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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


die starke Lanze der Gerechtigkeit wird an ihr zersplittern, ohne sie zu verwunden!‘“

Kordula erhob sich; ihre Glieder bebten; doch suchte sie mit ungeheurer Ueberwindung ruhig zu scheinen.

„Auch die interessanteste Unterhaltung läßt mich meine Pflicht als Gast nicht vergessen, Herr Doktor; ich denke, wir kehren zur Gesellschaft zurück!“

„Warum schon jetzt?“ Und der Doktor blieb ruhig auf seinem Platze, welcher den Eingang ins Zimmer fast vollständig versperrte. „Ich glaubte bisher immer, Sie zögen sich aus Liebe zur Einsamkeit manchmal in dieses duftende Kämmerchen zurück!“

„Sagen wir lieber, ich bin zu sehr an die Einsamkeit gewöhnt, um sie ganz vermissen zu können. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie niemals aufzugeben. Freilich – hätte sie mich nicht gar so knapp gehalten, so unbarmherzig fasten lassen, wer weiß, ob ich heute mit solchem Genuß schlürfte, was die Welt mir bietet, ob ich nicht vielleicht übersättigt diese nichtigen Freuden belächeln würde, wie gewisse blasirte Herren,“ schloß sie mit leisem schelmischen Anflug.

„Jedenfalls ließ Ihnen die Einsamkeit ein eigenartiges Gepräge – ein nicht zu unterschätzender Vorzug in unserer alles abschleifenden Zeit,“ sagte Kersten langsam und nachdenklich. Mit diesen Worten hatte auch er sich erhoben und stand jetzt vor ihr, mit flammenden Augen auf sie niederblickend.

In Kordula’s Schläfen pochte es fieberhaft. „Der Blumemduft wird hier unerträglich!“ sagte sie; dann drängte sie sich fast ungestüm an ihm vorüber, dem Klange fröhlicher Menschenstimmen nach.

Seit jener Unterredung mit Kersten wollte ein geheimes Angstgefühl nicht mehr von ihr weichen; sie sah sich und ihr ganzes gewagtes Spiel von diesem Mann durchschaut – aber ihr Trotz war stärker als die Furcht, entlarvt zu werden, und mehr als je ergriff sie jede Gelegenheit, die Lust in vollen Zügen zu trinken.

Tante Renate war leicht zu täuschen; den Wechsel in der Straßentoilette wußte ihr Kordula durch neue Aufträge und bessere Preise des Kaufmannes, für den sie arbeitete, zu erklären. Die alte Dame schüttelte indessen so manches Mal sorgenvoll den Kopf über die leichtsinnige Nichte. Sie dachte dabei nicht an sich selbst, wie oft sie allein bleiben mußte, ach nein! Aber das bereitete ihr tiefe Sorge, daß das Mädchen Gefallen finden konnte an dem oberflächlichen Treiben, in dem sie auch noch fraglos die Letzte war. Denn sie konnte und wollte nicht den Worten Frau von Wolfersdorff’s glauben, die ihr immer wieder versicherte, daß ihre Nichte gefalle, unter den jungen Mädchen eine hervorragende Rolle spiele, von den Herren ausgezeichnet werde, von Einem sogar derartig, daß sie, Melly, bereits an eine Toilette für Kora’s Hochzeit denken dürfe. Es wäre das für die alte Frau eine Freude gewesen, die kaum noch in ihr umdüstertes Leben gepaßt hätte.

Stangen hatte übrigens wirklich sein Herz an Kora verloren. Das eigenartige Mädchen bezauberte ihn derart, daß er fest entschlossen war, um sie anzuhalten. Wolfersdorff, an den er sich mit dem „wie“ und „wo“ gewandt, entschloß sich wohl oder übel, mit Kordula vorher zu sprechen, und war nach dieser Unterredung wahrhaft beschämt, seiner Phantasie so freien Lauf gelassen zu haben, da das Mädchen, vor diese Entscheidung gestellt, ihre Erzählung von der Erbschaft wohl aufrecht erhalten, sie aber als eine ganz geringfügige hinstellen mußte. Er nahm vor den Kameraden freimüthig alle Schuld auf sich, und seine Klarlegung von Kordula’s Vermögensverhältnissen hatte zur Folge, daß Stangen, so verliebt er auch war, den Verhältnissen Rechnung trug und sich, wenn auch mit blutendem Herzen, zu einer anderen Schwadron seines Regimentes versetzen ließ.

