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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Nicht ich,“ sagte Frau von Rüttiger, „der bloße Gedanke daran ist mir unheimlich.“

„Dir auch, Lisbeth?“ fragte der Major etwas barsch, nachdem er eine Minute auf eine Aeußerung seiner Tochter gewartet hatte.

„Durchaus nicht, Papa – es würde mich das sehr interessiren, und ich dank’ Dir, wenn Du mich mitnehmen willst.“

„Gut!“ Er stand auf, rückte den Sessel geräuschvoll ab und schickte sich an, in sein Zimmer hinüberzugehen. Als er bereits unter der Thür war, drehte er sich noch einmal um, wirbelte den grauen Schnurrbart in die Höhe, dessen struppige Linie das starkgefärbte Gesicht gleichsam in zwei Theile schied, und sagte, während er mit dem Zeitungsblatt auf Lisbeth’s Schulter schlug, sehr nachdrücklich: „Trotzkopf!“

„Das ist gnädig abgelaufen,“ seufzte die Mutter, als er draußen war. „Lisbeth, wie konntest Du nur –“

„Entschuldige, Mama! Aber ich durfte den Vorwurf, als ob ich aus Papa’s Kasse meine Privatvergnügungen bestritte, nicht auf mir sitzen lassen. Papa weiß recht gut, daß und wie ich erwerbe, was ich für mich selbst bedarf.“

Sie hatte rasch und nicht ohne Empfindlichkeit gesprochen und wurde ein wenig roth, als die Mutter nun dicht vor ihr stand und sie ernsthaft ansah:

„Du solltest aber auch nicht vergessen, liebes Kind, wie ungern Papa Deine Beschäftigung zuläßt, und solltest ihn darin schonen. Wir Alle wissen ja, wie viel Du im Grunde über ihn vermagst, wenn Dir auch dann und wann eine seiner Bemerkungen nicht lieb ist – warum antworten? Er würde heute überhaupt schwerlich etwas gesagt haben ohne den Gedanken an die Spötteleien der Tante.“

„Das ist’s, Mama!“ rief Lisbeth sehr lebhaft. „Dieser allgegenwärtige Gedanke ist es, den ich nicht vertragen kann. Laß mich’s einmal frei heraussagen, daß ich nicht verstehe, warum Ihr Euch solche Bevormundung gefallen laßt, warum wir nicht aus diesem Hause ziehen, um in den bescheidensten vier Wänden unsere eigenen Herren zu bleiben. Was läge daran, arm zu sein, wenn man es auf eigene Weise sein dürfte! Wir schulden Niemand etwas, so viel ich weiß, auch diese Wohnung schulden wir nicht, der Onkel hat sie uns angeboten –“

„Zu sehr mäßigem Miethpreise, Lisbeth, und Du weißt, wie viel Papa auf standesmäßige Räume hält. Mein Bruder hat viele Gefälligkeiten für uns, auch die Tante –“

„Ist immer bereit zum Protegiren, ja!“ unterbrach Lisbeth. „Aber sie macht sich dafür bezahlt. Wir sollen an ihrem Theetische sitzen, wenn sie Gäste hat, sie nimmt es übel, wenn wir ausbleiben, eben so übel nimmt sie es aber, wenn wir selbst einmal bescheidene Gastfreundschaft üben wollen! Kannst Du es leugnen, Mama, daß ihr dann auf dem Gesicht geschrieben steht, wie sie Alles, was wir aus frohem, ehrlichem Gemüthe bieten, auf den Kostenpunkt taxirt und uns zu verstehen giebt, das doch lieber bleiben zu lassen, denn wir hätten es nicht dazu? Hast Du Dich nicht beinahe entschuldigt, daß Du Dich für meine Brüder hast photographiren lassen, was sie so überflüssig fand? Dies Alles drückt mir das Herz ab! Jeder Blumenstrauß, den ich nach Hause trage, läuft auf der Treppe Gefahr, durch solchen Taxator- und Vormundschaftsblick seinen Duft und Reiz einzubüßen!“

„Du übertreibst!“

„Ich übertreibe nicht und es erscheint mir empörend, daß mit dem Armen so gerechnet wird, daß ihm das einfach Menschliche, das Liebliche und Schöne nicht gegönnt sein soll, daß er nicht auch einmal verschwenden darf, wo sein Herz ihn treibt, während er freudig oder stolz auf tausend Anderes verzichtet. Und es quält mich, daß ich redliche Arbeit vor meinem Vater verleugnen soll, als sei es etwas Niedriges!“

Sie war aufgesprungen und stand rasch athmend der Mutter gegenüber, die sie traurig ansah.

