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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

gemeinsam, wenngleich naturgemäß bei dem „zarten Geschlechte“ häufiger auftretend, als bei dem männlichen. Daß die Neurasthenie in den sogenannten gebildeten Kreisen der Großstädter, unter den oberen Zehntausend, weit häufiger herrscht als auf dem Lande, unter Arbeitern und Oekonomen, findet in dem Umstande Erklärung, daß bei den Letzteren glücklicherweise den Nerven noch keine übernatürlich große Rolle eingeräumt zu werden pflegt.

Die Neurasthenie, nebenbei bemerkt ein Zustand, welcher schon vor Jahrtausenden, wenn auch nicht so oft wie in der Gegenwart, den Menschen heimsuchte, giebt sich durch die verschiedenartigsten Zeichen und Erscheinungen kund, welche, in so bunter Gestalt sie immer auftreten, doch nur darauf beruhen, daß das Nervensystem durch geringe Reize, also bei scheinbar unbedeutenden Anlässen rasch und hochgradig in Erregung versetzt wird, daß es seine Widerstandskraft mehr oder minder eingebüßt hat und daß es nach kurzer Zeit seiner Thätigkeit in Ermüdung verfällt, welche bis zur Erschöpfung herabsinken kann. Solch geschwächtes Nervensystem vermag sich gegen krankmachende Ursachen nicht energisch zu behaupten, und so bietet die Nervenschwäche häufig genug den Ausgangspunkt ernster Nervenleiden und Geisteskrankheiten. Nervenschwache Personen sind schon durch ihr Auftreten und Benehmen, durch ihr Wesen und Gebahren kenntlich. Ihre hohe Reizbarkeit und gesteigerte Empfindlichkeit, ihre körperliche und geistige Unruhe, ihr rascher Wechsel in Empfindung und Anschauung, ihre leichte Ermüdung giebt sich äußerlich genugsam kund. Sie vermögen nicht lange auf einem Platze ruhig zu bleiben, sie lieben in ihren Arbeiten und Erholungen die Abwechslung, sind durch Kleinigkeiten in Zorn und Erregung zu bringen und bereuen schnell wieder diese Aufwallung, zeigen große Launenhaftigkeit, in derselben Stunde oft ohne ernsten Anlaß himmelhoch jauchzend und dann wieder zu Tode betrübt.

Die gesteigerte Empfindlichkeit tritt in den verschiedensten Nervenbahnen hervor. Die Nervenschwachen klagen über heftiges Kopfweh, Eingenommensein des Kopfes, Augenschmerzen, Flimmern vor den Augen, Schwindelgefühl, Ohrensausen, Empfinden eigenthümlicher Geräusche in den Ohren, sonderbare Geruchsempfindungen, Rückenschmerzen, Gliederreißen, schmerzhafte Gefühle in den Muskeln und Knochen, ohne daß sich selbst durch die genaueste ärztliche Untersuchung in diesen Organen Veränderungen nachweisen lassen, welche eine Erklärung für den Sturm von Schmerz und Qual zu bieten vermögen. Die Klagen solcher in ihrem Nervensysteme geschwächter Personen finden aus diesem Grunde bei der Umgebung und auch bei Aerzten oft genug nur taube Ohren. Anfangs bemitleidet man die ewig Klagenden; später findet man sie langweilig, und endlich werden sie zum Gegenstande des Spottes. Um so ungerechtfertigter ist das Letztere, als die Nervenschwachen sich ja all die unangenehmen und peinlichen Empfindungen nicht etwa „einbilden“, wie der Laie sich ausdrückt, sondern thatsächlich fühlen. Durch die erhöhte Reizbarkeit des Gehirnes und der gesammten Nerven, welche mit der Neurasthenie einhergeht, kommt es bei den nervenschwachen Personen häufig zu peinigenden Angstgefühlen und quälenden Zwangsvorstellungen, die bei den geringsten Anlässen auftreten und hoch anschwellend alles Denken und Trachten gefangen nehmen, so daß es zuweilen schwierig wird, die Entscheidung zu treffen, ob es nicht bereits zur wirklichen Umnachtung des Geistes gekommen ist.

Eine eigenthümliche Form solcher Angstgefühle ist, daß mancher Nervenschwache, der sich sonst beim Gehen selbst weiter Strecken und beim Steigen auch hoher Berge ganz wohl fühlt, außer Stande ist, allein über einen großen, freien Platz zu gehen. Sobald er nur den Platz erblickt, tritt bei dem Bedauernswerthen sogleich Herzklopfen und Schwindel ein; auf der Stirne perlen die Schweißtropfen, die Hände und Füße fangen zu zittern an, vor den Augen flimmert, vor den Ohren saust es, und während der Kranke sich wie an den Boden gefesselt fühlt, ist ihm ein Vorwärtsschreiten fast unmöglich. Der Arme ist nicht im Stande, über den Platz zu kommen, und schlägt lieber einen größeren Umweg ein, um an sein Ziel zu gelangen; hat er sich aber dennoch zu überwinden vermocht und den Versuch zum Ueberschreiten des Platzes gemacht, dann kehrt er sicherlich auf halbem Wege zurück, und nichts vermag ihn zu bewegen, wieder vorwärts zu gehen. Wenn der solchermaßen von „Platzangst“ Gequälte Jemand neben sich hat, und wenn es auch nur ein Kind wäre, an das er sich halten kann, so kann er seinen Weg über den Platz nehmen. Ebenso genügt zuweilen zur Bannung dieser Angst, wenn der Betreffende sich auf einen Stock oder Schirm stützen kann, oder wenn er langsam dicht hinter einem Wagen, welcher den Platz passirt, einherschreitet und sich des Fuhrwerkes gleichsam als Führers bedient. Ein ähnliches Angstgefühl befällt wiederum andere nervenschwache Personen, wenn sie in geschlossene Räume eintreten, welche von Menschen erfüllt sind. Es ist ihnen darum nicht möglich, das Theater, den Concertsaal, die Kirche zu besuchen, und machen sie den Versuch hierzu, so treten mit unwiderstehlicher Gewalt beängstigende Vorstellungen, Schwindelanfälle, ja selbst Ohnmacht ein. Solche mit zwingender Macht plötzlich auftauchende Angstgefühle machen sich zuweilen auch beim Alleinsein in einem Zimmer, bei geschlossenen Fenstern und Thüren, beim Ueberschreiten einer Brücke, beim Fahren auf der Eisenbahn, bei Benutzung eines Bootes bemerkbar.

