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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

See sich in seiner ganzen majestätischen Weite mit den bewaldeten Ufern und den einzelnen, entstehenden Ortschaften vor seinen Blicken ausbreitete. Doch auch das Bild, welches sich ihm an seiner rechten Seite zeigte, entlockte dem frommen Manne einen Ruf heiliger Freude. Der wellenförmig sich in weiter Ferne nach dem Rheinthal abflachende Höhenzug war bereits zum größten Theil gerodet und an Stelle der Waldungen breiteten sich frische grüne Matten aus, auf denen Kühe und Ziegen, einzeln und in kleinen Herden weideten; ein Zeichen, daß St. Gallus’ Segen sichtlich auf der Gegend ruhte, welche der Heilige als Wildniß und Oede betreten hatte. In seiner frommen Herzensfreude stimmte Notker leise eine seiner Sequenzen an, in der er Gott den Herrn, seine Güte und Allmacht mit begeisterten Worten lobte. Da mischte sich in seinen geistlichen Sang unerwartet ein heller Freudenjauchzer, den in der Ferne auf einer der grünen Bergwiesen eine frische Frauenstimme hervorstieß. Unwillkürlich wandte der Mönch den Kopf zur Seite, da erblickte er eine der jungen Hirtinnen, welche ihr weltliches Singen und Jauchzen, ohne erkennbare melodische Folge, aus voller Brust ertönen ließ. Doch die Singende war nicht allein; ein Mann, den ärmellosen Wildkoller auf der Achsel, stand bei ihr und versuchte nun auch gleich freudig in ihren Sang mit einzustimmen. Nun umfing er sogar mit nicht zu mißdeutender Gebärde seine junge Gefährtin. Da kehrte der Mönch seinen Blick wieder von der Gruppe ab, und sein Singen endend sagte er leise vor sich hin: „Siehe da! das Volk singt der Kirche Sequenzen auf seine Weise – mit Jauchzern untermischt. Wie lange wird’s dauern, und es hat auch die ihm passend dünkenden Worte für die Weise gefunden und – der weltliche, der Natur- und Volksgesang steht dem Kunstgesange der Kirche gegenüber – mit der Zeit vielleicht als ein gefährlicher Gegner. Wäre dem nicht vorzubeugen? Thor!“ tönte es nach einer Pause zwischen den halbgeschlossenen Lippen vorwurfsvoll hervor, „wähnest Du vermessen, dem Drang eines ganzen Volkes, seine Freude in Tönen auszudrücken, Fesseln anlegen zu können? Es wäre Sünde, dies zu wollen. Doch solchen Trieb in die rechte Bahn zu lenken, ihn für den Ernst des Lebens der Kirche unterthan zu machen, das wäre ein gottgefälliges und auch der Menschheit nutzbringendes Werk. Das darf und – will ich unternehmen und mit Gottes Hilfe auch zu verwirklichen suchen“

Notker war weiter vorgetreten und nun am Rande der Schlucht angelangt. Hier ließ er sich auf einen bemoosten Stein nieder und blickte hinab in die Tiefe, wo der Wildbach schäumend über mächtige Felsblöcke und steiniges Gerölle dahinschoß. Er sah eine Anzahl Männer, die damit beschäftigt waren, gewaltige Baumstämme zu einem Uebergang über die Schlucht mit dem wildtosenden Bergwasser zusammenzufügen. Die Arbeit war schon ziemlich weit vorangeschritten. Aus der Tiefe stiegen Streben auf, die, von allen Seiten gestützt, ein zweites Balkengerüste trugen, das der eigentlichen Brücke als Unterlage dienen sollte. Eben waren die Leute dabei, die längsten der Stämme als Quer- und Verbindungsstücke in die richtige Lage zu bringen, was nur mit größter Anstrengung und gleicher Vorsicht zu ermöglichen war. Des Mönches zarte Gestalt schauerte bei diesem Anblick zusammen, dann murmelte er. „Dort, mir zur Seite, ein Paradies – hier, vor mir, die Unterwelt mit ihren Schrecken! – Dort das frische, fröhliche Leben, die Freude an der herrlichen Gotteswelt – hier unten ein Ringen mit dem Tode!“ Dann fügte er, wieder in den psalmodirenden Ton verfallend, hinzu. „ Kyrie eleison! Christe eleison – Herr, erbarme Dich ihrer!“

Da ertönte plötzlich in seiner Nähe eine Männerstimme, die wohl ehrerbietig, doch auch mit einer unverkennbaren freudigen Erregung rief. „Unser Herregott sei gelobt und gedankt! Seine Gnade läßt mich gerade Euch am Wege finden, frommer Vater, um von Euch den Segen zu erhalten,“ und vor dem Mönche stand derselbe Mann aus dem Volke, der vorhin mit der Hirtin um die Wette gesungen hatte. Es war eine jugendliche kraftstrotzende Gestalt, mit gebräunten Zügen und blitzenden Augen. Auf dem dunklen krausen Haar saß eine Wollmütze mit dem schmucken Federspiel eines wilden Berghahns geziert, und der ärmellose Koller, den er über die Schulter geworfen trug, war das Fell eines jungen Bären, den er mit seinen Händen erwürgt hatte.

