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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ich hatte den Sommer mit meiner Familie in Roscoff, einem kleinen Küstenstädtchen der Bretagne, zugebracht, und wir hatten uns dort öfter an einer Schüssel Miesmuscheln ersättigt, die unsere Wirthin ausgezeichnet zuzubereiten wußte. Niemals hatten weder wir noch unsere Gäste den mindesten Nachtheil von selbst reichlichem Genusse der Muscheln verspürt. Man kann wohl annehmen, daß eine Person bei einem solchen Mahle fünfzig Stück der vor dem Kochen entbarteten Muschelthiere zu sich nimmt. Ich war also ziemlich ungläubig gegenüber den Erzählungen von zum Theil schweren Erkrankungen, die nach Genuß von Miesmuscheln eingetreten sein sollten. Ich sollte bald eines Anderen belehrt werden.

Bei der Rückkehr nach Genf hielt ich mich einige Tage in Paris auf und frühstückte einmal bei einem befreundeten Arzte in Gesellschaft von einem halben Dutzend medicinischer Kollegen. Wir sprachen Alle einer Sole au gratin in der Weise zu, wie es vernünftige Esser thun, die sehr wohl wissen, daß einem solchen Vorgerichte andere gute Schüsseln zu folgen pflegen, denen keine Ehre anthun zu können man später bereuen würde. Wir waren unter lebhaftem, heiterem Gespräche am Dessert und beim Käse angelangt, als ich plötzlich einen solchen Schwindelanfall bekam, daß ich fast vom Stuhle gefallen wäre. Uebelkeit, Erbrechen, Durchfall folgen bei andauerndem Schwindel. Man streckt mich auf ein Ruhebett, der Hausherr ruft nach sehr starkem Kaffee gegen den Schüttelfrost, der sich einstellt. Die Kollegen diskutiren und stellen die Diagnose: Indigestion. Schwindel und Frost lassen nach reichlichem Genusse von stärkstem Kaffee und Kamillenthee nach. Der Hausherr, der Erfahrenste von Allen, befragt die Köchin.

„Waren Miesmuscheln an der Sole?“

„Versteht sich!“

„Da haben wir’s! Der Professor hat wahrscheinlich eine giftige Muschel bekommen, die einzige, die in dem Gerichte war; denn wir haben die Schüssel gänzlich aufgegessen und sind Alle kernwohl. Nun, die Nesselsucht wird nicht ausbleiben! Jetzt duselt er, in einer Stunde wird er schon aufwachen.“

In der That wache ich nach einer Stunde etwa auf, zappelig wie ein Mehlwurm, roth wie ein Krebs, mit unsäglichem Brennen und Prickeln auf der Haut, krampfhaften Zuckungen in allen Gliedern, während der Kopf brennt wie Feuer. Limonade mit Eis. Gegen Abend lassen alle Erscheinungen so vollkommen nach, daß ich mich in eine Sitzung der anthropologischen Gesellschaft begeben kann, in der ich aber nur kurze Zeit aushalten konnte; denn ich war noch am folgenden Tage wie gerädert und meine Haut marmorirt mit röthlichen Flecken.

Die akute Nesselsucht ist nicht ganz charakteristisch für die Muschelkrankheit; denn sie befällt auch manche Personen nach dem Genusse von Krebsen oder Erdbeeren. Aber die Muschelkrankheit ist nicht immer so harmlos; Freunde von mir waren wie an einem Ausschlagstyphus daran erkrankt und erlitten noch während Jahren Rückfälle bei Gelegenheiten, wo Andere einen Schnupfen davontrugen. Vor einiger Zeit hat man von einer wahren Epidemie gelesen, die unter Arbeitern in Wilhelmshafen ausbrach, wo nach reichlichem Genusse von Miesmuscheln etwa 30 Personen schwer erkrankten und einige starben. Bei genauerer Untersuchung dieses Vorfalles hat sich herausgestellt, daß alle im inneren Becken von Wilhelmshaven befindlichen und offenbar durch die eingehenden Schiffe eingeschleppten Miesmuscheln giftig sind, wie Versuche an Thieren erwiesen haben. Bei längerem Aufenthalt im äußeren Becken verlieren sie ihre Giftigkeit und werden wieder genießbar. Aber das Gift selbst hat man noch nicht isoliren und namentlich nicht erhärten können, ob Mikroben dabei im Spiele sind. Kehren wir zu meinem Falle zurück.

