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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

dienlich unter dem Einfluß der Shakespeare-Dramen, an deren Nachahmung so viele unserer hoffnungsvollsten Talente zu Grunde gegangen sind; aber wo er sein Bestes und Eigenstes giebt, da ist er nicht selten wirklich bedeutend und bei aller Mäßigung in der Anwendung von Mitteln hinreißend in der Wirkung. Er wendet sich nie an das Ohr und die Nerven der Zuschauer; er bleibt immer der Künstler, der gestalten und, so gut er es vermag, einen Plan mit Besonnenheit zur Durchführung bringen will, und seine Sprache, wenn sie auch nicht immer makellos ist, zeichnet sich durch Kraft und Sicherheit aus.

Zwecklos und unberechtigt ist das Streiten darüber, ob Lindner dem und jenem berühmten Vorgänger ebenbürtig sei, ob seine Stücke der Vergessenheit über kurz oder lang anheimfallen werden oder nicht. Kein ehrlicher Arbeiter auf dem Gebiete der Kunst ist verpflichtet, ein auserlesener Genius zu sein; die Phönixe sind selten und kaum alle hundert Jahre steigt einmal dieses Wundergeschöpf aus der Asche des Gewöhnlichen empor; aber wo bei so viel ernster Arbeitsfreudigkeit wirkliche Begabung vorhanden ist, wo sich diese Begabung in nicht gewöhnlicher Weise bewährt hat, da geziemt es den Mitlebenden, Antheil zu nehmen, sich ihrer Verpflichtung gegen das Talent bewußt zu bleiben.

Es ist hier nicht der Ort, sich in Klagen zu ergehen – und wen sollte man auch anklagen? Das Publikum gewiß nicht; denn dieses ist gern bereit, sich von einem edlen Dichter erheben zu lassen; der Erfolg der neuaufgeführten „Bluthochzeit“ hat es bewiesen. Und in diesem Erfolge liegt zugleich etwas Versöhnliches: man wollte gut machen, was man versäumt, weil man nichts von dem Jammer des Dichters gewußt hatte. Die Vernunft wird man ihm freilich nicht wiedergeben können; aber wenn jetzt nur dafür gesorgt wird, daß der Kranke nichts entbehren muß, daß die Familie vor der drückendsten Noth bewahrt bleibt, so ist das Versäumte doch in etwas wieder gut gemacht.

Eugen Reichel.




„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“
Eine Lieder-Legende des 9. Jahrhunderts.
Von Ernst Pasqué.


Wer von dem Städtchen Rorschach am Bodensee auf der alten Straße nach St. Gallen wandert, gelangt etwa eine Stunde vor letzterer Stadt an die nach Heiden abzweigende Landstraße und dieser abwärts folgend nach dem Martinstobel, der wilden Schlucht des Goldachs. Eine eiserne Brücke verbindet heute die fast senkrecht emporstrebenden Felsenwände; vor noch nicht vielen Jahren nahm ihre Stelle die hölzerne „Martinsbrücke“ ein, die, 1468 erbaut, das älteste Hängewerk der östlichen Schweiz bildete. Doch auch diese hölzerne Brücke war die Nachfolgerin einer weit älteren gewesen.

Es mögen jetzt wohl gerade tausend Jahre her sein, da versuchte man an gleicher Stelle, etwa 100 Fuß über den schäumenden Fluthen des Bachs die beiden Felsenufer durch gewaltige Baumstämme mit einander zu verbinden und so einen Uebergang zu gewinnen. Es war ein für die damalige Zeit schweres und gefährliches Unternehmen, wo die Menschen, besonders diejenigen, welche jene Berge bewohnten, noch weit davon entfernt waren, die zu solchen Bauten nöthigen Hilfsmittel zu kennen und in Anwendung zu bringen, dafür in erster Linie auf ihre Körperkraft, ihren Muth angewiesen waren. Die Gegend war damals noch immer eine Wildniß, wenn auch nicht mehr eine so unwirthliche und öde, wie etwa zwei Jahrhunderte früher der heilige Gallus sie angetroffen hatte, als er von dem alten Arbon aus hinauf in diese Wüstung, nur von Bären und anderen wilden Thieren bewohnt, gezogen war, um hier nur Gott und seinem Glauben zu leben. Sie lag nicht weit von der Stelle, wo der glaubenseifrige Gottesbote in die Dornen fiel und in seiner frommen Einfalt zu seinen beiden Gefährten sagte: „Laßt mich liegen! Es ist Gottes Wille, hier soll ich bleiben!“ wo er dann, der Sage nach, sein Brot mit einem zahmen Bären theilte, in Wirklichkeit aber das nach ihm benannte Kloster gründete, dem dann die Stadt St. Gallen ihren Ursprung verdankte. Das Kloster gedieh rascher als die Gegend zu schöner Blüthe, sowohl durch mildthätige Schenkungen wie durch den Eintritt frommer Männer, die sich in stiller Zelle neben geistlichen Uebungen gelehrten Forschungen widmeten. Bereits im 9. Jahrhundert erhob sich an Stelle der einfachen Kapelle des heiligen Gallus die stattliche Klosterkirche mit den weitläufigen Bauwerken für die Mönche, unter deren Schutze sich Leute aus dem Volke Wohnstätten errichtet hatten und nun versuchten, die Berglehnen und Thäler ur- und nutzbar zu machen. Die von St. Gallus eingeführten Klosterregeln seines Lehrers und Gefährten, des heiligen Columban, hatten die Mönche mit den Jahren gegen die des heiligen Benedikt von Nursia vertauscht, welche weniger strenge, ihrer geistigen Thätigkeit förderlicher waren. Hierdurch sollte das Kloster mit der Zeit die Pflanzschule der Gelehrsamkeit für die ganze gebildete Christenheit werden, was für die entstehende Stadt wie für die Entwickelung der Kulturverhältnisse der ganzen Seegegend von den tiefgreifendsten, wohlthätigsten Folgen sein mußte. –

