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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

genau des eleganten schönen Mannes mit den aristokratischen Zügen, und mit wie stürmischer Zärtlichkeit die Kleine an seinem Halse gehangen, wenn er nach wochenlanger Abwesenheit in sein Heim zurückkehrte. Damals trug Hortense noch Trauer um die Mutter; es hatte so seltsam ausgesehen, das wilde blasse Kind in der tiefschwarzen Kleidung. Auch die Erzieherin vergegenwärtigte sich ihr wieder, die beständig alterirte ältliche Person, die ewig auf der Suche nach ihrem Schützling war. „O, Mademoiselle Lucie, liebste Madame Walter, haben Sie Hortense nicht gesehen?“

Lucie war es streng verboten, sich durch den Wildfang zu Spazierfahrten mit dem Ziegenbock oder zu Ritten auf dem Pony verführen zu lassen. Mademoiselle Bertin aber hatte der Mutter förmlich gute Worte gegeben in ihrem gebrochenen Deutsch. „Lassen Sie, Frau Doktor, Mademoiselle Lucie öfter kommen! Hortense hat ein Faible für sie; sie ist sonst sehr exclusiv. – Mademoiselle Lucie ist so sanft, sie wird haben guten Einfluß auf Hortense.“

Sie erinnerte sich aller der Spiele, die Hortense angegeben, des Wettlaufens im Hofe, der heimlichen waghalsigen Klettereien auf dem Hausboden, und dann der Schelte, wenn sie mit bestäubten zerrissenen Kleidern vor der Mutter stand. Und sie meinte mit einem Male wieder die lockende unbezwingliche Sehnsucht zu fühlen, die sie damals empfanden, wenn sie an dem Tische der Kinderstube saß mit einer Schularbeit beschäftigt, und aus dem Gezweig des Birnbaumes vor den Fenstern das blasse Kindergesicht mit den winkenden grauen Augen auftauchte, von dunklem Haar umfluthet. „Kommst Du nicht? Mache rasch! Ich warte in der Scheuer.“

Hals über Kopf wurden die Exempel gerechnet: dann hockten sie in der dämmerigen Scheuer, wo es so merkwürdig dumpfig roch. Und Hortense erzählte. „Wenn ich erst groß bin, dann –.“ Sie hatten schon damals viel von einem Bräutigam gesprochen.

Sie lächelte. Es war doch wunderbar, daß sie sich hier wieder trafen nach so vielen Jahren! Wie mochte es ihr ergangen sein? Sie hätte es gern gehört, aber sie wußte nicht recht, wie sie sich erkundigen sollte. „Wie geht es Mademoiselle Bertin?“ fragte sie endlich.

„O, danke, gut! Ich habe sie noch bei mir; sie ist sehr stark und wunderlich geworden.“

Lucie schwieg wieder. Dann fiel ihr ein, wie Hortense einst eine wunderbar schöne Puppe von ihrem Onkel bekam, der sich besuchsweise bei ihrem Vater aufhielt, und wie sie diese Puppe sofort an Lucie verschenkt hatte, weil sie „solche Albernheiten, wie Puppen, nicht leiden könne“. „Wie geht es denn dem alten Onkel Ludolf? Ich erinnerte mich eben an die Puppe,“ setzte sie stotternd hinzu, als Hortense das Buch sinken ließ und sie groß anschaute.

„Alt? Ja, er war sieben Jahre älter als mein Papa,“ erwiderte sie. „Du kanntest ihn – richtig! Ich habe ihn später geheirathet, gleich als ich aus der Pension kam. Dann – vier Wochen nach unserer Hochzeit, stürzte er in Baden-Baden bei einem Rennen und starb am anderen Tage.“

Lucien’s Augen hatten sich vor Erstaunen vergrößert. „O, wie traurig,“ sagte sie herzlich, „das thut mir leid! Und nun bist Du so einsam geblieben?“

Die junge Frau antwortete nicht; sie zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen: „Es ist das Schlimmste noch lange nicht.“ Nach einer Pause setzte sie flüchtig hinzu, indem sie wieder ihr Buch aufnahm: „Ich habe mich wieder verlobt und verheirathe mich in vier Wochen.“

Lucie wagte nicht zu fragen, mit Wem? Aber Hortense gab sofort Auskunft darüber: „Mein Bräutigam heißt von Wilken und steht bei den X.-Dragonern.“ – Sie wandte wieder den Blick in ihr Buch und schien bald angelegentlich zu lesen. Endlich legte sie die Lektüre beiseite, lehnte den Kopf an die Polster und schloß die Augen. Auch Lucie setzte sich bequemer zurück; ihre Gedanken flatterten voran in die neue Heimath, und allmählich beschäftigte sie sich ganz mit ihrer nächsten Zukunft.

Als sie an ihre unbekannte Schwiegermutter dachte, überkam sie eine gewisse Angst; sie holte ein Taschenspiegelchen hervor und sah zu, ob die geschnitzte Elfenbeinrose gerade sitzen geblieben und die Stirnlöckchen nicht allzusehr zerzaust seien. Endlich nahm sie Nähnadel und Faden und vernähte einen winzigen Riß in den braunseidenen Handschuhen.