Als der goldene Nimbus der Erbin zerfloß, mußte Kordula zu ihrem Schrecken bemerken, wie viel sie von ihren Triumphen diesem zuzuschreiben hatte. Zuerst nahm sie tief erbittert den Kampf mit der Nichtachtung der früheren Freunde auf. Noch war sie ja dieselbe, noch trug sie sich eben so elegant wie früher, doch vergeblich – man schien ihre so vielgepriesenen inneren wie äußeren Vorzüge nicht mehr zu sehen. Die frühere Bewunderung verwandelte sich in gleichgültige Höflichkeit, und bald schon war Kordula so weit, sich tief verletzt zurückzuziehen. Aber nun, sobald sie aus dem magnetischen Kreis herausgetreten war, kam der Rückschlag, so bitter und vernichtend, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Ihr starker Verstand begann die Genüsse der letzten Monate zu untersuchen und zu zergliedern, bei jeder einzelnen Erinnerung fragte sie sich, ob das, um was sie gelogen und getrogen, denn in der That einen Werth gehabt, und immer unerbittlicher lautete das Nein, das die innere Stimme zur Antwort gab. Es waren qualvolle Erkenntnisse, die ihr jetzt aufgingen: sie sah plötzlich ihre ganze jüngste Vergangenheit in neuem, unerträglichem Lichte. Aber dennoch – ihre Reue galt nicht so sehr dem, was sie gethan, sondern dem hohen Preis, den sie dafür hingegeben. Fast ihr ganzes kleines Kapital, den Nothpfennig für böse Tage, für Nichts verschleudert: das war’s, was ihr bittere Angst- und Reuethränen erpreßte, sie verwünschte tausendmal den frevelhaften Leichtsinn, der nicht allein sie, die Schuldige, sondern auch die hilflose Blinde jedem schlimmen Zufall preisgeben konnte!

Aber ihre kraftvolle Natur war nicht zur thatlosen Verzweiflung gemacht, sie suchte sofort nach möglicher Abhilfe. Arbeiten wollte sie, arbeiten bis zur letzten Anspannung, um das Vergeudete zurückzuschaffen. Vom frühesten Morgen bis tief in die Nacht saß sie über ihren Stickrahmen gebückt, nur die nöthigsten Besorgungen konnten sie veranlassen, die Arbeit aus der Hand zu legen oder gar auf die Straße zu gehen. Traf sie dann Einen oder den Andern aus der Gesellschaft, so sah er ihr wohl einen Moment mitleidig nach, indem er dachte, die unglückliche Liebe für Stangen wirke nicht gerade vortheilhaft auf ihr Aeußeres ein. Auch Melly theilte diese Ansicht, und da sie sich und ihren Gatten als schuldig in dieser Angelegenheit betrachtete, mied sie die alte Freundin. Das Gefühl war so unbequem, und sie wußte in der That nicht, wie sie sich Kora nach dieser Affaire gegenüber stellen sollte; denn eigentlich war diese doch alt genug, um zu wissen, daß sie in ihren Verhältnissen keinen armen Lieutenant heirathen könne.

Das unermüdliche Arbeiten wurde Kordula herzlich schwer, besonders da der Lohn nach wie vor so sehr dürftig ausfiel. Ihr heißblütiges Temperament wollte sie oft genug verleiten, die ganze Stickerei über den Haufen zu werfen, doch immer wieder strebte sie mit doppeltem Eifer vorwärts, um dann am Ende des Monats einzusehen, daß Jahrzehnte äußerster Entbehrung und angespanntesten Fleißes kaum genügen würden, das Verlorene zu ersetzen. Dennoch arbeitete sie fort, gönnte sich nicht die kleinste Erholung, und ihr Gesicht verlor wieder seine sanfte Rundung, das leise Wangenroth – sie fühlte, daß in dem Augenblick, in welchem sie ihr Ziel aus den Augen ließ, sie halt- und muthlos in sich zusammenstürzen würde, eine Beute härtester Anklagen und Vorwürfe!

So kam der Sommer ins Land. Schon begann sich Kordula an den neuen Zustand der Dinge zu gewöhnen, als plötzlich ein Schlag auf ihr Haupt niederschmetterte, der sie völlig zu Boden warf.

Eines Tages kehrte sie von einem kaum eine Viertelstunde währenden Ausgang zurück und fand Tante Renate leblos am Zimmerboden liegen. In größter Bestürzung rief sie Frau Bünger herbei, um mit deren Hilfe die alte Dame auf ihr Lager zu tragen, und während Kordula sich bemühte, diese ins Leben zurückzurufen, eilte die Aufwärterin, einen Arzt zu suchen.

Angstvoll lauschte sie auf sein Kommen. Endlich erschien er – es war Kersten. Sie zuckte bei seinem Anblick zusammen, aber die Sorge um die Tante drängte jetzt alle anderen Empfindungen zurück und mit schwer athmender Brust theilte sie ihm die Sachlage mit.

Ein blitzschneller prüfender Blick des jungen Mannes streifte sie und ihre dürftige Umgebung, dann trat er eiligst an das Lager, sich eingehend mit Frau von Velsen zu beschäftigen, die bald unter seinen Bemühungen zum Bewußtsein zurückkehrte, aber nur, um sogleich in heftige Klagen über ihr rechtes Bein auszubrechen. Nach Untersuchung desselben erkannte der Arzt, daß es einen Bruch erlitten habe bei einem Fall, den Frau von Velsen auf der blanken Diele gethan.

Kordula lehnte, nachdem sie dieses Resultat erfahren, fassungslos am Kopfende des Bettes. Angst und Entsetzen lähmten ihr völlig die Sinne. Dann aber raffte sie sich auf, um schweigend und ohne Zagen die nöthigen Handreichungen auszuführen. Sie schaffte Verbandzeug her, half dem Doktor beim Verbinden und streifte manchmal zärtlich die Wange der an Schmerz gewöhnten Frau, die, als Kersten endlich gehen konnte, wieder mit ruhiger Miene in ihren Kissen lag.

„Flicken Sie mich nur wieder zusammen, Herr Doktor,“ meinte sie zwischen Scherz und bitterem Ernst schwankend – „ich bin noch nicht abkömmlich!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 378. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_378.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)