dynastie und dem Druck des einheitlichen Staates zu einer gleichen Masse zusammengewachsen.

In der europäischen Türkei ist das Gegentheil eingetreten. Seit Sultan Amurad 1361 Adrianopel, und Muhamed 1453 Konstantinopel eingenommen, hat sich im Verhältniß der herrschenden Rasse zu den beherrschten nichts Wesentliches geändert. Beide vermischen sich so wenig wie das Oel mit dem Wasser. Sie haben wenig oder gar nichts Gemeinsames mit einander. Der Türke handelt nach dem Grundsatz: „Zahlt was Ihr sollt; thut was Ihr wollt!“ Sein Herrscherbewußtsein ließ ihn jeden Gedanken der Annäherung und Assimilirung zurückweisen. Dazu kam sein Glaube, der den Koran auch für politische, wirthschaftliche, bürgerliche und sociale Dinge als das allein-gültige Gesetzbuch betrachtet, so daß er vor dem Gedanken zurückschreckt, gleiches Recht für Alle einzuführen und den „Staat des Kalifen“ gleichsam zu verweltlichen oder zu säkularisiren.

So haben sich die alten Gegensätze erhalten, befestigt und immer tiefer gefressen. Zwischen dem Türken und der Raja ist die Kluft immer unüberbrückbarer geworden; und die verschiedenen einzelnen Völker der „Raja“ haben sich mittels der Autonomie, welche ihnen der Türke aus Trägheit gelassen, immer mehr differencirt und ein Jedes für sich selbständig entwickelt.

Das Alles trat nicht so zu Tage, so lange die Nation der Osmanli ihre gleichsam jugendliche Ausdehnungs- und Spannkraft bewahrte, als Eroberer auftrat und dem christlichen Europa gegenüber sich als eine fremde, feindselige und allezeit angriffslustige Macht hinzustellen wußte.

Allein als die Spannkraft aufhörte, begann der Verfall und alle in Obigem angedeuteten Schwächen und Mängel des türkischen Staats- und Gesellschaftswesens traten mit jeder Annäherung an das christliche Europa greller zu Tage. Die Reformen, welche unter europäischem Einfluß proklamirt wurden, sind entweder ein todter Buchstabe geblieben, oder sie haben sich in ihr Gegentheil verwandelt. Die mit den europäischen Staaten abgeschlossenen Verträge binden den Türken Hände und Füße und machen jede Steuer- und Justizreform unmöglich. Am 18. Februar 1856 erließ der Sultan seinen von Reformen überfließenden Hatti-Humajum. Zur Belohnung dafür erklärten die Mächte auf dem Pariser Kongresse, 30. März 1856, „die hohe Pforte der Vortheile des öffentlichen europäischen Rechts und des europäischen Koncertes theilhaftig“. Dies war ein Danaer-Geschenk. Im Jahre 1854 hatte die Pforte unter Gönnerschaft der Westmächte eine Anleihe von drei Millionen Pfund Sterling gemacht. Dies war der Anfang ihrer Schulden. Jetzt hat sie über 250 Millionen Pfund Schulden; und je mehr sie pumpt, desto weniger hat sie. Es fehlt sogar zuweilen an Geld für Munition und Soldaten. Die vornehme Welt in der Türkei hat sich europäische Laster angeeignet, ohne europäische Vorzüge, und die guten Eigenschaften des wahren Türken hat sie verloren, namentlich auch den kriegerischen Geist der alten Osmanli.

Die Türkei, die es versäumt hat, sich bei Zeiten einheitlich zu organisiren, droht zu verfallen. Ihr europäisches Gebiet beginnt zu zerbröckeln. Sie hat Rumänien und Serbien, Bosnien und die Herzegowina, Bulgarien, Griechenland und Cypern, Montenegro und einen Theil von Albanien schon so ziemlich verloren. Auch das Uebrige ist schon halbwegs vergeben. Streit herrscht eigentlich nur darüber, wer Konstantinopel haben soll, und wer diejenigen Gebiete, worin die Völker so im Gemenge liegen, daß für das nämliche Territorium zwei oder drei Bewerber vorhanden sind, wie Macedonien und Epirus.