Ich hatte mit der Portion Sole, die mir zufiel, gewiß höchstens ein halbes Dutzend Muscheln verzehrt, und man kann weder annehmen, daß ich eine besondere Idiosynkrasie dagegen hatte, da ich ja den ganzen Sommer hindurch solche Muscheln ohne Unbehagen verzehrt hatte, noch kann man glauben, daß die mir zugetheilten Muscheln alle giftig gewesen seien, die der anderen Gäste aber nicht. Es war wohl nur eine Muschel – aber die von ihr bewirkten Erscheinungen waren heftig genug, um, wie man zu sagen pflegt, zur Vorsicht zu mahnen. Schade nur, daß man nicht weiß, wie man diese Vorsicht üben soll; denn wir wissen absolut nicht, wie wir eine giftige Muschel von einer unschuldigen unterscheiden können. Gebranntes Kind scheut das Feuer, sagt ein Sprichwort – ich esse keine Miesmuscheln mehr und schiebe sie bei der Sole normande auf die Seite, indem ich mir aus der obigen Geschichte wenigstens den Schluß gezogen habe, daß das Gift in dem Muschelleibe festsitzt und sich der Brühe nicht mittheilt. Der Kochhitze hält es leider Stand, dagegen soll es, nach den in Folge der Wilhelmshavener Vergiftung angestellten Versuchen, durch Kochen mit etwas Soda vernichtet werden.

Während die Miesmuschel überall, wo sie nur vorkommen mag, zuweilen auftretender giftiger Tücke angeklagt wird, beschuldigt man andere Muscheln, welche strenger lokalisirt sind, nur hier und da ähnlicher Eigenschaften. Neapel steht hier voran. Man muß hier, wie überhaupt im südlichen Italien, eher fragen, was der Küstenbewohner nicht ißt, als was er von „frutti di mare“, von Meeresfrüchten verzehrt. Wer auf Santa Lucia spaziert, sieht in den Körben der Verkäufer fast die ganze Muschel- und Schneckenfauna des benachbarten Meeres den Eßlustigen feilgeboten. Aerzte und nicht eingeborene Einwohner warnen vor allen diesen Meerfrüchten, die Austern mit eingeschlossen. Jetzt, wo überall Mikroben herum bummeln, sollen diese Muscheln und Schnecken mit dem Schlamme und Unrathe, der sich in die Bucht von Neapel ergießt, auch die Mikroben in sich aufnehmen, sie dann beim Genusse in dem Körper des Menschen absetzen und so Typhus, Malaria und Fieber aller Art erzeugen.

Ich glaube nicht an diese Theorie. Ich halte nicht dafür, daß Austern, Mies- und Herzmuscheln, Messerscheiden (Solen) und wie die Dinge alle heißen mögen, gewissermaßen Magazine sein sollen, in welchen gesundheitschädliche Mikroben aufgespeichert werden zu beliebigem Gebrauche. Man bekommt Malariafieber in Neapel eben so gut durch eine Erkältung, wie durch eine Indigestion; man bekommt es fast unausbleiblich, wenn man an einem Ort wohnt, wo der Boden aufgerissen und umgewühlt wird, geschehe dies nun oben oder unten, in den sogenannten gesunden Lagen der Corsi Vittorio Emmanuele und Principe Amadea, oder unten an der Chiaja. Neapel ist ein Ort für Bildung von Legenden, und diese ist eine der abenteuerlichsten; denn kein Mensch hat noch Fiebermikroben in den unschuldigen Muschelthieren finden können.

In den „Clovisses“, wie an den südafrikanischen Küsten einige Arten von Herz- und Tellermuscheln genannt werden, dürfte man vergebens nach Mikroben suchen. Wie nett sind diese verschieden gezeichneten und gefärbten Muscheln von der Größe eines Zweimarkstückes, die aus der einen Schalenöffnung die zierlich gefransten, kurzen Athemröhren, aus der andern den röthlichen Fuß hervorstrecken, wie sauber ihr weißer Mantel, wie fest und schmackhaft ihr Fleisch, das man einem Nußkerne vergleichen möchte! In der Umgebung der großen Etangs, welche den norddeutschen Haffen entsprechen, ersetzen die Clovisses förmlich die Austern und werden in großen Mengen verspeist; aber sie dringen nicht weit vor in das Innere des Landes; Nimes und Toulouse dürften die Grenzen ihres Verbreitungsbezirkes bezeichnen.

