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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

nur mechanisch rang sie, ihre Hand von seinen lodernden Küssen zu befreien.

Mit einem Male aber fuhr die Aebtissin jählings aus ihrer Starrheit empor und blickte entsetzt nach einer Richtung. Eben hatte sie gesehen, wie zwei Stiftsdamen, darunter die wegen ihrer bösen Zunge „das Stiftskreuz“ genannte Gräfin Hochburg, auf dem Weg sich nahten. Aus deren überraschten Gebärden entnahm Frau Mathilde, daß die Beiden die Situation bemerkt hatten.

„Mein Gott, die Fräulein!“ entrang es sich ihren Lippen.

Ein einziger Blick unterrichtete Werner von der peinlichen Lage, in welche er die Fürstin gebracht. Jäh, wie sein ganzes Thun, war auch der Ausweg, den ihm der Augenblick eingab.

Statt die Aebtissin loszulassen, zog er sie gewaltsam an sich. „Ich rette Ihre Ehre, selbst um den Preis meines Lebens; nur verschweigen Sie meinen ehrlichen Namen!“ stieß er hervor. Blitzschnell erfaßte er sodann das mit kostbaren Brillanten besetzte Kreuz der Prinzessin, riß es mit einem gewaltigen Ruck von der feinen Venetianerkette und eilte, das Kleinod in der Hand haltend, davon. Tödlich erschrocken über das so Unerwartete sank die Fürstin mit einem Schrei des Entsetzens auf die Bank zurück.

Die beiden Fräulein, welchen Werner nunmehr auf dem engen Kiespfad entgegenstürmte, flohen mit gellendem Angstruf zur Seite. Werner hatte absichtlich, als er in die Nähe der Damen gekommen, das Kreuz hoch erhoben und in der Sonne glitzern lassen, dazu so drohende Gebärden gemacht, daß der ursprüngliche Gedanke der Fräulein, hier eine pikante Liebesscene belauscht zu haben, sofort unterging in der tödlichsten Furcht vor einem Raubanfall. Sie schrieen aus vollem Halse: „Räuber, Mörder, zu Hilfe!“ als der Flüchtling an ihnen vorüber war. Auf das Gezeter eilten ein paar Gärtner mit ihren Werkzeugen herbei, während zugleich der Pförtner und Knechte aus den nahen Oekonomiegebänden dem vermeintlichen Räuber den Weg verlegten. Im Nu war Werner, der nur scheinbar Widerstand leistete, gefangen; das Kreuz in seiner Hand sprach nur zu deutlich, mit wem man es zu thun habe.

Als Benigna den Schreckensruf der Aebtissin vernahm, eilte sie erschrocken zu ihrer Gebieterin. Kaum vermochte diese in wenigen, mühsam gekeuchten Worten den Vorgang zu erklären.

„Eilen Sie, Benigna, befreien Sie den Unglücklichen,“ setzte sie dringend hinzu.

„Nein, liebste Fürstin, das darf jetzt nicht geschehen. Der Unselige mag einstweilen die Folgen seiner Verblendung tragen. Später wollen wir auf seine Befreiung denken, aber Ihr Ruf soll nicht unschuldig leiden. Außer mir weiß Niemand, in welcher Beziehung Werner zu Ihnen stand, und er selbst wird nichts verrathen. Wenn Sie jetzt enthüllen, daß der Raub nur Komödie war, ist die böse Nachrede förmlich herausgefordert. Im Uebrigen sind Sie ja Herrin über Leben und Tod auf Ihrem Gebiet, und es bleibt Ihnen das Recht, zu begnadigen, und die Möglichkeit, Werner’s Flucht zu begünstigen.“

Inzwischen hatten die zwei Stiftsdamen, als sie den Räuber dingfest gemacht sahen, sich wieder herangewagt, um nach der Aebtissin zu sehen. So war dieser einstweilen jeder weitere Einwand abgeschnitten. In halber Betäubung gelangte sie, von den Fräulein gestützt, auf ihr Zimmer, und wie willenlos ließ sie sich auf Zureden der sorgenden Benigna zu Bett bringen. Binnen Kurzem begann die Prinzessin zu fiebern. Sie hielt nur noch den einen Gedanken fest, ehe es zum Aeußersten kommen sollte, Alles der Wahrheit gemäß zu offenbaren, mochte daraus entstehen was wolle. In der nächsten Zeit wäre sie aber gar nicht im Stande gewesen, ihrer edlen Regung zu folgen. Das Fieber steigerte sich bis zu völligem Phantasiren, und der Stiftsmedikus verordnete unbedingte Ruhe und Abgeschlossenheit.

(Schluß folgt.)




Das erste Jahr im neuen Haushalt.

Eine Geschichte in Briefen. 0 Von R. Artaria.


V. 0 1.

Den 6. Januar. 
Das neue Jahr ist gekommen und hat uns kein Wiedersehen gebracht, meine Marie! Das war mir sehr schmerzlich – ist es doch das erste Mal seit unseren Kinderjahren, daß wir nicht mit einander Blei gossen und Schiffchen schwimmen ließen. Erinnerst Du Dich noch an mein räthselhaftes Gußprodukt vom vorigen Jahre? Du meintest: ein Herrscherstab mit einer Blumenkrone; ich meine jetzt mehr und mehr: es sei nur ein – Kochlöffel gewesen!

