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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Noch einen Händedruck, einen Kuß, und er verschwand unter der Thür, gefolgt von dem Gendarm, Reiser und David, für welchen die Stunde der Abrechnung nun ebenfalls geschlagen hatte.

Anna sah sie nicht gehen, sie war auf der Ofenbank zusammengesunken, die Hände vors Gesicht geschlagen, die Hausthür nur hörte sie zufallen und dann die schweren Tritte auf dem Kies. – Da erfaßte sie ein unnennbares Weh, die Liebe zu dem Manne übertönte alle anderen Stimmen in ihr, sie dachte nicht mehr an die Schande. Das schwere Leid, das über ihn kam, hatte ihn in ihren Augen aller Schuld entledigt.

„Mathias! – Mathias!“ schrie sie in die Nacht hinaus. Keine Antwort kam zurück – die Schritte waren auch schon verhallt – plöhlich legte sich ein grauer Schleier um ihre Augen; Alles drehte sich um sie, dumpfes Brausen klang in ihrem Ohre wie von einem Wasserfall, schwer aufschlagend stürzte sie zu Boden.

Den andern Tag lag sie in schwerem Fieber und phantasirte, sie wollte den Leichnam Rupert’s immer aufheben, aber er war zu schwer – sie keuchte vor Anstrengung.

„Helft! helft do!“ rief sie unzählige Male, dann schrie sie wieder entsetzlich auf – „Mathias!“

Der Arzt schüttelte den Kopf bedenklich, lange durfte es nicht so fortgehen. –

Mathias war in Untersuchungshaft, er erfuhr nichts von der Krankheit seiner Frau. Vier Wochen darauf war schon die Verhandlung, und das Urtheil lautete: acht Jahre Zuchthaus und Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte, als mildernde Umstände wurden angenommen das offene Geständniß, die eigene Lebensgefahr, in der Mathias geschwebt, der lang genährte Haß zwischen Beiden.

Er hörte sein Urtheil mit Ruhe. Der Hoffnungsstrahl, den Anna ihm beim Abschied entzündet, leuchtete ihm voraus auf den Weg zum Gefängniß – er leuchtete ihm acht Jahre. Mathias klammerte sich an ihn in diesem trostlosen Leben, mitten unter dem Auswurf der Gesellschaft, und wenn er oft verzweifeln wollte, tönte Anna’s Stimme besänftigend:

„I wart’ auf Di. wennst ausg’litt’n hast – nacher ruahst aus – da!“




7.

Es war ein häßlicher Sommer im Jahre 1874! Nebel hingen wochenlang steif und unbeweglich bis ins Thal hinab, die Berge verhüllend. Kein Sonnenstrahl brach hindurch, es war trüb und kalt, daß man wieder nach dem Ofen sah. Um so schöner war’s oben auf der Höhe, wenn man ungefähr anderthalb Stunden gestiegen, tauchte man plötzlich aus dem Nebelmeer; tiefblauer Himmel spannte sich über die in klarer Luft ruhenden Bergkämme, und die vom Nebel zurückgeworfenen Sonnenstrahlen verbreiteten eine Glühhitze, daß die Luft zitterte.

That man einen Blick rückwärts, fluthete, so weit das Auge reichte, der Nebel, ein weißes, im Sonnenlichte grell erglänzendes Meer; es brandete an den Berghöhen empor, die wie schwarze Inseln daraus hervorragten. Auch die Rainalm lag schon über der Nebelregion im heißen Sonnenlicht.

Anna jagte eben die Kühe aus dem Stalle, die vor den Mückenschwärmen hier Schutz suchten.

Sie war bedeutend verändert, ihre üppigen schwarzen Zöpfe, die ihr früher förmlich den Kopf herabzogen, waren jetzt dünn, mit Grau gemischt. Das Gesicht war gar nicht mehr hübsch; herbe, tief gefurchte Züge gaben ihr ein fast männliches Aussehen; nur das schwarze Auge blickte noch eben so energisch wie früher. Es waren acht Jahre verflossen seitdem sie die schwere Krankheit überstanden, seitdem Mathias fort war. Sie hatte ihr Leid mit Entschlossenheit und einer gewissen Würde getragen. Der Hohn, den sie anfangs gefürchtet, blieb ihr erspart; es giebt Leiden, über die der gemeinste Mensch nicht spottet, die dem Dulder gewissermaßen eine Krone, eine Leidenskrone aufsetzen. Zu diesen Gekrönten gehörte auch Anna.

Sie erfuhr nur wenig von Mathias, das Wenige war aber nur Gutes – daß seine Aufführung musterhaft sei.

Ihre Eingabe um Begnadigung war fruchtlos, man konnte bei dem Ueberhandnehmen des Wildfrevels keine Gnade üben.

Sie hatte alles Schlimme, was er ihr zugefügt, längst vergessen, es war ja doch nur aus Liebe zu ihr geschehen. – Sie sah in ihm jetzt nur noch den Dulder und fühlte das innigste Erbarmen mit ihm. Die Liebe zu dem Manne war in der Einsamkeit stärker geworden, als je zuvor. An die Schmach des Zuchthausgewandes, dessen Geruch unaustilgbar sein soll, dachte sie nicht. Was kümmern sie die Leute?!

