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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

dem Wagen, nachdem er für Billette und Gepäck gesorgt, und geleitete sie weiter über den Perron bis zum Koupé, wo er sie bequem in die Kissen lehnte. Dann wandte er sich an Kordula, um erschrocken ein blasses Gesicht mit ängstlich großen Augen zu bemerken.

„Was ist Ihnen?“ fragte er rasch und besorgt, „Sie fühlen sich krank, Fräulein Kordula, gestehen Sie es nur ein!“

„Nicht doch, Doktor, aber Sie haben Billette zweiter Klasse genommen!“ klagte diese kleinlaut; „das ist eine große Vertheuerung unserer Reise.“

Er verfärbte sich leicht. Wirklich, an den Preis hatte er nicht gedacht, nur an die Bequemlichkeit der Damen. Wie schwer es sein mußte, immer nur nach dem leidigen Kostenpunkt zu fragen! Und in komischer Verlegenheit blickte er ihr abbittend in die Augen.

Beide standen sich schweigend gegenüber, und wie ein zauberhafter Bann legte es sich plötzlich über ihre Gedanken. Ein unfaßbares Etwas hob ihre Brust, bis plötzlich eine tiefe Blässe, ein Zittern über Kordula kam, die sich, schwer athmend, rasch zur Seite wandte und, da der grelle Ton der Glocke zum Einsteigen mahnte, eilig in den Wagen schlüpfte. Sie warf dort hastig ihre Gepäckstücke durch einander, welche Kersten so sorgsam aufgestapelt hatte. Sie wollte es um jeden Preis vermeiden, noch einmal den Blicken des Doktors zu begegnen, so viel Mühe er sich auch darum gab. Erst als sich der Zug in Bewegung setzte, drückte sich ihr Antlitz gegen die Scheiben, und er konnte bemerken, daß die großen grauen Augen voll Thränen standen.

So lange noch eine Spur der Wagenreihe zu sehen war, blickte der Doktor ihr nach; dann starrte er noch ein Weilchen in die Weite, bis ihm ein Bekannter auf die Schulter klopfte und er mit diesem den Heimweg antrat. In so schlechter Laune wie die nächstfolgenden Tage hatten ihn bisher weder Bekannte noch Patienten gesehen. Nichts war ihm recht – zu Hause langweilte er sich in seinen Freistunden; im Restaurant störte ihn der vermeintliche Skandal; er vermißte überall irgend etwas; es fehlte ihm an allen Ecken und Enden – bis er sich endlich nach acht Tagen klar über seinen Zustand wurde, was zur Folge hatte, daß er sich noch an demselben Abend einen Stellvertreter suchte und – nach Wiesbaden fuhr.

Kaum daß er sich am Morgen nach der Ankunft Zeit ließ, den Reisestaub abzuschütteln, dann eilte er schon die Straßen entlang bis zu einem halbversteckten Häuschen in einer bescheidenen Nebengasse, welches die Nummer trug, die er in der Kurliste aufgefunden neben: „Frau von Velsen und Fräulein Kordula Adrian aus M.“

Aus dem Flur, in welchen er getreten, konnte er gerade in einen kleinen Garten hinausblicken, in dem die Gesuchten bei einander saßen. Ein helles Roth stieg in sein ehrliches Antlitz; befangen wie noch nie drehte er am kleinen blonden Schnurrbart; dann endlich trat er entschlossen näher.

Der kräftige Schritt ließ Tante wie Nichte den Kopf emporrichten, und die letztere erhob sich mit halb ersticktem Aufschrei vom Sessel.

„Wer ist da, Kind?“ fragte die Blinde mit gespannten Zügen. Doch sie erhielt keine Antwort; denn noch starrte Kordula fassungslos, ohne Worte dem Doktor entgegen.

„Haben Sie denn gar kein ‚Willkommen‘ für mich, Kordula?“ schalt dieser, während ihm doch die helle Freude über die tiefe Ergriffenheit des Mädchens aus den Augen blitzte.