Der eingreifende Einfluß, den die allgemeine Nervenschwäche auf die Verdauungsorgane, auf den Magen und Darm mit ihrem Drüsenapparate übt, giebt sich durch wesentliche Störungen in der Thätigkeit dieser für die Erhaltung des Körpers so wichtigen Werkzeuge kund. Das normale Hunger- und Sättigungsgefühl ist beeinträchtigt, die Verdauungsflüssigkeiten werden in abnorm veränderter Menge oder krankhafter Beschaffenheit abgesondert, die Bewegungen des Magens und Darmes sind gehemmt oder beschleunigt, und eine Menge von Beschwerden und Unbehaglichkeiten begleitet jenen Akt, der beim gesunden Menschen stets mit einem gewissen Wohligkeitsgefühle verbunden ist, das Verdauen einer Mahlzeit. Gerade die Störung und Beeinträchtigung, welche die Verdauungsorgane bei Neurasthenie erleiden, sind von einschneidender Bedeutung, indem hierdurch die Gesammternährung des Körpers leidet und so der geschwächte Organismus dem Weiterschreiten der Krankheit noch geringeren Widerstand zu leisten vermag.

Schon aus den wenigen Strichen, mit denen ich in voranstehenden Zeilen die Neurasthenie skizzirte, ist ersichtlich, daß diese Krankheit unter wechselreichen Erscheinungen auftritt. Da sie aber erfahrungsgemäß einen fruchtbaren Boden für das Emporwuchern ernster Nervenkrankheiten abgiebt, müssen schon die frühesten Zeichen einer erhöhten Reizbarkeit, leichten Hinfälligkeit und herabgesetzter Widerstandsfähigkeit der Nerven wohl beachtet und bekämpft werden.

Es geschieht dies Letztere sowohl durch angemessene Kräftigung des Gesammtorganismus und hierdurch verbesserte Ernährung des Nervensystems, als auch durch psychische Beeinflussung und Hebung der Willensenergie. Ein Haupterforderniß jeder Kur der Neurasthenie, das allerdings oft schwer zu erfüllen ist, geht dahin, die Ursachen, welche die Nervenschwäche hervorriefen oder förderten, zu heben. Darum ist es so wichtig, den Nervenschwachen, wenn irgend möglich, aus seinen gewohnten Verhältnissen herauszureißen und in eine angenehme ruhige Landgegend zu versetzen, wo der Stoffwechsel neu belebt und angeregt wird, dabei aber an die Nerventhätigkeit die geringsten Ansprüche gestellt werden. Jede Gelegenheit zur Anspannung, Aufregung und Ueberreizung der Nerven muß sorgfältig vermieden; jegliche Arbeit des Körpers und Geistes, jeder Genuß soll nur mit Maß gestattet werden, damit die Nervenkraft sich erhalten oder wiederherstellen kann.

Wo Nervenschwäche in einer Familie den Kindern als unwillkommene Erbschaft bereits in der Wiege zufällt, erfordert die Erziehung von frühester Jugend an ganz besondere Sorgfalt. Man muß vorzüglich bestrebt sein, die Widerstandsfähigkeit des Nervensystems zu heben. Die Kinder dürfen bei aller Sorgfalt für ihr körperliches Gedeihen nicht verweichlicht und verwöhnt werden; sie müssen angehalten werden, ihre Launen und Stimmungen zu beherrschen. Ihr Geist bedarf ebenso wie ihr Körper einer strengen, richtigen Schulung, ausreichender Kräftigung und Uebung ohne Ueberanstrengung. Zu Jünglingen herangereift, müssen solche angeboren Nervenschwache sich vor übermäßigem Genusse geistiger Getränke hüten, Ausschweifungen aller Art meiden, aber auch das Gehirn nicht durch allzu emsiges Studiren überbürden. Bei Tage ist der körperlichen Bewegung im Freien, zweckentsprechender Gymnastik, genügende Zeit zu widmen, die Nacht aber der vollen Ruhe, ausreichend langem Schlafe zu bestimmen. Manchem Studenten, der von Haus aus nervenschwach veranlagt ist, hat nicht so sehr die wissenschaftliche Tagesarbeit als das nächtliche Kneipen und Schwärmen das Nervensystem ruinirt. Wichtig ist es aber, wenn bei nervenschwachen Kindern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 11. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_011.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)