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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Weßhalb glauben Sie, daß ich mich irre?“ fuhr sie fort. „Ich bin begierig, Ihre Gründe zu hören.“

Der kleine Italiener blickte an Frau Onslow vorbei zum Fenster hinaus, wie Einer. der seine Gedanken sammeln und gut beisammen behalten will, und sagte mit einem Ausdruck tiefen Nachsinnens: „Um diese Frage zu beantworten, muß ich Ihnen eine kleine Geschichte aus meiner eigenen Erfahrung erzählen. Es ist eine alte Geschichte. Sie ereignete sich vor … vor zwanzig Jahren etwa, als ich noch ein Kind war, und Sie müssen entschuldigen, wenn ich sie vielleicht etwas unklar vortrage. Sie ist mir nicht mehr ganz deutlich im Gedächtniß, aber sie paßt auf den vorliegendett Fall. – Urtheilen Sie selbst.“

Prati sprach langsam, wie Einer, der in seinem Gedächtniß nach etwas sucht, das Jahre lang daraus verschwunden war.

„Es war in Bergamo – ich selbst bin nicht aus Bergamo, ich bin ein Mailänder, aber ich hatte Verwandte in Bergamo, die seitdem gestorben sind und die ich während der Schulferien manchmal besuchte. Was ich Ihnen erzähle, ereignete sich also in Bergamo. Dort lebten zwei Brüder, deren Familiennamen ich vergessen habe. Der älteste hieß Joseph, glaube ich, der jüngste Anselm. Diese Beiden liebten sich zärtlich und waren immer beisammen. Sonst hatten sie nicht viel Freunde, weil sie sich eben um Niemand als um sich selbst kümmerten Da wurde eines Nachts ein großer Diebstahl verübt in dem Erdgeschoß des Hauses, das die Beiden bewohnten. Der Verdacht, das Verbrechen begangen zu haben, lenkte sich auf sie. Weßhalb? Das weiß ich nicht mehr genau – aber es war ein schwerer Verdacht. Der ältere Bruder wurde nur wenig behelligt. Er konnte irgend etwas anführen, was seine Unschuld klar bewies – ein Alibi vielleicht – aber das thut nichts zur Sache. Kurz und gut, der jüngere Bruder allein wurde verhaftet und zur Untersuchung gezogen. Dabei stellte sich nun zwar heraus, daß dieser den Diebstahl wohl habe verüben können, aber weiter nichts, und da seine Vergangenheit rein war, so wollte man ihn auf einen bloßen Verdacht hin nicht verurtheilen und sprach ihn frei. Die beiden Brüder waren, wie gesagt, nicht eben beliebte gesellige Menschen, aber es waren angesehene junge Männer. Sie stammten aus guter Familie, sie waren nicht unbemittelt und hatten vornehme und reiche Verwandte. Diese nun waren stolze Leute und fühlten sich so gekränkt dadurch, daß man ihren Namen in den Zeitungen mit einem Diebstahl in Verbindung gebracht hatte, daß sie ihre Beziehungen zu den beiden Brüdern abbrachen. Am meisten litt natürlich der beargwohnte jüngere Bruder Anselm darunter, dem auch trotz des freisprechenden Urtheils persönliche Kränkungen nicht ganz erspart blieben. Er nahm sich das sehr zu Herzen und wurde schwermüthig. Da war es denn nun rührend, wie Joseph seinen kranken Bruder pflegte. Er hütete ihn wie eine Mutter ihr Kind und wich Tag und Nacht nicht von seiner Seite. Aber alle Sorgen halfen nichts. Anselm wurde kränker und kränker, und der Arzt, der ihn behandelte, fing an, für den Verstand seines Patienten zu fürchten, und sprach dies dem älteren Bruder gegenüber aus.

,Was kann ich thun?‘ fragte Joseph. – ‚Würden Sie eine Luftveränderung anempfehlen?‘

‚Das würde sicherlich nichts schaden, aber ob es viel helfen würde, das bezweifle ich. In dem Zustande, an dem sich Ihr Bruder augenblicklich befindet, wird er sein Leiden überall mit sich schleppen. Es stellen sich schon Wahnvorstellungen bei ihm ein, er glaubt sich wegen des Diebstahls verfolgt. Er bedarf der sorgfältigsten Behandlung, und seine Genesung wird auch unter den günstigsten Umständen eine sehr langsame sein, es sei denn, daß der Dieb entdeckt und Ihr Bruder dadurch vollständig zu Ehren gebracht werde.‘

,Sie meinen, das würde ihn retten?‘

,Ich bin fest davon überzeugt.‘

Darauf ereignete sich nun Folgendes: Am Abend nach dem Essen, als die beiden Brüder wie gewöhnlich allein beisammen waren, begann Joseph eine lange und verwickelte Geschichte, die mit dem Bekenntniß endete, er habe den Einbruch verübt und sei bereit, dies öffentlich zu bekennen, so daß Anselm von jedem Verdacht frei sein werde.“

„Ist es möglich!“ unterbrach Frau Onslow.

