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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wir noch nicht über die Mauer sehen, wir kannten nur das kleine Gärtchen drüben. Wie kommst Du hierher? Und so allein?“

Und dann ging sie weiter, so eilig und rasch, als gelte es einen Wettlauf; und die Erinnerung zauberte ihr jeden Blick, jedes Wort zurück, wie sie mit ihm dort gesessen, und die Gegenwart sagte höhnisch: „Vorbei! Dort wartet eine Andere auf ihn!“ Daß sie ihn verlor durch eigene Schuld, war furchtbar; daß er aber im Stande gewesen, sie zu vergessen und so bald, das dünkte sie das Schwerste von Allem. Und sie hatte doch so gar kein Recht, ihm Vorwürfe zu machen, nein, wahrhaftig nicht!

Und dennoch! Es waren Zorn und Schmerz zugleich, die sie aufspringen und flüchten ließen von der Seite des alten Herrn, wenn sie die Schritte des Doktors im Flur hörte. Und dann wieder konnte sie stundenlang dabei verweilen, sich auszumalen, wie sie ihn um Verzeihung bitte und er ihr die Hand entgegen strecke, um zu sagen: „Laß es vergessen sein, Lucie, ich habe Dich noch immer lieb.“ Hinterher schalt sie sich und versuchte ihr armes Herz durch Stolz zu trösten und aufzurichten, aber es war so schwach und verzagt, so demüthig und klein geworden, daß das alte Stärkungsmittel gramvoller Herzen sich als wirkungslos erwies.

Hortense schrieb oft; es waren kurze und abgerissene Briefe, die stets eine Bitte um Verzeihung enthielten und von dem Befinden des Patienten meldeten, so, als ob die Schreiberin keine Zeit habe und doch eine Pflicht nicht versäumen wollte. Und dabei schimmerte durch die nüchternen Zeilen eine mühsam verhehlte Glückseligkeit. Warum gestand Hortense sie nicht offen ein? Fürchtete sie, ihr, der Einsamen, wehe zu thun? Ach, sie wußte es ja so genau, welch strahlendes Glück in Woltersdorf seinen Einzug gehalten! Gott möge es hüten! Sie fühlte sich nur immer so doppelt arm nach solchen Briefen. Auf der ganzen weiten Welt hatte sie ja doch nichts mehr, woran die sehnsüchtigen Gedanken haften konnten in Hoffnung und heimlichem Glück.




Trüb und still gingen der September, der Oktober vorüber; der November kam, in den Kachelöfen brannten die Feuer, und im Speisesaal war es so finster, daß zum Diner eine der Lampen des Kronleuchters angezündet werden mußte. Mademoiselle stemmte ihre Füße gegen das Gitter des Kamins und trug einen rothen Shawl, in den sie sich wie ein Eskimo einwickelte.

Der Baron stand fast gar nicht mehr aus dem Bette auf, ihn fror beständig. Lucie saß geduldig neben ihm, die Zeitung lesend, plaudernd, oder sie hörte zu, wenn er aus seinem bewegten Leben erzählte in der abgebrochenen Redeweise, die seine Krankheit mit sich brachte. Es waren Geschehnisse aus einer Zeit, die sie nicht gekannt, sie lernte daraus, daß es schon immer Kummer und Gram gegeben in der Welt und daß sie sich am schwersten tragen, wenn eigene Schuld sie brachte. Mademoiselle und Lucie speisten allein in dem großen Gemach. Es waren peinlich stille Mahlzeiten, wovon sollte man auch sprechen? Es kam, außer Doktor Adler, kein fremder Mensch ins Haus, und dieser hatte immer merkwürdig wenig Zeit und erzählte nichts Neues, der alte Major von Schenk lag schon seit Wochen krank. Und wenn Mademoiselle einmal bei Fräulein Dettchen gewesen war und heimgekommen erzählte, so wechselte Lucie schon bei der geringsten Andeutung die Farbe und senkte den Kopf, aus Furcht, sie würde sagen: „So, nun ist die Verlobung erfolgt.“

Sie wußte, sie würde es hören eines Tages, und sie hatte allerlei wirre Gedanken über den Seelenzustand, der darauf folgen müßte; sie meinte, sie könnte dann nicht weiter leben.

So saßen sie wieder an einem trüben Tage des Novembers; draußen hing ein düsterer Himmel hernieder; einzelne große Schneeflocken taumelten in der Luft und legten sich wie Sterne gegen die Scheiben der Fenster. Die kleine Französin sprach heute wenig; die Hammelrippchen, die Peter zu eingelegten grünen Bohnen servirte, nahmen ihre volle Aufmerksamkeit in Anspruch: sie waren nach ihrer Aussage fast so excellent, wie daheim im schönen Frankreich.

