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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

erschreckend zugenommen. Die Folge eines derartigen Mißbrauchs ist gewöhnlich eine Vernachlässigung familiärer und socialer Pflichten, ein Verlust jedweder Energie sowie der Schaffenskraft und von Seiten des Körpers die gefährlichsten Vergiftungszustände.

Tritt einmal beim Gesunden die Nothwendigkeit ein, die Anwendung diätetischer Vorschriften und gewisser einfacher Verfahrungsweisen, wie wir sie im Vorstehenden eingehend erörtert, durch den Gebrauch eines Arzneimittels zu ersetzen, so wird der erfahrene Arzt stets der beste Berather sein und bleiben. –

(Wir sind autorisirt zu erklären, daß über diesen Gegenstand von dem Verfasser demnächst eine ausführliche Abhandlung in Form einer Broschüre erscheint. D. Red.)




Ein Lieblingsberg der Deutschen.

Von Max Haushofer. Mit Illustrationen von R. Püttner.

Wer von München aus dem Brenner zufährt, zunächst jenem breiten Alpenthore entgegen, das der Innstrom auf seinem Wege aus Tirol nach Bayern gefunden hat, dem fällt in der langen blauduftigen Bergkette eine Berggestalt vor Allem ins Auge: die kühngezackte Felspyramide des Wendelstein. Er ist durchaus nicht etwa durch seine Höhe besonders hervorragend; denn er übersteigt nur um Weniges die Durchschnittshöhe jener Voralpengipfel, mit welchen er in einer Linie Front gegen das Flachland macht. Aber seine charakteristische Gestalt, seine kecke Stellung hart am Rande der Hochebene, zwischen tiefeingeschnittenen Thälern, über stundenbreiten rothbraunen Mooren, zu welchen sein lustiges Blau einen scharfen Gegensatz bildet, endlich die Nachbarschaft einer der ehrwürdigsten unter den europäischen Völkerstraßen: all das zusammen hat ihm zu einer Berühmtheit verholfen, welche weit über seine Meereshöhe hinausreicht. Der Wendelstein ist einer der volksthümlichsten Berge in der ganzen Alpenkette vom Montblanc bis zum slawischen Triglav geworden. Die stolzen Zinnen der Centralalpen, die mit steinernem Antlitz, von blitzendem Eisgewand umflossen, in unermeßliche Abgründe niederstarren, jene Zinnen, gegen welche der Wendelstein als ein bescheidener Hügel erscheint, müssen ihn doch um Eins beneiden, das er vor ihnen voraus hat: um sein Lied. Denn der Wendelstein ist einer von den wenigen Bergen, denen, wie dem steirischen Dachstein und dem Wazmann bei Berchtesgaden, ein eigenes Leib- und Preislied von Volkes Mund gedichtet ward und von Volkes Mund immer und immer wieder gesungen wird.

Der entscheidendste Grund für die Popularität des Berges liegt aber wohl im Herzen seiner Umwohner. Das Leitzachthal, das mit seinen grünen Triften und sonnigen Dörfern sich zu Füßen des Wendelsteins ausbreitet, wird von einem Völkchen bewohnt, das an Lebenslust und Sangesfreudigkeit seines Gleichen sucht. Erst weit im Osten, am Fuße des steirischen Dachstein, auf den sonnigen Almen um Aussee, findet man einen gleich fröhlichen und schönen, lebensfrohen und liederkundigen Schlag Menschen. Dazwischen liegen weitgestreckte Thäler, in welchen man tagelang hinwandern kann, ohne ein Lied zu vernehmen. Dieser Unterschied des Volksgemüths von Thal zu Thal hat seinen tiefen Grund in der Natur wie in den mit ihr zusammenhängenden Lebenssitten der Menschen. Wo die Almenwirthschaft blüht, da giebt’s auch Lieder und Jauchzer – vorausgesetzt, daß es Mädchen sind, die droben in den Sennhütten hausen, nicht bloß verwetterte alte Schafhirten oder industrielle Käsehändler. Darum singt’s von den Almen zwischen dem Wendelstein und dem Tegernsee; denn dort haust die muntere Jugend wohlhabender Dörfer, unverkürzter Freiheit froh, den Sommer über zwischen ihren grünen Matten, rauschenden Wäldern und weißgrauen Felsen.

