Seite:Die Gartenlaube (1887) 423.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

hier auf dem Perron aussteigen: ein scheuer Blick aus ihren dunkel umrandeten Augen über das Gedränge, als wenn sie ihn suchte – aus dem Spalier der Portiers am Ausgange schallen ihr die Namen der Hôtels in allen Tonarten entgegen – „Hôtel Ernst!“ – Es fliegt eine Freude über ihr blasses Antlitz, wie sie den Namen hört – als begrüße sie in dem galonnirten, übereifrigen Portier einen Theil von ihrem Gatten – und wie ihr das Herz schlägt, als die Nummer seiner Stube in der Thorloge genannt wird. Jetzt klopft es an der Thür – er hört deutlich ihr Beben aus diesem Klopfen – jetzt stürzt Jemand mit einem Ruf, mit einem Schrei, mit einem unbestimmbaren Laut, der aus der Tiefe des Herzens dringt, ins Zimmer …

Sonderbar, wie das Nahen uns seelisch verbundener Personen seine Vorboten in fast greifbaren Visionen auszusenden vermag!

War es ein wirkliches Anklopfen gewesen, das er nicht bloß in seinen Gedanken vernommen? Ein Rascheln von Frauengewändern hinter ihm – und dann der Schrei, der Ruf, jener unbestimmbare Laut, der aus der Tiefe des Herzens hervorbricht:

„Melitta …!“

Es ist zu viel, zu bewältigend die Plötzlichkeit dieses Wiedersehens! Da hält er sie umschlungen mit seinen Armen, immer wieder fester umschlungen; sie wiegt ihr Haupt an seiner Brust und ihre Hände umtasten seinen Nacken: hat sie ihn wirklich wieder? ist er ihr nicht verloren?

„Walther – ach Walther …“

Nichts als das Stammeln ihrer bebenden Lippen. Und ihr Blick, der durch den Flor von Thränen nach seinen Blicken fleht: was ist nur? Nicht wahr, die Liebe, die Liebe ist stärker als das Alles? Um die Mundwinkel zuckt ein Lächeln, das diese Thränen gern verscheuchen möchte. Aber es ist süßer, das Haupt stumm an seiner Brust zu wiegen und den Thränen ihren Lauf zu lassen!

Nichts als die Seligkeit dieses Wiedersehens! Alles Andere verschwindet dahinter. Und er hatte sich so belogen und betrogen! Wie hatte er gewähnt, durch sein Tifteln seine Sehnsucht ausgemerzt zu haben!

Nun faßt er ihre Hände und drängt sanft ihre Gestalt mit ausgestreckten Armen von sich ab – daß er sie betrachte, seinen trunkenen Blick an das Wunder ihrer Gegenwart gewöhne! Ihre Augen leuchten dunkler als sonst aus der Blässe ihres Antlitzes, ihr Haar umrahmt in leichter Wirrniß Stirn und Schläfen – Gott, wie schön sie ist! Waren seine Gedanken denn mit einem bösen Bann geschlagen, daß sie die Erinnerung an ihre Schönheit nicht festzuhalten vermochten? Er hat seiner Liebe den Königsmantel von den Schultern gerissen und das Diadem vom Haupte gezerrt, aber sie steht doppelt siegreich da nach dem Raub.

„Komm – o komm!“

Ein neuer Sturm ausbrechender Leidenschaft. In ihre Küsse hinein huschen Worte – er versteht sie nicht, aber begierig lauscht er dem Klang. Wie süß dieser Klang! Er hatte ihn verloren all’ die Tage durch – unter dem Zauber der Stimme wäre das Alles nicht geschehen ...

Da klopft es mit hartem Finger gegen die Thür. Es ist der ungeduldige Hausknecht, dessen erstes sanfteres Pochen man nicht vernommen. Er bringt das Gepäck der gnädigen Frau, nur ein Köfferchen und ein Plaid.

Walther scheint sich zu wundern über die Winzigkeit der Effekten, sie pflegte so anspruchsvoll zu reisen.

„Ich habe nur das Allernothwendigste zusammengerafft,“ sagte sie. „Nur fort! Nur fort!“

„Aber wie bist Du – wann bist Du …? Hast Du denn meinen Brief erhalten, Litta?“

„Was für einen Brief?“ sagte sie stutzend. „Ich habe keinen Brief von Dir erhalten. Gerade deßwegen bin ich da. Du hast mir solche Angst gemacht!“

Hilfesuchend flüchtet sie von Neuem an seine Brust.

„Gestern Nachmittag war der Oberst bei mir,“ sagte sie ruhiger, den Kopf erhebend. „Ich besann mich nicht lange – eins, zwei, drei, da bin ich!“

„Der Oberst?“ rief er überrascht. „Welch’ ein Oberst?“

„Nun, Oberst v. B. Wer sonst? Ganz erregt war er, wie Du das thun könntest! Was denn geschehen? Was Dich zu solchem Schritt vermocht? Du müßtest und müßtest das Gesuch zurücknehmen!“

Es ist das Abschiedsgesuch, ihnen dort im Korps ist es wie ein Meteor hereingeplatzt. Der alte Bärbeißer wollte es nicht gleich weiter geben: man kann den verdienstvollen Officier doch nicht so davonlaufen lassen, ohne den Versuch gemacht zu haben, ihn zu halten! Da kam er zu Melitta gerannt: was für eine Tollheit den Hauptmann überfallen? Walther konnte sich die Scene sofort vorstellen. An solche Wirkung seines Gesuches hatte er freilich nicht gedacht.