In Westeuropa fürchtet man noch vielfach, Alles werde schließlich den Russen zufallen. Namentlich aber in Deutschland herrscht noch in gewissen Kreisen die Meinung, die slawische Bevölkerung der Balkan-Halbinsel, der Donauländer und des südlichen Abhanges der österreichischen Ostalpen wünsche nichts sehnlicher als unter russischer Oberherrschaft in dem alleinseligmachenden Schoße des Panslawismus auf- oder unterzugehen. Nichts kann irrthümlicher sein als eine solche Meinung. Ob früher eine solche Schwärmerei für Rußland geherrscht hat, weiß ich nicht. Ich bereise diese theils österreichisch-ungarischen, theils vormals türkischen, theils noch türkischen Länder seit dem Jahre 1871 in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen, und habe nirgends eine solche Weltanschauung gefunden. Schon 1875 nicht, und noch weniger 1885. Im Jahre 1875, als die christlich-slawische Bevölkerung das türkische Joch abzuschütteln gedachte, hatte sie vielfach die Ansicht, dies sei nicht möglich ohne russisches Geld und russische Waffen. In Montenegro nahm man den russischen Rubel sehr gerne; in Serbien waren die russischen Officiere und Freiwilligen äußerst willkommen. In Bulgarien erschienen die Russen als Befreier. Auch in Kroatien und Slawonien jubelte man über ihre Siege, weil man auf der Schlußkoulisse das dreieinige Königreich Jllyrien, bestehend aus Kroatien, Slawonien und Dalmatien, zu erblicken glaubte; und in Laibach erweiterte man dieses großillyrische Reich zu einem noch größeren Groß-Slawonien, das sich von den Alpenabhängen von Kärnten und Südsteiermark bis Konstantinopel und Saloniki, von der Drawa und der Sawa bis zum Hellespont und dem ägeischen Meer erstrecken sollte. Aber Keiner von Allen wollte „russisch werden“. Auch war der Sinn der Leute durchaus nicht auf „Panslawismus“ gerichtet, sondern Jeder wollte ein ausschließlich südslawisches Gemeinwesen, dessen Mittelpunkt wo möglich er selbst sei. Der Eine dachte an eine Monarchie, der Andere an eine Republik, der Dritte an eine Föderativ-Republik. An eine russische Herrschaft dachte eigentlich Niemand. Ja, noch nicht einmal an ein bleibendes russisches Protektorat. Höchstens mit Ausnahme einiger Popen, welche ihre geistliche Ausbildung in Rußland erhalten hatten, und auch zur Zeit noch allerlei Vortheile von dorther bezogen. Aber der Einfluß der Popen ist so groß nicht, wie man in Deutschland zu glauben geneigt ist. Man glaubt an ihren Segen und an ihre Beschwörung, aber man schenkt dem Mann selbst als solchem wenig persönliches Vertrauen und gestattet ihm wenig Einfluß auf weltliche Dinge.

Im Jahre 1885 bemerkte man sogar eine entschieden anti-russische Strömung. In Athen sagte man: „Was wollen hier denn die Russen? Konstantinopel war griechisch, bevor es der türkischen Eroberung und Fremdherrschaft anheimfiel, und wenn man nun die Türken aus Europa vertreiben und den früheren Zustand wieder herstellen will, dann muß Byzanz den Hellenen wiedergegeben werden.“ In Athen herrscht sogar eine gewisse Antipathie wider die Königin, obgleich sie eine vortreffliche Frau ist. Man sagt: „Sie ist Russin, und deßhalb paßt sie nicht für die Griechen.“ Es ist die Abneigung der Griechen gegen die mit ihnen konkurrirenden Staaten, trotz kirchlicher Verwandtschaft.

In Rumänien hat man nicht vergessen, welche große Dienste die rumänische Armee den Russen 1877 geleistet, und wie wenig sich Rußland dem Herrscher und dem Volk von Rumänien dankbar erwiesen.

In Bulgarien will die Mehrheit Unabhängigkeit des Landes und schwärmt für den tapferen „Battenberger“, der ihnen dieselbe erobert. Der Handstreich vom 21. August ist mißrathen.

Ein junger slowenischer Gelehrter aus der Krain sagte mir 1885, die Slowenen seien der Kernpunkt der südslawischen Bevölkerung, auch sei ihre Sprache und Litteratur am meisten entwickelt; und da die Sprache der Kroaten, der Serben und der Bulgaren zwar etwas anders sei, der Unterschied aber nur in den aus fremder, nichtslawischer Sprache entlehnten Worten und in bloß dialektischen Abweichungen bestehe, so müsse es doch schließlich so weit kommen, daß alle diese „Brüder“ die slowenische Sprach- und Schreibweise adoptirten und sich zu einem großen Südslawischen Reiche vereinigten, das von den Alpen und der Adria und dem ionischen Meere bis zum Pontus Euxinus und zum ägeischen Meer reiche, einig im Innern und unabhängig nach außen.