„Und wissen Sie, was Anselm darauf that?“ fuhr Prati fort. „Er fiel dem Anderen um den Hals und brach in Thränen aus und rief: ‚Mein armer Joseph, was mußt Du gelitten haben!‘ – ,Das sei Gott geklagt,‘ antwortete Joseph; ‚aber was bleibt nun zu thun?‘ – Da waren sie Beide rathlos. Endlich beschlossen sie, das gestohlene Geld heimlich zurückzuerstatten und sodann auszuwandern. Das Erstere thaten sie auch, zum Anderen kam es aber nicht, wenigstens nicht für Beide. Anselm hatte nicht zugeben wollen, daß sein Bruder sich öffentlich als Schuldigen bekenne. Was ihn gekränkt hatte, sagte er, könne doch nicht wieder gut gemacht werden – bemerken Sie dies wohl, Frau Onslow. Daß er kein Verbrecher sei, dafür zeuge seine Freisprechung, aber daß man ihn unter seinen nächsten Verwandten eines Diebstahls für fähig gehalten, das habe seine Ruhe für alle Zeiten zerstört. Morgen werde er vielleicht eines Mordes angeklagt werden. Warum nicht? Mit demselben Rechte konnte man es jedenfalls thun, mit dem man ihn des Diebstahls verdächtigt hatte. Seine Furcht, man werde ihn eines Tages unschuldiger Weise einer Missethat zeihen, wuchs immer mehr, und zuletzt wurde er geisteskrank und mußte in ein Irrenhaus gebracht werden, wo er bald darauf seinen Leiden erlag. Joseph, der sein kleines Vermögen der Pflege seines Bruders geopfert, und den die Aufregung jener bösen Zeit arbeitsunfähig gemacht hatte, verarmte. Er wanderte nach dem Tode seines Bruders aus – und seitdem hat man nichts wieder von ihm gehört.“

„Das ist eine merkwürdige Geschichte,“ sagte Frau Onslow nachdenklich. „Aber wie ist es bekannt geworden, daß der ältere Bruder der Dieb war, wenn Anselm das Geheimniß mit sich ins Grab genommen hatte?“

„Das weiß ich nicht mehr genau,“ antwortete Prati. Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Ich glaube, Joseph hatte von einem fernen Welttheile her an einen seiner Verwandten geschrieben und den Sachverhalt aufgeklärt. Sein Gewissen trieb ihn, das Andenken seines verstorbenen Bruders von jedem Makel zu befreien. Sie sehen, er war kein schlechter Mensch.“

„Erlauben Sie!“ sagte Frau Onslow, deren unverfälschte Moral nicht leicht Zugeständnisse machte. „Er mag seinem Bruder gegenüber treu gewesen sein – aber er war ein Dieb. Und ein Dieb ist und bleibt ein schlechter Mensch.“

„Sie haben ganz Recht, Frau Onslow. Aber nicht wahr? Dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. – Und Joseph hatte sein Verbrechen bitter bereut und es zu sühnen versucht. Er hatte das gestohlene Gut wieder herausgegeben, und schließlich war Niemand geschädigt als er selbst.“

„Und sein armer unschuldiger Bruder,“ unterbrach Frau Onslow.

„Ja, das ist wahr,“ sagte Prati mit einem Ton tiefer Entmuthigung. „Aber das war Joseph’s Unglück, nicht seine Schuld. Hätte er geahnt, sein Bruder könne für das von ihm begangene Verbrechen verantwortlich gemacht werden, so wäre es unterblieben. Sie werden mich vielleicht leichtfertig finden, wenn ich bekenne, daß ich eine gewisse Sympathie für den älteren Bruder fühle. Ich denke mir so, daß er kein schlechtes Herz hatte. Er war vermuthlich leichtsinnig, seine moralischen Grundsätze waren nicht von den festesten, und dann trat eine große Versuchung an ihn heran und er unterlag derselben, er strauchelte und fiel. Liebe Frau Onslow! Fallen ist traurig, ist jammervoll – aber es ist verzeihlich. Liegen bleiben ist schlimm! Und wenn Joseph sich nicht wieder ganz erheben konnte, so möchte ich ihn beinahe bemitleiden, denn er machte verzweifelte Anstrengungen, sich wieder emporzurichten.“

Prati’s sanfte Stimme war noch weicher als gewöhnlich geworden, und seine dunklen Augen schimmerten in feuchtem Glanze. Er nahm augenscheinlich lebhaften Antheil an dem Schicksale seines Joseph.

„Kannten Sie den Menschen,“ fragte Frau Onslow, „da Sie ihn so warm vertheidigen?“

„Ich vertheidige ihn nicht, ich versuche es, ihn zu erklären,“ antwortete Prati. „Ich habe ihn niemals gesehen, ich war ein Kind, als die Geschichte sich ereignete. Aber ich erinnere mich noch, daß man ihn als einen wohlthätigen, freundlichen Mann darstellte. Wenn ich vorher sagte, man solle einen gefallenen Menschen nicht unwiderruflich verurtheilen, so sprach ich im Allgemeinen.“

„Nun,“ meinte Frau Onslow, „was mich angeht, so würde ich dem Schuldigen wohl verzeihen können; aber näher treten möchte ich ihm nicht. Es giebt ehrliche Menschen, die unglücklich sind, und die stehen meinem Herzen doch näher als unglückliche Diebe. – Ein Dieb ist ein Dieb – etwas Häßliches. Davon halte ich mich lieber fern.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_490.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)