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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Im Jahre 1840 war ich Student. Ich besuchte während der Ferien meinen Großoheim, den Bruder meiner Großmutter, welcher Direktor eines Seminars in der Rheinprovinz war. Wir lasen mit einander den griechischen Urtext, in welchem Xenophon den Rückzug der zehntausend tapferen Griechen beschrieben. Mein Vater, der ein großer Geograph war, hatte mich dazu mit den neuesten und besten Karten ausgerüstet. Der Großohm war mit meinen Studien zufrieden und gab mir eines Tages eine Andeutung, er werde mich in seinem letzten Willen bedenken. Allein es geschah anders. Eines Abends hatte unser Talglicht eine sehr lange Schnuppe; ich wollte es putzen, war aber ungeschickt und löschte es aus. Der Oheim vermerkte dies übel und schrie mich an:

„Junge, wo hast Du das Lichterputzen gelernt?“

„Da, wo deren zwei auf dem Tisch stehen, verehrtester Oheim,“ antwortete ich in meiner jugendlichen Ueberhebung. Dadurch entging mir das Vermächtniß. Der gute Großonkel war ein wenig geizig und erblickte in meiner Aeußerung eine freche Anspielung hierauf. Es wurde mir nicht schwer, mich wegen der entgangenen Erbschaft zu trösten.

Wie allgemein übrigens noch um 1850 die Lichtputzen waren, beweist ein Bild in den „Fliegenden Blättern“. Man sieht da einen bayerischen Haus- oder Holzknecht in hohen Stiefeln. Er hat den einen Riesenstiefel ausgezogen und schüttelt ihn aus, indem er das Fußende nach oben hält. In Folge des Schüttelns kommt eine große spitze Lichtputze aus dem Stiefel klirrend zur Erde gefallen.

„Schaun’s, schaun’s,“ sagt der Schlaukopf, „hab’ i doch schon seit drei Tog’n ’dacht, daß i a kloas Stoanerl im rechten Stiefel hab’n müßt!“

Allein selbst die schönsten Geschichten vermochten das Verhängniß nicht aufzuhalten.

Stearin und Petroleum, die Gas- und die elektrische Beleuchtung griffen immer mehr um sich, um dem Talglicht seine Existenz zu erschweren.

Die Nothwendigkeit der Lichtputze beruhte, wie wir gesehen haben, darauf, daß sich eine die Flamme verdunkelnde Dochtkohle oder Lichtschnuppe bildete. Nun fand man die Mittel, die Selbstverbrennung der Dochtkohle durch eine besondere Art des Flechtens des Dochtes herbeizuführen. Da war es aus mit der Schnuppe und folglich auch mit der Lichtputze; denn die Lichter schnuppen oder schnäuzen sich ja gegenwärtig von selber, wie die Sterne. Man hat, undankbar, wie die Menschen sind, noch nicht einmal officiell Notiz genommen von dem Hingang der Lichtputze, und gegenwärtig ist es unmöglich, ihren Todestag zu ermitteln.

Genug. Sie hat gelebt und gearbeitet, so lange sie nöthig und nützlich war. Als sie überflüssig wurde, ist sie still und bescheiden, wie sie immer gewesen, zum Orkus hinuntergestiegen, ohne einen Anspruch auf Dank oder auf Unsterblichkeit zu erheben. Selbst während der Zeit, wo sie herrschte, hat sie den Menschen nach Kräften genützt und Niemand geschadet.

Ich wünsche von Herzen, man könnte Jedermann eine so ehrenvolle Leichenrede halten.




Ein verhängnißvolles Blatt.

Erzählung aus den bayerischen Bergen von Anton Freiherrn v. Perfall.
(Fortsetzung.)

Als die Bäuerin mit ihrer Tochter und Rupert in die Kirche kam, hatte das Amt schon begonnen. Bei ihrem Eintritt sah Alles auf aus den vergilbten Gebetbüchern; die Köpfe der Nachbarinnen näherten sich merklich, ja es schien zur Orgel hinauf, zum Organisten die Neuigkeit schon gedrungen zu sein; denn er griff aus Zerstreuung einen so falschen Ton, daß sogar die alten Bauern die Köpfe hoben.

Anna ging auf die Seite der Mädchen, Rupert oben hinauf auf die Emporkirche, wo die jungen Burschen waren. Er hatte eine schöne Stimme und sang oft im Chor mit. Die Mutter trat in den aus Eichenholz geschnitzten Betstuhl, auf dessen Wand groß „Langbauer“ stand.

Der Pfarrer war schon beim Evangelium angelangt. Die Gemeinde hatte sich lärmend erhoben, dann klappte er das große Meßbuch zu, wandte sich gegen die Zuhörer und begann die Predigt, die Erklärung des Evangeliums.