Und von den meisten dieser Almen aus sieht man wie einen Bergkönig das schöngeformte Felsgebilde des Wendelstein aufragen. Dann kam noch Eines dazu, um diesem Berg so besondere Poesie zu verleihen: der hervorragende Ausblick ins Flachland. Wo man ringsumher von Bergen umgeben ist, da ist der Ausblick in die Welt wohl großartiger und wilder; aber nicht so lustig wie hier. Gerade daß man so hoch über dem unermeßlichen Flachland steht, so viele bewohnte Stätten, winzige Häuschen und Kirchthürme, Wälder und Felder und Wasserspiegel unter sich sieht, muß doppelt übermüthig und freiheitsselig stimmen.

Darum ist der Wendelstein auch als Zielpunkt fröhlicher Bergfahrt so vielbegangen wie kein anderer Berg der bayerischen Alpen. Von Ostern bis Allerheiligen, wenn am Samstag die langen Wagenzüge im Münchener Bahnhof bereit stehen, kommen die Freunde des Wendelsteins, einzeln oder in kleinen Gruppen: Gymnasiasten mit ihren langen Bergstöcken; schlichte Bürger mit ihren Töchtern; dazwischen auch manche ältere Würdenträger, die auf zwei Tage den Aktenstaub los sein wollen; übermüthige norddeutsche Studenten, die ein Semester in München zubringen und ahnungslos ihre feinen Röcke der unbarmherzigen Bergnatur entgegentragen; da und dort auch ein heimlich flüsterndes Pärchen, das aus der Prosa seiner Ladenbude heraus der Almenpoesie zustrebt – und noch viel anderes Volk.

Die Lokomotive donnert mit ihren dreißig Waggons über die Hochebene dahin, durch langgedehnte Wälder, aber immer dem blauen Felsenkopf des Wendelstein entgegen, der scharf über die dunklen Waldlinien emporlugt. Wenn wir die Station Holzkirchen erreichen, wo der Bahnzug sich zertheilt, um nach drei Richtungen hin dem Gebirge entgegenzueilen, steht unser Berg schon groß und imponirend da; schon unterscheidet man deutlich an ihm, was Fels, Wald und Matte ist.

Dann aber fängt er an, sich zu verstecken, je näher wir ihm kommen; und schließlich verschwindet er ganz hinter bewaldetem Vorgebirg. Dann weht uns aber auch schon Alpenluft entgegen; der Horizont verengert sich; näher tritt Wald und Gehäng, und das Wasser, das neben dem Bahndamm rauscht, tanzt so übermüthig in seinem felsigen Bache, wie es kein Wasser des Flachlandes kann.

Bald ist das Ende des Schienenwegs erreicht. Groß und dunkel erschließt sich ein Kessel von Wald und Fels; in ihm eingebettet liegt der liebliche Schliersee. Seine Wirthshäuser mit ihren holzgeschnitzten Balkons reizen uns aber heute nicht. Rasch ist ein Fährmann gefunden, der uns in einem zierlichen weißen Boot über die Seefläche fährt, mit der ein sanfter Nordost ein heiteres Spiel treibt. Während wir über den See hinfahren, schließen uns die Berge mehr und mehr ein wie ein zauberischer Ring, und wenn wir am südlichen Ufer des Sees dem Nachen entsteigen, sind wir mitten in einem Alpenthal. Nur unser Wendelstein hält sich noch versteckt. Aber kaum zehn Minuten wandern wir auf der glatten weißen Straße, da gabelt sich das Thal, und er steht wieder vor unseren Augen, jetzt nur noch in stundenweiter Ferne: eine schöne schroffe Pyramide mit grünen Matten am Fuße und schimmernden Felswänden in der Höhe.

Von nun an lassen wir unsern Berg nicht mehr aus dem Auge. Abendliche Schatten breiten sich schon durchs Thal. Zur Linken hoch über uns trauern einsam die Trümmer der uralten Veste Hohenwaldeck; zur Rechten gleißen in den Strahlen der sinkenden Sonne die Felswände des Jägerkamm, der Rothwand und des Miesing. Der Weg vor uns ist einsam und still. Von den Berghängen herab tönt alpenhaft das Geläute der Kuhglocken; in einiger Entfernung gaukelt, von Staubwölkchen umwirbelt, ein gelber Omnibus hin wie ein etwas schwerfälliger Schmetterling. Bald verlassen wir auch die Straße und steigen auf schmalem Fußpfad durch Wald und Hag, am westlichen Fußgestell des Wendelsteins empor, zu dem Wallfahrtsorte Birkenstein.