In Venedig genießen die Steindatteln (Lithodomus) eines vielleicht zu hoch gespannten Rufes. Die Muschel gleicht in der That mit ihren langen, braungrünen Schalen nicht übel einer getrockneten Dattel, deren Größe sie auch besitzt; ihr Hauptverdienst dürfte aber nicht in ihrer Seltenheit, sondern vielmehr in der Schwierigkeit bestehen, sie in marktfähiger Menge zu beschaffen. Die Muschel bohrt sich in festen Thonboden, am liebsten aber in etwas mürbe Kalksteine so tief ein, daß sie nur durch einen Röhrengang, in welchem durch die Athemröhren ein ein- und ausströmender Wasserstrom erzeugt wird, mit der Außenwelt in Verbindung steht. Die bröcklichen Kalksteine des Lido vor Venedig sind ein Lieblingswohnort der Steindattel. Man muß die Bruchstücke, welche von Wind und Wellen abgelöst werden, aus einiger Tiefe hervorholen und zertrümmern, um der Muschel habhaft zu werden. Die Steindattel hat einen eigenthümlichen Geschmack, als wenn zu Atomen zerstoßener Pfeffer in geringer Menge in ihrem Gewebe zerstreut wäre. Vielleicht rührt dieser Geschmack auch von einer Säure her, welche das Thier absondert und die ihm dazu dient, den Kalkstein aufzulösen, zu dessen mechanischer Anbohrung oder Abfeilung das Thier keine Werkzeuge besitzt. Der Preis der Steindatteln ist ein ganz willkürlicher, stets aber bedeutend höher als derjenige der Austern, die ich unbedingt vorziehe.

Ich ziehe die Auster auch der großen dornigen Herzmuschel (Cardium echinatum) vor, die in Torquay unter dem Namen „Rednose“, mit spanischem Pfeffer und andern Gewürzen geschmort, als Leckerbissen gilt. Für indische Gaumen! Die kleine glatte Herzmuschel (Cardium edule) dagegen hat an den Felsenküsten der Hebriden und Nordschottlands denselben Geschmack und dieselbe Wichtigkeit für die Anwohner, wie die Clovisses in Südfrankreich, während sie in dem Schlamm der Bucht von Torquay auch Schlammgeschmack hat.




Blätter und Blüthen.


Deutscher Bürgersinn. Illustrationen S. 217 und 235.) Zahlreich sind in deutschen Städten Beweise des Wohlthätigkeitssinnes, indem reiche Mitbürger den städtischen Anstalten, sei es bei Lebzeiten oder testamentarisch, bedeutende Summen zugeeignet haben. Ueber solche großartige Schenkungen haben erst vor Kurzem die Blätter aus Dresden und Berlin berichten können. Auch in Leipzig hat es zu keiner Zeit an derartigen Spenden der Wohlthätigkeit gefehlt. Doch abgesehen davon darf Leipzig sich mehr als jede andere Stadt rühmen, daß der Gemeinsinn vieler Bürger sich nicht bloß dem unmittelbar Nützlichen zugewendet, sondern es auch als Ehrensache betrachtet hat, für die Verschönerung der Vaterstadt Sorge zu tragen und bedeutende Mittel für diesen Zweck zu bestimmen.

Der größte Platz Leipzigs, der Augustusplatz, geschmückt durch das Neue Theater, die Universität und das Postgebäude, hat in solcher Weise neue Zierden erhalten. Der Mende-Brunnen und das großartig ausgebaute Museum, das jetzt dem Neuen Theater, in durchaus entsprechender Weise den großen Raum abschließend, gegenübersteht, verdanken den Vermächtnissen von Privatleuten Entstehung und Neugestaltung. Pauline Mende, geborene Thiriot, die am 25. Oktober 1881 verstorben war, hatte testamentarisch der Stadt ein Kapital von 150 000 Mark zugewandt zum Bau eines Brunnens von monumentaler Architektur, vielleicht zwischen dem Museum und dem Neuen Theater. Nachdem die ausgeschriebenen Konkurrenzen nicht das gewünschte Resultat gehabt, wurde der Direktor der Nürnberger Kunstgewerbeschule, Gnauth, mit der Ausführung eines Entwurfs beauftragt, der den Wünschen des Rathes und der Sachverständigen entsprach. Das Modell, das dieser in Gemeinschaft mit dem Münchener Bildhauer Ungerer herstellte, erhielt die Zustimmung des Rathes.

So ist Leipzig um einen großen stilvollen Brunnen reicher geworden, um welchen die Stadt von den anderen norddeutschen Städten beneidet werden darf; denn diese sind arm an solchen monumentalen Zierden und nur in manchen mittelalterlichen Reichsstädten des deutschen Südens finden sich jene in nächtiger Stille so märchenhaft plaudernden Brunnen, um welche ein solcher poetischer Zauber webt, der Mende-Brunnen erinnert

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_234.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2023)