So fuhren die Beiden schweigend dahin. Die regelmäßige Erschütterung des Wagens wirkte allmählich einschläfernd auf das junge Mädchen. Sie erwachte erst, als Frau von Löwen ihre Schulter berührte und sagte. „Wir sind gleich in Hohenberg.“ – Lucie bekam auf einmal heftiges Herzklopfen; mit zitternden Händen rüstete sie sich zum Verlassen des Wagens, während Hortense sie halb belustigt, halb mitleidig betrachtete.

„Du scheinst sehr aufgeregt?“ sagte sie.

„Mir ist angst!“ gab die kleine Braut zurück.

„Warum? Er wird wohl mit einem Strauß auf dem Perron stehen? Nicht?“

Lucie ward dunkelroth. „Ach, ich glaube es nicht,“ stotterte sie, aber ihre glücklichen Augen widersprachen den Worten.

Nun hielt der Zug, und Hortense von Löwen sagte ihrer Reisegefährtin Adieu. „Ich werde mich freuen, Dich bei mir zu sehen, Lucie.“

„Ich komme!“ versicherte Lucie, halb erstickt vor Angst, „und vielen Dank nochmals, vorläufig –.“

Hortense stieg aus dem Wagen und schritt über den Perron, vor dessen Eingang ein eleganter Einspänner hielt. Sie trat zu dem schönen Thiere heran, klopfte ihm den glänzenden Bug und Hals, sprang auf den hohen Kutschersitz und nahm die Zügel. Sie wartete dort noch auf ihren kleinen Koffer, als zwei Damen an ihr vorüber schritten und ein paar braune enttäuschte Augen zu ihr aufschauten – die kleine Reisegefährtin mit der Schwiegermutter. Der Bräutigam war also wirklich ausgeblieben. Sie sah ihnen nach. Die alte hagere Dame mit den scharfen Gesichtszügen in dem spießigen unmodernen Kaschemirumhange hatte sie keines Blickes gewürdigt. Ihre Lippen kräuselten sich spöttisch, als hörte sie, was jetzt über sie gesprochen wurde.

„Kennst Du die Dame, mein Kind?“

„Ja, ich fuhr mit ihr – ja, von früher her; wir haben zusammen gespielt, und heute trafen wir uns zufällig wieder.“

„Das ist aber durchaus keine Bekanntschaft, die Du fortsetzen darfst! Diese Frau von Löwen ist eine ganz verdrehte exaltirte Person, sie reitet, fährt, raucht Cigarren –

In diesem Augenblick holte das rasche Fuhrwerk die Sprechenden ein; Hortense sah in eine verlegene erschreckte Miene, und das spöttische Lächeln verschärfte sich um ihren Mund.

„Sie sieht entsetzlich herausfordernd aus,“ seufzte die Frau Steuerräthin Adler. „Das sollte meine Tochter sein!“

Lucie wagte nicht zu widersprechen, obgleich eine Vertheidigung aus ihren Lippen schwebte. Und jene zwanzig Mark, die sie dem Portemonnaie der geschmähten Frau entnommen, die eben in einer Staubwolke auf der Chaussee ihren Blicken entschwand, brannten sie wie Feuer. – Sie war ein so liebes gutes Kind gewesen, und nun so?

Indessen flog der Wagen rasselnd über das schlechte Steinpflaster der Straßen, bog am Ende einer Gasse in ein Thor, das sich sofort hinter dem Gefährt schloß, und hielt nun vor einem von uralten hohen Rüstern umstandenen Hause. In der geöffneten Thür harrte ein alter Herr mit silberweißem Scheitel und in peinlich sauberem Anzuge der Kommenden. Er hatte sich auf einen Stock gestützt und streckte nun der jungen Dame die zitternde Hand entgegen. „Grüß’ Gott, Hortense! Es ist gut, daß Du wieder daheim bist!“

„Guten Tag, Großpapa!“ erwiderte sie, und seinen Arm nehmend, trat sie mit ihm in den großen kühlen Hausflur und leitete ihn in ein Zimmer zu ebener Erde, das elegante Gemach eines Kavaliers aus vergangener Zeit. Kostbar eingelegte Möbel mit Bronzeverzierungen; am Fenster, das nach dem Garten hinaufsah, der Sorgenstuhl mit verblichenem Brokat bezogen, davor auf dem Tischchen die Kreuzzeitung und die schwere goldene Dose neben dem Gothaischen Kalender. Dicke wollene Vorhänge vor Thür und Fenster, an den Wänden Bilder, Darstellungen aus den Befreiungskriegen, ein Portrait der Königin Luise, umgeben von ihren Kindern, Familienportraits in Unzahl, gepudert und bezopft und später mit zierlichem Titusgelock. Ein Pfeifenständer mit prächtigen Meerschaumköpfen; ein ausgestopfter Hühnerhund vor dem deckenhohen Spiegel; zwei Waffenschränke mit alten kostbaren Gewehren und eine Reiterstatue unseres Kaisers, halb verdeckt durch einen Lorbeerkranz mit breiter Schleife. Eine erstickende Wärme herrschte in dem Raume und eine tabaksdunstige Luft.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_003.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)