In nomine Dei sei gegrüßt, Hilty!“ entgegnete Notker, mühsam die Worte hervorbringend, doch mit einem freundlichen Blick auf den jungen Bauer. „Und nun sage mir, zu was der Segen eines armen Mönches Dir frommen soll?“

„Das Anneli auf dem Geißbühel drüben und ich, wir sind soeben einig geworden. Morgen, am Sonntag, nach dem Hochamt, kommen wir zu dem hochwürdigsten Herrn Abt, auf daß er uns zusammengebe für das Leben. – O, für Alles ist gesorgt, frommer Vater! Mein Anneli bleibt bei der Herde des gestrengen Herrn Klostervogts; ich zimmere uns drüben auf der Alm eine Hütte und schaffe weiter für das Kloster, wie jetzt bei der Brücke dort unten. Zwei Geißen hat das Anneli, die geben uns Milch und Käse; und ich verdiene das Brot dazu. Da werden wir leben wie im Paradiese! – Ju -!“

In einem Athem hatte der Bursche dies Alles hergesagt; die Freude gestattete dem glücklichen Menschenkinde kein ruhiges Reden, wie sich dies wohl geziemt hätte. Doch den Jauchzer unterdrückte er denn noch glücklicher Weise zu rechten Zeit.

„Das erklärt und entschuldigt auch Dein spätes Erscheinen bei der Arbeit, die von den Männern dort unten schon längst wieder aufgenommen wurde – und doppelt gerechtfertigt ist Dein Wunsch nach dem Segen eines Dieners des Herrn und der Kirche. Kniee nieder, Hilty!“ So sprach Notker zu dem jungen Manne, der bereits die Mütze abgenommen hatte und nun niederkniete. Der Mönch legte ihm die Hände auf das Haupt, und den Blick nach oben gerichtet, sprach er mit einer solchen heiligen Ueberzeugung und Innigkeit, daß sein Stammeln der Feierlichkeit des Augenblicks keinen Abbruch zu thun vermochte, also: „Der Herr segne Dich, und seine Gnade sei mit Dir bis an Dein Lebensende! Der Herr beschütze Dich und wehre von Dir ab Gefahr und Noth, wie sie in seinem Berufe jedem Menschen droht. Amen! – Und nun, mein Sohn, gehe mit Gott an Dein Werk und denke, was Er thut, ist wohlgethan!“

Dem jungen Menschen mußten die Segensworte des Mönches einen tiefen Eindruck gemacht haben; denn in seinen Augen glänzten Thränen, die auf die Hand Notker’s niedertropften, als er sich darüber beugte, sie mit ehrfurchtsvollem Dank zu küssen. Dann erhob er sich. Da erklang in der Ferne das helle Jauchzen und Singen der Frauenstimme wieder, und Alles um sich her vergessend, nur seines lieben Anneli’s gedenkend, das ja schon morgen ihm als Weib für das ganze Leben angehören sollte, stieß Hilty einen gleich fröhlichen, dabei urkräftigen Jauchzer als Antwort aus und eilte dann auf dem Wege davon, der ihn in die Tiefe der Schlucht, zu den arbeitenden Genossen führen mußte.

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Fast eine Stunde war vergangen, die Sonne dem Scheiden nahe, und Notker, der Stammler, saß noch immer wie festgebannt auf seinem Steine, die Augen nicht abgewendet von den tief unter ihm arbeitenden Männern. Im Grunde folgte er doch nur dem Thun des jungen Hilty; denn dieser hatte in seiner Jugendkraft, in seiner augenblicklichen Ueberfülle an sonnigem Lebensglück den gefährlichsten Theil der Arbeit übernommen. Auf dem förmlich in der Luft schwebenden Ende eines der Querhölzer saß er und arbeitete daran, den zweiten Stamm, der ihm zugeschoben wurde, in die richtige Lage zu bringen. Besorgt wie ein Bruder um den Bruder – bald mit steigender Angst, sah Notker dem wohl allzu kühnen Mühen des jungen Mannes zu, dem mitten im vollen Leben der Tod so nahe war. Da ertönte plötzlich aus der Tiefe, von dem schwanken Balkengerüste her, ein schriller Schrei zu ihm hinauf. Dann folgte ein Krachen und Prasseln, das donnerartig und im Verein mit dem Aufkreischen und Rufen vieler Männerstimmen auch unheimlich die Schlucht durchhallte.

Ein Blick hatte dem Mönche das Entsetzliche gezeigt, das da so urplötzlich vorgegangen war. Durch die fast übermenschlichen und unbedachten Anstrengungen der Männer, und besonders Hilty’s, den riesigen Baumstamm in die richtige Lage zu bringen, waren die unteren Streben ins Wanken gerathen und, jäh ihren Halt verlierend, zusammengebrochen. In ihrem Niederstürzen hatten sie den armen Burschen mit sich in die Tiefe gerissen.

Notker war sofort aufgesprungen, die weiße Kutte zu zusammenraffend, flog er den Abhang hinunter in die Schlucht. Doch nicht bei dem Stand der Männer machte er Halt – mit der Behendigkeit einer Gemse kletterte er weiter hinab in die Schlucht,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 332. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_332.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2023)