Endlich wischte sie sich den Mund, legte die Serviette auf die Tafel und fragte: „Lucie, würden Sie mir einen Gefallen thun? Würden Sie den Kaffee bei mir trinken? Ich bekomme Besuch.“

Die Augen des Mädchens kehrten aus irgend einem Winkel zurück und hefteten sich erstaunt auf das runde Antlitz der alten Dame. „Besuch?“

„Ja! Warum nicht? Sehen Sie, Lucie, ich mußte endlich einmal Fräulein Adler invitiren; sie bietet mir jedesmal etwas an, Kaffee, Kuchen oder Limonade. Ich fürchtete mich – entre nous – immer ein wenig vor diesem événement, aber was soll ich thun? Eigentlich wollte ich sie zum Abend bitten, zum Thee, mit dem Doktor – natürlich hätte ich Sie dann nicht inkommodirt; aber – denken Sie – er sagte ab, und sie – die deutschen Frauen sind wunderlich, wenigstens diese Art – sie wollte lieber einmal gemüthlich zu einem Täßchen Kaffee kommen, erklärte sie; Abends ginge sie ungern aus, sie vertrüge es schlecht. Nun war ich gestern da und lud sie auf heute ein, und sie nahm es an, bedauerte aber gleichzeitig, nicht lange bleiben zu können, da sie zu ihrer Schwägerin müsse, um Fräulein Selma im Ballstaat zu bewundern, und dann gleich wieder heim; denn auch ihr Neffe gehe zum Ball. Ich glaube, irgend so ein Klub hat Stiftungsfest. Na, das paßt ja denn auch sehr schön; kommen Sie, Kleine? 0, Sie thäten mir einen so großen Gefallen.“ Und als Lucie zögernd schwieg, sagte sie hinzu: „Ich weiß, Fräulein Dettchen würde sich freuen, sie hat immer nur Gutes von Ihnen gesprochen.“

Lucie hatte die kleine freundliche Dame nicht wiedergesehen seit jenem letzten Morgen im Hause der Schwiegermutter, es ergriff sie eine förmliche Sehnsucht nach diesem guten Gesicht.

„Wenn Sie erlauben,“ sagte sie, halb gegen ihren Willen, „so komme ich.“

„Charmant! Also um vier Uhr? Bis dahin will ich schlafen, ich bin entsetzlich abgespannt.“

Mademoiselle verbarg in der That ein Gähnen hinter der kleinen rundlichen Hand. Als Peter mit dem Nachtisch eintrat und sie statt der vielgeliebten Mehlspeise nur Aepfel und kleine Kuchen erblickte, wie sie die Köchin für alle Fälle stets in Blechbüchsen vorräthig hielt, zuckte sie unmerklich die Schultern, und, Lucie die Hand reichend, sagte sie im Davongehen: „Auf Wiedersehen!“ und trippelte aus dem Speisezimmer.

Lucie hatte dem Diener einen Brief abgenommen; er war von Hortense, aber sie konnte sich nicht entschließen, ihn gleich zu lesen; sie hatte einen ihrer bittersten Tage. Als sie diesen Morgen am Bette des Barons saß, der über außergewöhnliche Mattigkeit klagte, war Adler hereingekommen, ohne daß es ihr möglich gewesen, vorher zu entschlüpfen. Er hatte ihr eine Verbeugung gemacht, sie einen Augenblick angesehen und dann, ihre Gegenwart völlig ignorirend, sich mit dem Kranken beschäftigt. Es war etwas wie Trotz, das sie dennoch mehrere Minuten auf ihrem Platz neben dem Lehnstuhl des Barons verharren ließ; als er aber nach einigen Fragen über den Gesundheitszustand des alten Herrn mit wahrem Feuereifer von der gestrigen Stadtverordnetensitzung und dem dabei zur Verhandlung gekommenen Projekte, den Bau eines Krankenhauses betreffend, zu erzählen begann, erhob sie sich langsam und schritt hinaus. Sie hörte nur noch, wie er sagte: „Und ich werde nicht ruhen, die Beweise zu führen, daß der von der Stadt bewilligte Bauplatz die ungesundeste Stelle im ganzen Weichbild ist.“

„Vorbei!“ sagte sie sich auch heute wieder, „verloren!“ und sein kühler gleichgültiger Blick ließ sie förmlich aufschauern. Sie nahm das Tuch, welches über der Lehne ihres Sessels hing, und stieg die Treppe wieder hinauf; sie hatte hier unten augenblicklich nichts zu thun, bis fünf Uhr hielt der alte Herr Ruhe. Sie hatte auch oben nichts zu thun, überhaupt kaum noch etwas auf der ganzen weiten Welt; sie war so überflüssig, so grenzenlos überflüssig!

Sie saß in der zunehmenden Dämmerung am Ofen auf einer Holztruhe, die einst Hortense nach einem alten Renaissancemodell hatte anfertigen lassen und die hier verblieben war, weil sie nicht zu der Rokoko-Einrichtung in Woltersdorf paßte, und spann weiter an diesen schwarzen Fäden.

„Ich bin recht schlecht geworden,“ sagte sie halblaut vor sich hin, „ich bin eine von den Naturen, welche Unglück bitter macht. Wenn mich der liebe Gott gut haben will, muß er mich besser behandeln; ich weiß nicht mehr, wie es weiter gehen soll; ich glaube, ich kann niemals wieder Jemand lieb haben; ich bin keiner guten Regung mehr fähig.“

Sie begann an Alle zu denken, die ihr nahe gestanden; Hortense? Was war sie ihr noch! Der alte müde Mann dort unten? Das morsche Tau, das ihr Schifflein noch in sicherem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_250.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)