Alles setzte sich jetzt. Die sonore Stimme des Geistlichen schlug in monotonen rhythmischen Wellen an die mächtigen weißen Kirchenwände, an die Ohren der Zuhörer. Das Geräusper und Gehuste der alten Leute ertönte störend dazwischen; stickender Weihrauchsdunst schwebte in langgezogenen Schwaden gegen die gewölbte Decke zu; durch die hohen Bogenfenster brachen die Strahlen der Morgensonne, in der tausend Staubkörperchen auf und ab tanzten.

Von den zopfigen Seitenaltären blickten verzerrte Gestalten mit blutenden Gliedern unter allerhand Flitter und Rauschgold hervor. Die schwere Atmosphäre, die warmen Sonnenstrahlen, die eintönige Stimme des Geistlichen legten einen süßen Halbschlummer über die ganze Gemeinde; Köpfe nickten wie schwere Aehren, gläserne Blicke starrten ins Leere – nur selten sah man ein Gesicht, auf dem ein Eindruck der langen Rede haften blieb.

Anna hatte jetzt Zeit zum Nachdenken, aber auch damit ging es nicht recht; sie fühlte die Blicke Rupert’s vom Chor her auf sich haften; ganz heiß wehte es gegen ihren Nacken, als ob er einen Kuß darauf drückte. – Wenn sie aufsah, fiel ihr Blick auf das Gemälde des Seitenaltars vor ihr: es stellte den heiligen Sebastian vor, aus unzähligen Pfeilwunden blutend, den schmerzverzerrten Blick zum Himmel gerichtet. Heute kam es ihr plötzlich vor, als gliche das Gesicht des Heiligen dem Rupert. Das strömende Blut, die klaffende Wunde machten sie jetzt schaudern, sie wußte selbst nicht warum. Wenn sie ihn so sehen müßte, so blutüberströmt – sie fühlte bei diesem gräßlichen Gedanken, der ihr so plötzlich gekommen, wie lieb sie ihn habe! – Zuweilen beobachtete sie die Mutter drüben im Stuhl, die tiefgebeugt da saß, wie ein altes Bild anzuschauen. Was sie sich dachte, konnte man den starren Zügen nicht absehen, und doch hätte Anna es gar zu gerne wissen mögen.

Endlich war die lange Predigt zu Ende. Manche hoben fast erschreckt die Köpfe, als der Priester verstummte, die Orgel brauste wieder durch die Wölbung; die Geigen und Klarinetten ertönten schrill, neue Weihrauchwolken wallten empor, die Gestalt des celebrirenden Priesters in geheimnißvolle Nebel hüllend.

Endlich ist das Amt zu Ende. Mitten im Accord bricht die Orgel ab, und Alles eilt der Thür zu.

Anna nimmt die Mutter am Arm und folgt der Menge. Draußen vor der Thür wartet schon Rupert; dann gehen sie, zwischen den Gräbern hindurch, dem kleinen Pförtchen zu, am Südende des Kirchhofs. Kein Wort wurde gesprochen. Bei einem Grabmal in rothem Sandstein blieb die Mutter stehen – „Hier ruht der ehrenwerthe Hanns Leitner, Langbauer zu S.“ stand darauf.

Sie nahm den kleinen Tannenzweig, der in dem Weihwasserkessel am Gitter steckte, und besprengte das Grab. Anna und Rupert thaten dasselbe. Die Alte knieete vor dem Gitter nieder und verbarg das Antlitz in den Händen. Sie fragte ihren Hanns da unten um Rath in dieser schweren Angelegenheit – Thränen drangen zwischen den Fingern hervor. Auch Anna war’s weh ums Herz, recht weh, sie wußte selbst nicht warum. Plötzlich erhob sich die Mutter, sie schien nicht mehr so gebückt zu sein; ein strenger Zug lag auf ihrem Gesicht, und bei jedem Schritt stieß sie energisch mit dem Stock auf den Boden. Anna und Rupert gingen ihr zur Seite und warteten ängstlich auf den Beginn der Unterredung. Doch die Alte sprach kein Wort unterwegs. Von der „Post“ herüber klang schon Tanzmusik, und ein Strom von geputzten jungen Mädchen und Burschen eilte lachend und scherzend der Richtung zu. Auch Reiser in der kleidsamen Forstuniform begegnete ihnen; er lachte verschmitzt, als er die ernste Gruppe sah.

„Das ist eine böse Stund’ für ’n Rupert,“ dachte er sich.

Im Hof angekommen, gingen sie in die untere Wohnstube, die Alte vor, die zwei Andern wie Verurtheilte, sich gegenseitig durch Blicke ermuthigend, hinterher. Die Mutter nahm auf der Ofenbank Platz, schwer athmend von dem etwas steilen Weg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 110. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_110.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)