„Wie ich erschrak, Walther! Keine Nachricht von Dir! Und Du reichst, ohne mir ein Wort zu sagen, Deinen Abschied ein. Wie war das möglich? Aber keine Zeit darüber nachzudenken! Ich ahnte das. Mag es gekommen sein, wie es wolle – der Oberst sollte nicht denken, daß ich etwa nicht davon wüßte, Niemand sollte glauben können, es bestehe ein Geheimniß zwischen uns Beiden … Nein, das soll nicht! Das duld’ ich nicht!“

Trotzig fuhr sie auf bei den Worten, mit den geballten Händen zuckend, und ihre Augen blitzten ihn an.

„O, ich wüßte, ich wüßte, sagt’ ich ihm und that so, als sei der Abschied längst von uns Beiden geplant. Ein Plan, den wir Beide gemeinsam ausgeheckt. Er war ganz verblüfft. Siehst Du, dergleichen Geistesgegenwart hätte ich früher mir selbst nicht zugetraut.Ich nahm mich zusammen und er wird wohl nichts gemerkt haben! Niemand soll zwischen Dich und mich, hörst Du!“

Sie athmete schwer auf, als müßte sie sich jetzt noch von der Angst befreien, die gestern bei der Heuchelei jener Worte ihr fast das Herz zu sprengen drohte.

„Er wollte sich nicht beruhigen,“ fuhr sie nach einer Pause fort. „Du dürftest und dürftest solchen Schritt nicht thun! Und er stellte mir Alles vor, wie tüchtig Du wärst, wie unentbehrlich: welche Karrière Du vor Dir hättest. Ein Verbrechen, auf dem Gesuch zu beharren! Er setzte mir so zu: gnädige Frau, Sie dürfen und dürfen das doch nicht zugeben …!“

„Er setzte mir so zu …“ wiederholte sie und die Worte versagten ihr.

Sie sank in den Sessel, schwer und müde, wie von einer Gewalt, die stärker war als sie, dort niedergedrückt.

Ist es das? Also deßwegen ist sie gekommen? Es ist die Angst vor dem Nichts, das jenseit des Abschieds und jenseit des Namens liegt! Nicht seinetwegen ist sie da!

Er prallte einen Schritt zurück, wie vor einem unsichtbaren Schlag, der ihm drohte.

„Also deßwegen!?“ rief er erregt. „Weil der Oberst Dir so zugesetzt! Weil Du mich bereden willst, weil Du mich zwingen willst, den Schritt rückgängig zu machen …“

„Walther!“

Ein Ruf des Zornes – und sie sprang auf, als hätte sie das, was sie eben noch zu bewältigen drohte, nunmehr fortgeschleudert. Hoch stand sie, doch mit leicht gesenktem Haupt, düster runzelten sich ihre Brauen.

„Ich bin ein Weib,“ begann sie langsam nickend, „es kam so plötzlich, die Nachricht und das Drängen darauf. Und wenn ich auf Minuten schwach wurde und wirklich daran dachte, hin zu eilen um deßwillen, willst Du mich verdammen? Und wenn jetzt noch, sogar hier in Deiner Gegenwart mich eine Hoffnung berückte, daß es mir gelänge, eine andere Art der Lösung herbei zu führen … ich bin ein Weib, Walther! Aber nur Minuten der Schwäche. Sofort rafft’ ich mich auf, gestern wie ich mich soeben aufgerafft. Ich bin Dein Weib, Walther! Sechs Monate bin ich’s. Ich meinte allmählich zu lernen, aus Deinen Gedanken heraus zu denken. Ich wußte, was Dich zu solchem Schritt getrieben. Ich sah das Alles kommen. Und daß gerade nach dem Unglück mit Dicks es keinen Rückzug mehr gebe! Wohl, auch ich will den Rückzug nicht! Ich sagte es dem Oberst, daß es dabei bleiben müßte. Und ich bin gekommen, Dir zu sagen … Dich zu bitten …“

Ihre Stimme wankte, aber nach einer kurzen Stockung fuhr sie mit derselben trotzenden Festigkeit fort: „Du hast einmal hingeworfen, es wäre das Beste, Das – (als schämte sie sich, das Phantom zu nennen) Das abzulegen und nach Amerika zu fliehen. Damals schrieb ich es auf die Erregtheit jener Tage. Nun gut, Walther, ich bin gekommen, Dich daran zu erinnern. Kein Friede und kein Glück damit! Ich weiß, es würde uns das Leben vergiften! Wohlan also! Du dachtest, ich wäre ein Kind mit Spielzeuggedanken. Wohl, so wollt’ ich Dir das Gegentheil

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 423. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_423.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)