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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

von einem Dutzend frischbekehrter Heidenseelen zu berathen gehabt. Aber der Krankheitsfall drängte alles Andere bei Seite.

Es ginge schlecht, sehr schlecht! Es wäre Alles zu befürchten! Sie vergaß im ersten Augenblick ihre Aufregung zu verbergen. Als wenn es sich um eins der Ihren gehandelt, so mächtig war sie erregt.

Es wäre irgend etwas hier in der Brust nicht in Ordnung; aber man müßte erst den Medicinalrath hören. Sie hatte fast zwei Stunden damit verbracht, den Freiherrn mit seinem „ze … ze … ze …“, das jetzt so matt klang, zu bereden, daß ihr Medicinalrath herbeigezogen würde. Der Kranke wollte nichts davon wissen, seinen biederen alten Oberstabsarzt, einen a. D. wie er, der sich so aufopfernd die Mühe gab, die vier Treppen hinanzukriechen, mit seiner wankenden Hand nach dem Puls zu fühlen und ein Recept nach dem anderen hinzukritzeln durch einen dieser hochtrabenden modernen Besserwisser mit ihren erschreckenden Honoraren ins zweite Glied zu rücken. Dann war sie selbst nach der Behrenstraße zu ihrem Medicinalrath geeilt und hatte in dem fürstlich ausgestatteten Wartezimmer fast eine halbe Stunde gewartet, um persönlich den kostbaren Mann um die große Gnade eines sofortigen Besuches bei dem Kranken anzuflehen.

Darauf zu den Diakonissinnen! Hier hatte sie Glück gehabt: Schwester Jemina war eben von einem Sterbebett zurückgekehrt, wo sie vier Tage und Nächte ununterbrochen gewacht. Schwester Jemina, eine Komtesse R., war in allen aristokratischen Krankenstuben besonders beliebt, eine zarte Gestalt mit wachsgelbem Teint und verblaßten Augen, von puppenhafter Sauberkeit; sie schlief nie und sprach nichts; den Gegenständen, die sie berührte, schien sie vollkommene Klang- und Geräuschlosigkeit anzuzaubern.

Der Medicinalrath hatte Nachricht über den Zustand des Kranken versprochen, doch die Nachricht kam nicht. Frau Belzig hielt es nicht mehr aus: diese Angst um den Namen, den ihr der Tod mit höhnischem Grinsen zu entreißen drohte, und die qualvolle Heuchelei, die Angst zu verbergen! Heimlich, noch spät am Abend, da sie Gesellschaft hatten, sandte sie Friedrich nach der Derfflingerstraße. Der Kranke schliefe, berichtete der zurückkehrende Diener, die Schwester Diakonissin wäre da – der Assistent des Herrn Medicinalraths hätte vor einer Stunde seinen Besuch gemacht – das Fräulein arbeitete.

„Vor einer Stunde erst? Nicht möglich! – und nicht der Herr Medicinalrath selbst?“

Frau Belzig war sehr aufgebracht über die Unzuverlässigkeit des Medicinalraths. Aber es ist nichts dagegen zu machen, man darf es mit dem hohen Herrn nicht verderben, und man muß sich geduldig in sein Belieben fügen. Uebrigens, wenn es wirklich noth thut, ist er als Retter ja doch zur Stelle!

Und ihre Gedanken verließen nicht mehr den vierten Stock in der Derfflingerstraße, während sie lachte und plauderte und mit anscheinender Begeisterung dem Spiel eines bekannten Pianisten lauschte, der zu Gast war.

*  *  *

Vor dem „Goldenen Stiefel“ in der Derfflingerstraße hielt ein eleganter Doktorwagen – der Medicinalrath! Gott sei Dank!

Frau Belzig war in dem nassen Schneeschlamme, jetzt um die elfte Morgenstunde, zu Fuß hingeeilt, daheim brauchten sie nichts von dem Gang zu wissen.

Auf der Treppe begegnete ihr der Assistent.

„Wie geht’s denn dort oben, Herr Doktor?“ ries sie hochathmend dem herabeilenden Arzt entgegen.

„Ah Sie, gnädige Frau!“ warf er in seiner breiten ostpreußischen Aussprache hin. Er hatte sie offenbar noch nicht erkannt, nur dieses sonoren Alts erinnerte er sich, auch blieb es bei dem halbausgeführten Versuch, den tief im Nacken des rauhen schwarzen Kopfes sitzenden künstlermäßigen Rundhut zu lüften.

„Sie sind verwandt mit Herrn Gamlingen?“

Er gehörte dem scharfen Fortschritt an und suchte etwas darin, das „von“ und das „Baron“ und dergleichen mittelalterlichen Firlefanz einfach von dem Namen des Patienten zu streichen; später, wenn er etablirt wäre, würde er auch die Titel herausschneiden!