„Welche Ueberraschung!“ stammelte sie befangen, indem sie ihm mit gesenkten Augen und zitternden Knieen entgegenging.

In Kersten’s Antlitz leuchtete es immer siegesgewisser, und ohne sich viel zu bedenken, schlang er den Arm um ihre Schultern. „Wenn ich Dir nur halb so gefehlt habe, wie Du mir, Kordula, so bin ich zufrieden!“ raunte er leise, ihren Kopf zurückbiegend, um in die hartnäckig niedergeschlagenen Augen blicken zu können.

„Mit wem sprichst Du, Kora?“ forschte indessen wieder Frau von Velsen, die ihr Antlitz horchend dem Paare zuwandte.

„Mit einem, der gern Ihr Neffe werden möchte, gnädige Frau!“ antwortete im hellen Uebermuthe des Glückes statt des Mädchens Kersten. „Das heißt, wenn Kora damit einverstanden ist!“ setzte er leiser in tiefzärtlichem Ton hinzu, die Willenlose fest an seine Brust pressend. Und – sie mußte es wohl sein; denn schon nach wenigen Augenblicken fanden seine Lippen die ihren und ihre Arme schlossen sich fest um seinen Nacken.

„Ja, sie will, Tante Renate,“ klang es nach kurzem seligen Schweigen jubelnd zur Blinden hinüber, auf deren lächelndem Antlitz ein goldener Sonnenstrahl zitterte, während die Hände sich in wortlosem Gebet gefaltet hatten.




Blätter und Blüthen.


Frauentrachten im Kaukasus. Ein buntes Völkergewühl bewohnt die zwischen den beiden großen Binnenseen gelegene Hochburg des Kaukasus. Die Kaukasierinnen sind berühmt wegen ihrer Schönheit, aber dieselbe kommt nicht allen Volksstämmen in gleichem Maße zu, und wie überall in der Welt, fehlt auch hier nicht der Kontrast, und es giebt auch häßliche alte und junge Weiber genug.

Originell und glänzend sind die Frauentrachten und dabei mannigfach, denn jeder der verschiedenen Stämme wahrt seine Eigenart. Eine erfinderische Pariser Modeschneiderin, welche mit „Feenhänden“ arbeitet, wie die Herzogin in dem Scribe’schen Stück, könnte kaum einen so reichhaltigen Wechsel der Zusammenstellung und Ausschmückung schaffen, wie die Volkssitte hier im Kaukasus, welche darin die Mode überflügelt.

Die eigentlichen Tscherkessinnen, die Kabardinerinnen, tragen ein Nationalkostüm, das ganz an das ungarische Husarenkostüm erinnert. Der am meisten eigenthümliche und in die Augen fallende Kopfputz besteht aus einem fünfzehn Zentimeter hohen Cylinder, dessen Weite gerade auf den Kopf paßt und der horizontal mit einer silbernen und drei goldenen Tressen umnäht ist, von den Weibern aus feinstem Draht gewebt. Dieser Cylinder verengt sich nach oben in eine Pyramide, die aus sechs flachen Seiten aus gediegenem Metall besteht und fast zwanzig Centimeter hoch ist; die Seiten sind sehr geschmackvoll garnirt und mit Gold und schwarz eingelegt; ihre Hauptverzierung besteht in kurzen, nach unten gekehrten Dreiecken: alle Dreiecke sind mit schmaler Goldtresse eingefaßt, in der Mitte ist ein silbernes Rad mit acht Speichen als Verzierung eingravirt. Von der Spitze der Kopfbedeckung hängen feine silberne Kettchen mit silbernen Knöpfen herab; an derselben sind zwei ganz feine, lange goldene Schnüre befestigt, die in zwei silbernen und zwei goldenen kleinen Quasten endigen und vorher zusammenlaufen; der Zopf ist mit dickem weißen gedrehten Zeuge durchflochten. Ein dünner weißer, mit Blumen durchwirkter Schleier umgiebt die Kopfbedeckung und den Anzug im Ganzen. Dieser besteht aus einem langen dünnen Mannshemd mit unten sehr breit werdenden Aermeln, aus einem vorn offenen, auf der Brust zugehakten langen seidenen Kleid darüber (Beschmit); und über dieses wird ein hohes Leibchen ohne Aermel mit ganz kurzen Schößen ringsherum angezogen, das vorn auf der Brust wie ein Husarendolman verziert ist. Drei parallele Reihen ganz kleiner kugelförmiger, silberner Knöpfe gehen von oben nach unten und sind horizontal durch längliche silberne Prismas verbunden, statt der Schnüre der Husaren. Die Ecken der kurzen Schöße dieses Kleidungsstückes sind vorn mit einer Art Blumen- oder verschlungener Verzierung ausgenäht, ähnlich wie bei den Husaren-Attilas: dieselbe besteht aus Goldstickerei und Schnur.