„Du kannst nicht vergessen, Lisbeth, und ich kann Dir nicht helfen. In Allem, was Du klagst, liegt Wahres, und doch beschuldigst Du zu hart: Was Dir unerträgliche Bevormundung erscheint, ist auch eine Form von Theilnahme, freilich nicht immer die angenehmste, man muß aber bedenken, daß Jeder die Dinge nach seiner eigenen Anschauung auffaßt. Du selbst bist hier nicht an Deinem Platze, Kind! Ich glaubte Dir Gutes zu thun, als ich vor Jahren für Dich fast erzwang, was sich nicht zu Ende führen ließ, Dir nur den weiten Blick aufthat, der Dir jetzt Alles zu eng erscheinen läßt. Hättest Du doch Richard Ahrens’ Werbung nicht ausgeschlagen! Der junge Professor machte mir den angenehmsten Eindruck, als er uns diesen Sommer hier aufsuchte. Eine Neigung, die sich durch vier Jahre der Entfernung treu blieb, die ihn antrieb, Dir Herz und Hand zu bieten, sobald er dazu im Stande war, ist gewiß echt, und er hätte Dich in die Luft zurückgeführt, nach der Du Dich unablässig sehnst.“

„Was könnte ich Dir Anderes sagen als die Antwort, die ich ihm selbst gab, Mama? Er ist ein herziger Mensch, dem ich sehr gut bin, lieben kann ich ihn aber nicht. Ich weiß, wie treu, brav und begabt er ist; daß er sich so jung schon ehrenvolle, auskömmliche Stellung gewann, bezeugt das ja auch, aber, nimm es mir nicht übel, trotzdem er Professor genannt wird, konnte ich nichts Anderes in ihm sehen als den Studenten, den ich damals kennen lernte. Er imponirt mir nicht, wie könnte ich da geloben, er solle mein Herr sein?“ Sie unterbrach sich plötzlich und umschlang der Mutter schmächtige Gestalt mit beiden Armen. „Habe nur weiter Geduld mit mir, Liebste, Beste! Ich will ja gar nicht fort von Dir! Wenn ich auch mitunter etwas ungebärdig mit den Flügeln schlage, bei Dir fühl’ ich mich immer daheim, und, wart’ es nur ab, die Zeit kommt auch, wo ich Dir noch Freude mache, mein Mutterchen!“

„Soll die Zeit erst kommen? Kind, Du bist unser Aller Sonnenschein!“

Die Thür flog auf und zwei etwa zwölfjährige Knaben stürmten herein. Auf den ersten Blick ließ es sich erkennen, daß sie Zwillinge waren, sie glichen einander eben so sehr, wie ihr untersetzter Bau, die derb geschnittenen Züge, die vollblütige Gesichtsfarbe sie zu Abdrücken ihres Vaters stempelten. Es waren das die Nesthäkchen der Familie; schon für nächstes Jahr zum Eintritt in das Kadettenkorps angemeldet, wo zwei ältere Brüder bereits weilten, fühlten sie sich vorerst noch im Vollgenuß ziemlich unbändigen Freiheitsbewußtseins. Beide zugleich fuhren wie Blitze auf die Schwester zu und bemächtigten sich ihrer Arme.

Du mußt das machen, Lisbeth!“ rief Hans, und Kurt fiel mit lauterer Stimme ein: „Du kriegst es fertig; wenn’s bloß die Mama sagt, thut er’s nicht!“

„Ja, was denn?“ fragte Lisbeth lachend, mit vergeblichem Versuch, ihre Hände von den kleinen Klammern zu befreien.

„Schreie doch nicht so, Kurt,“ warnte Hans indessen. „Sonst kommt der Papa herein und schilt, und dann ist’s Essig! Weißt, Lisbeth,“ fuhr er mit nachdrucksvollem Flüstern fort, „wir möchten heut’ Nacht auf die Straße, den Herzogszug zu sehen; der Papa geht gewiß, mach’ Du, daß er uns mitnimmt!“

„Ja, ja, Du kriegst es fertig!“ wiederholte Kurt mit Zuversicht – „willst Du auch?“

„Wollen sehen, was sich thun läßt! Aber Barmherzigkeit, Ihr Kobolde, laßt mich los!“

Dieser Nothruf hatte guten Grund, denn jetzt hingen die Beiden an der Schwester Hals und küßten sie so stürmisch, daß ihr kaum möglich ward, das Gleichgewicht zu bewahren.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Theodor Storm. (Mit Portrait S. 597.) In die wenig erfreuliche litterarische Gegenwart, deren unklare Strömungen ohne sichere Ziele durch einander treiben, reicht das künstlerische Schaffen von ein paar Männern älterer Schule herzerquickend hinein. Zu diesen gehört in erster Linie Hans Theodor Woldsee Storm, dessen 70. Geburtstag in dieser Zeit ein weiter Verehrerkreis mit ihm feiert.

Geboren am 14. September 1817 zu Husum an der Westküste von Schleswig, aus wohlhabender, weitverzweigter, angesehener Familie stammend, wurde Storm wie sein Vater Jurist (in Kiel und Berlin) und ließ sich in der noch dänischen Vaterstadt als Advokat nieder. Aber seine deutsche Gesinnung machte seine Stellung dort unhaltbar, so ging er 1853 nach Preußen, wurde in Potsdam Gerichtsassessor, dann 1856 in Heiligenstadt Kreisrichter, bis ihn 1864 die vom dänischen Joche befreite Vaterstadt als Landvogt zurückrief. Nach der Gerichtsreorganisation von 1867 blieb er Amtsrichter und lebt seit 1880 als pensionirter Amtsgerichtsrath auf seiner ländlichen Besitzung in Hademarschen. Seine überaus glückliche erste Ehe mit einer Verwandten zerstörte der Tod kurz nach der Rückkehr – ein Kindbettfieber raffte die Gattin hinweg; eine spätere zweite Ehe gab den Kindern wieder eine Mutter und dem Dichter eine sympathische Lebensgefährtin und Pflegerin.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 610. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_610.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2023)