Ich fragte ihn: „Und der Panslawismus? Und das heilige Rußland? Sprach man damals nicht ganz anders, als man 1868 nach Moskau wallfahrtete und die Herrschaft des Panslawismus unter russischem Scepter proklamirte? Proklamirte für alle slawischen Völker, – für die im Norden, wie für die im Süden?“

„Ja,“ antwortete er, „damals sprach man allerdings so; aber das ist heute ein überwundener Standpunkt. Das war Alles eitel Phantasterei und leerer Wortschwall. Heutzutage denken wir anders. Wir Südslawen können mit den Russen, den Polen und den Tschechen nichts machen. Wir müssen vor Allem unsere eigene südslawische oder jungslawische Nationalität kultiviren, unsere Sprache pflegen, unsere Kultur fortentwickeln. Dank den Bemühungen unserer Gelehrten, unserer Historiker, Sprachforscher und Dichter, hat unsere nationale Kultur schon recht schöne Fortschritte gemacht. Aber sie ist noch nicht so stark, einen Salto mortale in das uferlose Meer des Panslawismus riskiren zu können. Sie würde in demselben ertrinken, und wir würden dabei alle Früchte unserer bisherigen Anstrengungen wieder verlieren. Wir müssen uns näher liegende praktische Ziele setzen. Wir haben auch gar keine Ursache, uns von der österreichisch-ungarischen Monarchie loszureißen. Könnten wir Krainer, Kärntner und südsteirischen Slowenen uns zunächst mit dem Königreich Kroatien-Slawonien vereinigen, so wäre damit der erste Schritt schon geschehen. Der zweite wäre der Beitritt von Dalmatien, Bosnien und der Herzegowina. Das große südslawische Reich wird dereinst kommen, ohne Zweifel. Aber es wäre nicht gut, jetzt schon zu viel davon zu reden. Unsere Einheitssonne wird plötzlich aufgehen, wie sie auch über Italien und Deutschland aufgegangen ist, die noch viel zerrissener waren, als wir es sind.“

Ich gebe diese Aeußerungen so wieder, wie ich sie erst kürzlich an Ort und Stelle hörte, ohne Zustimmung, ohne kritische Noten und ohne Vorbehalte. Denn es kommt mir durchaus nicht darauf an, Politik zu treiben oder Propaganda zu machen für diese oder jene der verschiedenen im Südosten von Europa konkurrirenden und ringenden Nationalitäten. Vielmehr will ich nur aus den Beobachtungen, die ich an Ort und Stelle mit dem unbefangenen Herzen eines aufrichtigen Menschenfreundes gemacht habe, Einiges zusammenstellen, das geeignet ist, Licht über die Lage der Dinge im Süd-Osten zu verbreiten.



Blätter und Blüthen.


Mißglückter Einbruch. (Mit Illustration S. 645.) Unter den Dorfbewohnern Süditaliens herrschen noch heute die wunderlichsten Ansichten über die Macht und das Ansehen der Heiligen. Dieselben sind in förmliche Rangstufen eingetheilt, deren Grenzen allerdings so locker gezogen sind, daß sich über die Macht des einen Heiligen im Vergleich zu der eines anderen wohl streiten läßt. Namentlich gilt dies von vielen Schutzheiligen der einzelnen Dörfer. Was daraus bei dem geringen Bildungsgrade der Süditaliener entsteht, ist leicht zu errathen. Eine Ortschaft verachtet den Schutzpatron der andern und verspottet ihn auf alle mögliche Weise. Wie weiland die Guelfen und Ghibellinen fallen die Anhänger oder richtiger Parteigänger über einander her, und der Streit über die Heiligen spaltet selbst die Familien, wenn die Frau mit den Töchtern vielleicht zufällig S. Giovanni, der Vater mit den Söhnen S. Antonio anhängt.

Namentlich bei den Festen kommt der Heiligenstreit zum Ausbruche. In einem sicilianischen Orte, Medica, giebt es die Parteien der S. Georgianer

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 663. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_663.jpg&oldid=- (Version vom 3.12.2023)