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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Speranza.
Novelle von A. Schneegans.
(Schluß.)


Auf dunklem Bergespfade reitet ein Ritter, in seinen Armen hält er ein blutendes Weib; wie ein Kind hält er die theuere Last, auf welche er mit ängstlicher Sorge niederschaut.

Ein wegekundiger Bauer führt die Rosse über felsige Pfade den Berg hinan. Tief unten liegt schon das Thal. In weiter, weiter Ferne blitzt der Meeresspiegel. Zu einer im Pinienwalde verlorenen einsamen Klausnerei geleitet der Bauer den stummen Reiter.

Zwei Kerzen brennen auf dem Altar der kleinen Waldkapelle. Unter der Thür erwartet der Klausner den späten Besuch.

„Braut und Bräutigam! Herzog und Fürstin! Im Namen des dreieinigen Gottes, seid mir gegrüßt!“

Ein Laut des Schreckens aber entfährt dem Mönche, als sein Auge auf das blasse, leblose Mädchen fällt.

„Bevor der Tod uns trennt, heiliger Bruder, eile und traue die Lebenden, so lange es noch Zeit ist!“

Vor dem Altar kniet der Ritter. An seiner Brust lehnt die schwerathmende, ohnmächtige Braut.

„Im Namen des dreieinigen Gottes, seid vereint hienieden und droben, auf ewig und immerdar!“

Und leise spricht der Chorknabe im weißlinnenen Hemde die heiligen Gebete nach, und leise antwortet der mit gefalteten Händen unter der Thür stehende Bauer. „Im Namen des dreieinigen Gottes, Amen, in alle Ewigkeit!“




Monden sind verflossen. In dem Kloster dort unten im einsamen Thale ertönen keine Glocken mehr. Verödet und verlassen liegt die blutbefleckte Kirche. Erloschen ist das ewige Lämpchen über dem verwaisten Altar. Durch die klaffenden Fensteröffnungen ziehen die Winde und sausen die Stürme, und unter den hohen Normannenwölbungen nisten krächzende Raben.

Gesenkten Hauptes schleppt sich der alte Letterio in seiner Hütte und auf seinen Feldern herum. Sein Kind ist verschwunden seit jener Nacht. Bei dem Gevatter über den Bergen war Nino nicht angekommen; die Ziege wurde von einem Nachbar hoch oben auf unwegsamem Berge gefunden. Des Spaniers Geld hatte dem alten Letterio kein Glück gebracht.

Jubel aber herrschte in dem Palaste des Herzogs von Gonzaga; Jubel erfüllte Palermos Straßen, Jubel hallte wieder bis unter die dämmerigen Wölbungen des vom lachenden und jauchzenden Volke umlagerten Domes, wo der greise Bischof, umgeben von seinem Klerus, in goldschimmerndem Ornate unter dem weitgeöffneten, blumenbekränzten Portale den Fest- und Brautzug erwartet und wo in gemeinsamem Dankgebet für die Genesung der einzigen Tochter des Fürsten Roccaguelfonia und für das eheliche Glück der jungen Herzogin von Gonzaga Sicilianer und Spanier Herzen und Hände zu ihrem gemeinsamen Gott erheben und ihrem langen Hasse und Hader entsagen werden.

Er war es gewesen, der ehrwürdige Greis, der zu dem alten, in Gram und Kummer um sein Kind vergehenden Fürsten hingetreten war; er war es gewesen, der, tröstend und befehlend die Hand über das von unsäglichem Schmerze jäh gebleichte Haupt des Fürsten erhebend, ihm zugerufen hatte:

„Fürst! Nach Dir begehrt Dein Kind! Mit dem Tode ringt Dein einziger Sproß! Nach Deiner Verzeihung fleht Blandina’s Herz! Ein Wort aus Deinem Munde rettet Dein Kind, Dein Schweigen aber ist sein Tod. In Deiner Hand liegt ihr Leben! Kannst Du noch zaudern?“