Das ist ein vielumsungener Ort, eine der volksthümlichsten Stätten des bayerischen Berglandes. Unmittelbar am Gehänge des Wendelstein liegen Dorf und Wallfahrtskirche, überragt von finsterem Bergwald und grauen Felszacken. Weit schweift der Blick durch die Spalte des Leitzachthals ins Flachland hinaus.

Es sind zwei Wirthshäuser in Birkenstein, eines auf lustiger Höhe, das andere, ältere unten im Thal. Wir haben uns oben in der Höhe ein Unterkommen gesucht und schauen nun hinaus in die abendliche Landschaft.

Im Bergwald rauscht der Nachtwind, Herdengeläut ertönt ringsum; aus der Tiefe herauf sehen wir die Fenster des unteren Wirthshauses flammen; dort geht’s lebhaft zu; man vernimmt Peitschenknall und Gesang und den Lärm fallender Kegel. Bei uns ist’s einsam und still; einige Bergwanderer, die vor uns heraufkamen, sitzen in der Stube vor ihren Landkarten, die ländlichen Gäste haben den Heimweg gesucht. Geisterhaft weht es aus den finsteren Schluchten und Höhlen des Berges herab und hinter schwarzen Fichten steigt groß und geheimnißvoll der Mond empor.

Vor Tagesgrauen sind wir wieder auf dem Wege. Der ist leicht zu finden, seit der Alpenverein ihn verbessert und mit Wegweisern versehen hat. Wo irgend ein Zweifel über die Richtigkeit des Wegs entstehen mag, sieht der Wanderer auf Steinwurfweite an einem Felsen oder Fichtenbaum einen dicken Strich rother Oelfarbe, der die Richtung weist. Bei einem solchen Steine treffen wir einen alten Holzknecht an, der gegenüber dem Steine auf dem Rasen sitzt und sein Pfeifchen stopft und dann äußerst nachdenklich den rothen Strich auf dem Steine betrachtet. Der Stein selber sieht schier aus wie ein finster grollendes Riesengesicht.

„Na, Alter,“ so fragen wir, „was ist’s jetzt mit dem Stein? Meinst, er ärgert sich recht, weil er so roth angestrichen ist?“

Der Alte bläst eine dicke Rauchwolke unter dem weißen Schnurrbart hervor und sagt: „Ja, grantig ist er schon, der Stoan, moan i! Aber bis in hundert Jahren wascht ’n der Regen scho fein sauber! Dös kann er derwarten, der Stoan!“

Uns scheint’s auch, als ob der Stein das ruhig abwarten könne. Und wie wir weiter wandern und um die nächste Waldecke biegen, sitzt der Alte wieder schweigsam dort und raucht, und denkt über den Stein nach, fast selbst wie versteinert.

Nach einer Stunde raschen Steigens ist die Waldregion hinter uns. Lustig schlängelt sich der Weg einen steilen Abhang entlang; weit öffnet sich der Ausblick in die Nachbarberge, deren Felshäupter eben von der aufgehenden Sonne mit purpurner Gluth übergossen werden. Zur Rechten in einer kleinen Mulde liegt eine Sennhütte; die Inwohnerin jauchzt uns ein Willkomm herüber; aber zur Einkehr haben wir keine Zeit. Steiler und höher geht’s hinan, zuerst noch über Matten und Geröll, dann durch Krummholz und grobe Felsklötze. Aber lang schon winkt das gastliche Wendelsteinhaus unter dem massigen Gipfel; tiefer und tiefer sinkt das grüne Leitzachthal, das den Wendelstein im Süden und Westen umzieht, hinunter, und wie Kinderspielzeug schauen die Häuschen von Bayrisch-Zell herauf. Kaum dritthalb Stunden sind vergangen seit unserem Aufbruch von Birkenstein, da treten wir über die Schwelle des „Wendelsteinhauses“. Erst vor wenigen Jahren hat man dasselbe aufgeführt, aber es genügte bald nicht mehr den Anforderungen der zahllosen Touristen. Der gastliche Bau ist vergrößert und sogar mit einem botanischen Garten versehen worden.

Bis hierher ist der Wendelstein eigentlich ein Spaziergang. Aber zuletzt war’s doch warm geworden in der Morgensonne und zwischen dem borstigen Krummholz, so daß es immerhin gut thut, ein paar Minuten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_091.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2023)