Denn mit meinen Herrscheraussichten steht es sehr schwach; das habe ich neulich erfahren, als ich versuchte, mit einem energischen Sturm die Heimreise für die Weihnachtsfeiertage bei Hugo durchzusetzen. Er war von Anfang an dagegen, das heißt, seine Mutter war es, weil sie fand, die Reise koste doch viel und wir seien ja „eben erst heimgekommen“. Ich merkte gleich, daß sie ihn beeinflußt hatte, hielt es aber für besser, zu schweigen, bis Mamas letzter dringender Brief kam, und dann, als wir nach Tisch beim gemüthlichen Kaffee saßen, begann ich meinen Angriff. Hilfstruppen standen auch bereit: vor Tisch war ein Karton aus S. angekommen, worin mir die Blüthner ein paar Sachen zur Ansicht schickte, ein Hütchen aus Crème-Plüsch mit grüngoldenen Federchen und einen kleinen Federmuff – reizend, sage ich Dir, und nicht einmal theuer, wie gemacht zu meinem dunkelgrünen Kleid. Aber ich wollte Hugo zeigen, daß ich sogar am Nothwendigen sparen kann, damit er dann meinem Urtheil traut, wenn ich etwas für unumgänglich erkläre. Er aber schien gar nicht einmal zu ahnen, was mich dieser Verzicht kostete, sondern sagte nur obenhin: „Natürlich, natürlich, wozu brauchst Du hier einen so eleganten Hut!“

Ich überwand mich, darauf nichts zu antworten; als ich ihm aber nun auf Grund dieser Ersparniß die Heimreise vorschlug, da fing er an, den Kopf zu schütteln, immer stärker, trotzdem ich ihn mit Bitten, Schmeicheln und Küssen bestürmte. Zuletzt sagte er ganz bestimmt: „Es geht nicht. Für die paar Feiertage – denn von Urlaub ist ja keine Rede – können wir nicht so viel Geld ausgeben. Schlage Dir’s aus dem Sinn!“

Darauf hin brauchte ich mir denn gar keine Mühe zu geben, um so zu weinen, wie es Mama allemal thut, wenn sie bei Papa etwas durchsetzen will. Schließlich giebt er ja immer nach, auch wenn er anfangs noch so bestimmt erklärte: es geht nicht. Aber merkwürdig, darin ist Hugo anders. Er stand ganz kaltblütig auf und holte – nicht etwa kölnisches Wasser, sondern das Ausgabebuch, schlug es auf und sagte:

„Wie viel haben wir im November bereits voraus gebraucht?“

Und das war ja richtig, eine ganze Menge Geld war mir durch die Hand gegangen, und für was? Für einen Keller voll dummer, langweiliger Steinkohlen, einen Klafter Holz, Kartoffeln, Küchenregale, wasserdichte Stiefeln für Hugo und lauter solche Dinge, an denen kein Mensch Freude haben kann. So hatte ich schon fünfzig Mark vom December vorausgenommen, ohne mir etwas dabei zu denken, und nun sollte das diese Folge haben!

Mein Gott, man nimmt eben Geld irgend woher, wenn man keines hat! So dachte ich bisher; Hugo aber bewies mir mit einer unangenehmen Deutlichkeit, daß dies nicht möglich sei und die Reise sich ganz von selbst verbiete.

„Aber, Hugo, wenn ich es doch so gern möchte!“ schluchzte ich ganz außer mir.

„Aber, Emmy, wenn es doch durchaus nicht angeht!“ erwiederte er mit einer empörenden Kaltblütigkeit. „Sei nicht so unvernünftig, kleines Weib! Ich muß jetzt fort. Mache, daß Du helle Augen hast, bis ich wiederkomme!“

Damit ging er; bat mich nicht einmal um Verzeihung, sondern ging!

O, ich fühlte mich doch so unglücklich! Der schöne Weihnachtsabend zu Hause versunken und dafür die Aussicht, ihn bei der Schwiegermutter zuzubringen, mit ihrem alten Hausfreund, dem langweiligen Notar Reutter, der maschinenmäßig lange Abende durch Whist spielt und jedes Mal, wenn er einen König auswirft, dazu sagt: „Jetzt kommt der Käfig und sticht den Bupf!“ Das ist sein einziger Witz, und sie hört ihn seit dreißig Jahren!

Noch lag ich in meinen Thränen mit dem Kopf in der Sofa-Ecke, als es klopfte. Ich fuhr auf, wischte schnell die Augen ab und sah Doktor Brandt vor mir stehen; ich hatte über all der Aufregung ganz unsere Verabredung vergessen, an jenem Tage mit einander zu musiciren. Du weißt, daß er sehr gut Violine spielt, aber er hat auch eine schöne Tenorstimme und singt zum Beispiel die „Winterreise“ ganz ergreifend, „aus der Tiefe seiner eingebildeten Schmerzen heraus“, wie Hugo sagt, der ihn nicht besonders liebt. Ich mache mir ja auch nicht viel aus ihm; aber seine Bitte, ihn als „Verbannungsgenossen“ zu dulden, konnte ich ihm doch nicht abschlagen. Andere Leute langweilen Einen auch und machen nicht einmal Musik! Nun, ich steckte also die Lichter an (Klavierlampen waren auch bisher ein großer, aber vergeblicher Wunsch!) und beugte mich dann so tief als möglich über die Noten, die ich aussuchte. Er sah mich dabei beobachtend an und sagte mit seinem gelassenen Ton:

„Sie haben geweint, gnädige Frau?“

Ich wischte hastig die Tropfen ab. „O, es ist nichts, nicht der Mühe werth –“

„Nicht der Mühe werth, sich zu verstellen, allerdings,“ erwiederte er. „Naturen wie die Ihre bringen das nicht fertig. Wozu auch? Glauben Sie nur, ich sehe sehr wohl, wie auch Sie sich hier nicht an Ihrem Platze fühlen – unglücklich sind –“

Herrgott, nein, aber so Etwas! Augenblicklich versiegten meine Thränen, und mich erfaßte ein fürchterlicher Zorn über eine solche Dreistigkeit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 302. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_302.jpg&oldid=- (Version vom 14.5.2023)