Es war nun die Zeit jenes ersten Brückenbaus, also wohl gerade vor tausend Jahren; da schritt an einem sonnigen Tage ein junger Mönch aus den Zellen des heiligen Gallus über die Höhen in der Richtung nach der Seegegend und der Goldachschlucht hin. Er war von kleiner Gestalt, und die weiße Kutte hing faltig um den schmächtigen Körper nieder, der durch das schwarze Oberkleid nur noch unscheinbarer werden mußte. Der Kopf mit der kahlen Platte und dem lang niederhängenden Haarkranz war für das Mönchlein viel zu groß; doch die Augen blickten, wenn der sinnend Dahinschreitende sie hob, mit einem kühnen Selbstbewußtsein und einer überlegenen Geisteskraft in die Weite und kündeten zugleich, daß dem schmächtigen Körper volle Manneskraft innewohnen mußte. Er hieß Notker, mit dem Beinamen „Balbulus“, der Stammler, weil er mit der Zunge anstieß und ihm die Rede höchst unbeholfen floß. Erhob er aber seine Stimme zum Gesang, so ertönte sie, als ob ein Wunder ihm geschehen sei, voll und klar, und ohne Stockung hallte sie durch das Gotteshaus, besonders bei den frommen Chorgesängen, die nach der Ordensregel in jeder Nacht zweimal angestimmt werden mußten. Seines sprachlichen Uebelstandes halber liebte und suchte er auch die Einsamkeit, welche zugleich seinen ernsten Gedanken und Studien eben so förderlich war, wie seinem Triebe, das in Tönen auszudrücken, was ihm in der Redeform nicht möglich werden konnte.

Notker stammte aus dem adeligen Geschlecht derer von Elk. Um 850 zu Heiligau in der Nähe von St. Gallen geboren, trat er schon als Knabe in die Klosterschule ein, und die Kunst der Musik erlernte er von den Mönchen, die wiederum solchen Unterricht von einem Römer erhalten hatten, der von Karl dem Großen nach Metz berufen worden, doch auf seiner Reise im Kloster des heiligen Gallus erkrankt und dann dort geblieben war. Zu jener Zeit war den Laien, nach den strengen Regeln des vom Papst Gregor dem Großen eingeschränkten Kirchengesanges, kaum gestattet, beim Gottesdienste die Stimme zu erheben. Auf die letzte Silbe des „Hallelujah“, sang das Volk Tonreihen ohne Text, also nur auf dem Vokal a, die man „Jubilos“ nannte. Dieser Folge von Tönen, „Sequenzen“, hatte Notker lateinische Textworte untergelegt, wie er auch die prosaischen Antiphonen, Wechselgesänge nach Bibelstellen, mit einem neuen metrischen Text versah. Diese Neuerungen des St. Gallener Mönchs, welche sich rasch verbreiteten und von den Laien freudig angenommen wurden, gaben dem Kirchengesange allmählich eine gefälligere und wirksamere Form, wodurch der Gottesdienst nur gewinnen konnte und einen tieferen Eindruck auf die betende Gemeinde auszuüben im Stande war.

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Nur mit seinen Gedanken beschäftigt, war Notker auf der Höhe angelangt, wo die steil abfallenden Felsen der Goldachschlucht bald seinen Schritten Halt gebieten mußten. Jetzt erst schaute er auf, und das große klare Auge strahlte, als nun der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_331.jpg&oldid=- (Version vom 18.5.2023)