Sie hatte allein gelitten. geweint Jahr um Jahr; sie wollte sich auch allein freuen, wenn er zurückkam – und dieses Glück, nach dem sie lechzte die lange Zeit, sollte ihr Niemand rauben!

Die Sommer verbrachte sie die ganze Zeit über auf der Alm; im Winter schloß sie sich in ihrem Hofe ein; sie hatte Niemand, auch keine Dienstboten im Haus.

David hatte drei Monate Gefängniß bekommen und war dann spurlos verschwunden, wohl in seine Heimath Tirol; einmal ging das Gerücht, er sei verunglückt bei der Holzarbeit.

In zwei Wochen sollte Mathias das Zuchthaus verlassen dürfen! – Sie zählte jetzt schon nach Tagen, wie früher nach Monaten und Jahren, endlich sollte auch diese böse Zeit enden. Sie sollte ihn wieder sehen, wieder in ihren Armen halten! Es ließ ihr nirgends mehr Ruhe, immer stellte sie sich’s vor, wie sie ihn empfangen wollte, wie er alles ausgestandene Leid bei ihr vergessen sollte.

Auch jetzt war sie wieder in diese Gedanken vertieft – sie setzte sich auf die Bank und nahm das grobe Strickzeug zur Hand wie früher in besseren Tagen.

Unter ihr wogte das Nebelmeer im Kampf mit den Sonnenstrahlen, aber immer von Neuem thürmten sich die weißen Ballen empor. Plötzlich horchte sie auf, der Klang eines Bergstocks tönte durch die reine Luft aus dem Nebel heraus; es war noch weit entfernt, aber immer wiederholte es sich – nun kam es weiter herauf. Wer konnte das sein? Wer suchte sie wohl auf auf der Alm? Den ganzen Sommer kam ja Niemand, und Holzer waren auch keine in der Nähe.

Jetzt mußte der Wanderer bald auftauchen, der den Lärm verursachte – es klang immer näher.

Sie spähte angestrengt in die Tiefe. Jetzt löste sich eine Gestalt in verschwommenen Umrissen, es war ein Mann – ein großer Mann – ihr Herz schlug bis zum Hals herauf; eine förmliche Angst überkam sie.

Immer mehr trat er aus dem Nebel hervor. Jetzt traf ihn der erste Sonnenstrahl – ein Schrei entrang sich ihrer Brust, ein Juhschrei so kräftig, so frohlockend, wie sie ihn seit Jahren nicht mehr ausgestoßen, hallte gegen die Wände – von unten erscholl die Antwort – zerrissen – wie von Thränen erstickt.

„Mathias! Mathias!“ schrie sie und eilte den steilen Weg hinab dem Kommenden entgegen.

Dieser sah sie wohl herabfliegen wie einen Vogel, und eilte nun auch im Laufschritt nach oben. Mitten unter dem zackigen Felsgestein trafen sie sich. Sie sanken einander in die Arme, lautlos – sie küßte sein ergrautes Haar und legte sein Haupt an ihre Brust.

„Da ruah aus!“

Kein Lüftchen regte sich, die erhitzte Luft zitterte um die nackten Felsen! Die Felsschrofen im Sonnenlicht ringsum sahen ernst herab auf das weinende, glückliche Menschenpaar, das keine Worte fand für die gewaltige Bewegung dieses Augenblicks.

Endlich legten sie Hand in Hand und schritten aufwärts, der Hütte zu; oben angelangt, kamen sie erst zu sich. Da gab es tausend Fragen, die alle gethan wurden, ohne auf die Antwort zu warten. Des alten Leides gedachten sie mit keinem Wort; es sollte im Nebel versinken wie das Thal da unten.

„I hab’ Di ja erst in zwei Woch’n erwart’! I hab’ ja All’s aufputz’n woll’n, um Di z’ empfang’n, und da kummst so auf eimal daher aus ’m Neb’l ’raus, daß i bald g’storb’n wär’ vor Freud’! aber weilst nur da bist, jetzt is All’s recht, jetzt kann Alles no guat wer’n, und i hab’ vielleicht no a Glück in der Liab, das ma d’ guate Muatter so abg’sproch’n hat!“

„Anna!“ erwiederte er, überglücklich durch diesen innigen Empfang, „sieh, i hab’ oft zweifelt, ob ’s D’ mi a wirkli no gern hast nach All’m, was g’scheh’n! I hab’ g’fürcht, daß die acht Jahr den letzt’n Funk’n auslösch’n werd’n in Dir. Das war mei ärgste Qual – aber jetzt seh’ i, daß Dei Wort g’halt’n hast, daß i wirkli ausruah darf an Dei’m guat’n treu’n Herz – i fühl’s, daß mir Du und der liabe Herrgott und d’ Welt und a d’r Rupert vergeb’n hab’n, was i armer sündig’r Mensch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 191. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_191.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)