Gewiß, malerisch und glänzend ist diese Tracht, minder glänzend bei anderen Volksstämmen. Eine kalmükische Frau trägt eine hohe Mütze mit zehn Centimeter breitem Fell von ungebornen Füllen besetzt, darüber eine viereckige Tuchmütze, mit bunter Wolle ausgenäht. Die dichtgescheitelten Haare reichen auf den Schläfen bis zu den Augen hinab; hinten sind die Haare ebenfalls gescheitelt und hängen in Zwei Zöpfen in schwarzsammetnen Futteralen herab. Ueber dem weißbaumwollenen Hemd das blaue Unterkleid, das Bruststück aus rothem Zeuge mit fünf parallelen Querstreifen aus silberner Plattschnur, darüber der Terlik aus geblümtem hellkarmoisinrothen Seidenstoff, und über diesem ein vorn offener Rock mit Aermeln, überall die beliebten Husarenschnüre.

Die Bewohnerinnen des Daghestan dagegen gehen sehr ärmlich, sogar zerlumpt gekleidet, sie legen nie das große weiße Tuch ab, das sie nach orientalischer Weise verhüllt und das sie auf der Straße und im Felde, sich abwendend bei der Begegnung mit Männern, dann auch ganz über dem Gesicht zusammenziehen.

Ueber diese Trachten und die Volkssitten der Bergbewohner, die in merkwürdiger Buntheit in dem Gebirgsstocke zwischen den beiden großen Seen heimisch sind, giebt nähere Auskunft R. von Erckert in seiner soeben erschienenen Schrift: „Der Kaukasus und seine Völker“ (Leipzig, Paul Frohberg), in welcher eine große Zahl von Textabdrücken und Lichtdrucken die Schilderung erläutert und das Bild von Land und Leuten lebendig macht. †     

Ein italienisches Künstlerheim. Der Komponist des „Troubadour“ und der „Traviata“, dessen neueste Oper „Othello“ so viel von sich sprechen macht, Giuseppe Verdi, gehört nicht zu den Musenjüngern, welche in einer Dachstube den ewigen Rhythmen lauschen, die sich durch ihre Seele bewegen: er ist einer der reichsten italienischen Künstler. Arthur Pougin giebt uns in seiner soeben erschienenen Biographie Verdi’s[1] eine anziehende Beschreibung der Villa Sant-Agata, einer prächtigen, in der Nähe von Busseto gelegenen Domaine, in welcher Verdi jeden Sommer ohne Ausnahme verweilt. Landschaftliche Reize fehlen der Gegend, wo Sant-Agata liegt; es ist eine eintönige, aber fruchtbare Ebene. Seitwärts von einer langen Pappelallee stehen zwei Trauerweiden, riesige

  1. Uebersetzt von Adolf Schulze (Leipzig, Karl Reißner).
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_383.jpg&oldid=- (Version vom 12.6.2023)