Ohne die Antwort abzuwarten, ließ er zwei wunderschöne, volltönende lateinische Namen durch den Treppenflur erschallen, hob die breiten flachen Schultern und senkte das Stachelgesicht fast wagerecht auf die eine Schulter. „Man muß abwarten – Herr Gamlingen ist kein Jüngling mehr!“

So stand es! Das war deutlich genug! Der Kranke war also nicht zu retten! – Also der Name fort – verloren, vernichtet! Es war zu spät!

Sie fühlte eine plötzliche Schwäche in den Knieen, als sie weiter hinaufstieg, und sie mußte auf dem Absatz des dritten Stockes anhalten. Eine gewaltige Blutwelle fluthete ihr zum Kopf, sie fühlte das Erniedrigende ihres Beginnens.

Wie ein flüchtiger Traum stand die Geschichte eines Processes vor ihr, die sie vor vielen Jahren gelesen. Eine Erbschleicherei, wie ein Weib das Sterbelager eines alten Mannes viele Tage und Nächte belagert, um ein paar elender Banknoten willen … Ist sie nicht selbst eine solche Verbrecherin? Zwar nur ein Name, ein Hauch – ein Nichts – aber dies Nichts wiegt für sie den Inhalt eines Geldschrankes auf! – Ist sie nicht gekommen, um diesen Namen zu – erschleichen? Das ist das richtige Wort! Eine ungeheure Scham befiel sie. Sie legte eben die Hand auf die abgegriffene Geländerlehne, um weiter zu steigen; doch die Hand zuckte zurück: ich darf nicht hinauf! ich will nicht so dort erscheinen!

Und eine Furcht ergriff sie vor den großen blauen Kinderaugen Olga’s und vor den stillen verblaßten Dulderaugen Schwester Jemina’s, als wenn diese sofort erkennen würden, weßwegen sie käme.

Sie wollte umwenden und wieder hinabsteigen, man würde ihr Kommen und Gehen nicht bemerkt haben – da tönte das Klirren von Sporen die Treppe herauf. Ihr Schwiegersohn! – Welch eine Ueberraschung!

Nun, sehr einfach. er wollte, ehe er sich in den Dienst begab, den kleinen Umweg nicht scheuen, um sich nach dem Befinden des Oberstlieutenants zu erkundigen und seiner Schwiegermama am Mittag zu berichten. Eine Liebenswürdigkeit, die bei ihm fast selbstverständlich war und gar nichts Auffallendes hatte.

Aber wie sie seine hohe Gestalt ruckweise auf den Stufen vor sich aufsteigen sah, durchfuhr sie ein schneller Gedanke: kommt – kommt er auch deßwegen?!

Doch nur ein Blick in sein offenes Antlitz, nur der Klang seiner sympathischen Stimme, und gleich scheuchte sie den Gedanken fort.

„Haben Sie Nachricht? – Kommen Sie oder gehen Sie, liebe Schwiegermama?“

„Ich wollte eben hinauf, mich zu erkundigen,“ stammelte sie, noch ganz überrascht. „Der Arzt, den ich eben traf scheint durchaus nicht zufrieden.“

Der Hauptmann war stehen geblieben und sah sie bestürzt an. Es war wirklich nur der ehrlichste, aufrichtigste Ausdruck inniger Theilnahme, nichts weiter!

Aber gerade dieser Ausdruck war es, der von Neuem den Dämon in ihr erweckte. wenn es dennoch nicht zu spät wäre! Wenn der Zufall dieses Zusammentreffens ein Fingerzeig wäre, daß dennoch Alles versucht werden müßte, den Namen zu retten! Was ließ sich vielleicht nicht durch Mitleid und Theilnahme und die Gunst der Stunde erreichen …

Und sie stiegen gemeinsam die Treppe hinan.




16.0 Herr von Stachvogel.

Wie war doch Alles geschehen?

Er hatte nicht mit eintreten und nur an der Thür nachfragen wollen, wie es stehe, aber seine Schwiegermutter bat ihn, „einen Moment“ zu warten, sie käme selbst gleich wieder mit.

Der Kranke lag in der großen Stube. Man hatte ihn auf Geheiß des Doktors aus dem dumpfen Alkoven nach dem luftigen Raum herübergebettet. Während Frau Belzig dort eintrat, um selbst nach dem Kranken zu sehen, war Eff in der Nebenstube am Fenster stehen geblieben und schaute in das Schneegestöber hinaus.

Er hörte von der nahen Küche her Olga’s trippelnden Schritt und die vorsichtige Hantirung mit den Geschirren. Aus der halbgeöffneten Thür des Krankenzimmers kamen unregelmäßig an- und abschwellende Athemzüge, dazu ein unterbrochenes Flüstern.

Frau Belzig’s kräftige Stimme hatte Mühe, sich mit dem Zwang des Flüstertones abzufinden. Walther unterschied einzelne Worte, es war von Olga die Rede. Gewiß eine Andeutung, daß der Kranke sich des Kindes wegen keine Sorgen machen solle. Wieder wurde es still – dann war es Walther, als käme sein eigener Name von dort hergehuscht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_356.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)