„Ehrwürdiger Vater!“ hatte der Fürst geantwortet mit dumpf zitternder Stimme, „Du kennst meinen Schmerz, Du kennst aber auch meinen Eidschwur: Haß und ewige Fehde habe ich in feierlicher Stunde den Spaniern geschworen – für mich und für mein ganzes Geschlecht! Und als mein unseliges Kind sich von jenem Spanier entführen ließ, und als er sie, die zum Tode Verwundete, die gegen meinen Willen von einem Deiner Priester heimlich ihm Angetraute zurückführte, um sie in dem Palaste der Gonzaga zu verbergen – nur meines Hasses, nur meines Schwures konnt’ ich da eingedenk sein! Und furchtbarer noch als bis daher entbrannte mein Grimm gegen dies Volk! Und als er seinen Boten zu mir sandte und mir melden ließ, meine Tochter rufe nach mir in fiebernden Todesphantasien und die Thore seines Palastes ständen mir offen – Priester, die Liebe eines Vaters für sein einziges Kind, Du kennst sie nicht und darfst sie nicht empfinden, die Treue aber, die ein Ritter, ein Fürst, ein Christ seinem vor dem Altar des allmächtigen Gottes gelobten Schwur bewahren soll, die kennst auch Du, und träte ich als Eidbrüchiger vor Dich hin, Du wärest der Erste, der die verdammende Hand gegen den Elenden erhöbe! – ‚Hierher in des Vaters Schloß,‘ antwortete ich dem Boten, ‚bringe man mir mein Kind, und zum Leben wird des Vaters Pflege die vaterflüchtige Tochter zurückführen!‘ Und er ging und kam nicht wieder – und meine Tochter brachte Keiner in des Vaters Haus – und stumm, einsam, mit meinem unsäglichen Wehe ringend, verschloß ich mich in meine Gemächer, wartend, ob sie nicht käme! Von den Zinnen dieses Schlosses suchte mein Auge dort die Stelle, wo unter dichtem Laubwerk verborgen jenes Haus liegt – und wenn die Nacht hereingebrochen war, da hüllte ich mich in meinen Mantel, und allein, ungesehen wie ein Dieb und wie ein Mörder schlich ich mich bis zum Fuße jener Mauern, und mein Auge suchte ein mattbeleuchtetes Fenster – dort lag sie! Dort rang sie mit dem Tode! – Dort rief ihre Stimme nach mir! – und ihrem Rufe durfte ich nicht folgen, denn über jenem Thore flammte, wie das wehrende Schwert des Cherubs, mein Schwur!“

Auf der Erde haftete des Bischofs Blick. Langsam erhob er ihn.

„Haß und ewige Fehde schwurst Du dem Spanier. Für Dich durftest Du schwören, Fürst! Für Dein Geschlecht hast Du kein Recht dazu. Durch der Väter Willen sollen die Kinder nicht gebunden werden. Unterbrich mich nicht, Roccaguelfonia! Hätte Deine Tochter erklärt, auch gegen Dein Gebot, als fromme Dienerin der Kirche in ein Kloster eintreten zu wollen – ich selber wäre vor Dich getreten und hätte Dir zugerufen, wie ich es heute thue: ‚Deines Kindes Wille ist frei, wie es der Deinige war!‘ – Nun aber höre: Deinem Schwure sollst Du getreu bleiben, wie sie auch dem freiwillig vor Gott geschworenen Gelübde bis zur Schwelle des Todes getreu geblieben ist! Kein Schwur aber verbietet dem Vater, an das Lager seines sterbenden Kindes zu treten und dem Kinde zuzurufen: ‚Lebe, ich verzeihe Dir!‘“ …

„Kein Schwur?“ rief der Fürst, von seinem Stuhle aufspringend, „sie liegt in eines Spaniers Haus, und ein Spanier wacht zu ihres Bettes Häupten!“

„Und läge Dein Kind auf der Bahre, geschmückt zum ewigen Schlafe mit den Blumen des Todes, unter dem Schutze der Engel und Heiligen am Fuße des Altars in Gottes Kirche, dann trätest Du heran und fragtest nicht, ob unter den dämmernden Gewölben, mit Deinem Gebete vermischt, von spanischen Lippen Gebete für die arme Todte zum Himmel steigen – und, uneingedenk der Spanier, drücktest Du des Vaters letzten Kuß auf die Stirn des todten Kindes. Wohlan denn stehe auf, folge mir! – und mit mir knieest Du heute noch vor Blandina’s Lager und zum Leben führt sie Dein Wort und Deine verzeihende Liebe zurück.“

Da bohrte sich fragend des Fürsten Blick in des Priesters Auge. Seine Lippen bebten. Seine Hand ballte sich krampfhaft über dem harten, kalten Marmor des Tisches.

„Schwöre,“ sprach er endlich langsam und feierlich, „schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß in jenem Hause keines Spaniers Fuß dem meinigen folgen oder vorangehen wird – und ich gehe!“

„Ich schwöre es! Offen und leer stehen die Gänge und Gemächer für Dich und für mich, so lautet des Herzogs Befehl!“

Und sie gingen. Die spanischen Wachen am Thore zogen sich in ehrerbietiger Scheu zurück, als die Beiden nahten. Offen und leer standen die Gänge und Gemächer im stillen Palaste. Von den weichen, dumpfen Teppichen erstickt, erstarb unter denhohen Wölbungen der Tritt der still und langsam Wandelnden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_063.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2023)