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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wirkliche Tenore und Bässe sangen, waren ihm bis jetzt verschlossen. Dennoch überwand Gluck diese Schwierigkeiten. In dem Livorneser Calzabigi fand er einen Dichter, der auf seine Ideen einzugehen vermochte, und so entstand denn, mit der vorher klug eingeholten Billigung Metastasio’s, Gluck’s erste und wirkliche Reform-Oper „Orfeo ed Euridice“, die er mit kühnem Muthe als „Dramma per Musica“ bezeichnete.

Gluck’s Denkmal in Weidenwang.

Am 5. Oktober 1762 erlebte dieser „Orfeo“ seine erste Aufführung im Theater der Hofburg zu Wien, und die ungeheure Ueberraschung, das fast zürnende Staunen, welche das Werk in seiner durchaus neuen Form an den ersten Abenden erregte, wandelten sich nach und nach in Bewunderung, Entzücken und weithin tönenden Beifall. Die Oper erschien als Partitur bereits 1764 in Paris, 13 Jahre früher, als das Werk selbst auf der dortigen Opernbühne. Favart, der bekannte Bühnendichter, besorgte die Herstellung, welche eine Prachtausgabe genannt werden darf und heute zu den größten Seltenheiten gehört. Zwei berühmte Künstler, der Maler Monnet und der Kupferstecher Le Mire, lieferten dazu eine blattgroße Vignette, die auf der ersten Seite dieser Nummer in verkleinertem Maßstabe unsern Lesern vorgeführt wird: ein Dokument der Operngeschichte. Sie stellt die Scene am Schluß des 2. Aktes in den Gefilden der Seligen dar, wo Eurydice ihrem Gatten wiedergegeben wird und dieser sie, nach Amor’s Gebot, mit abgewendetem Antlitz, unter den Gesängen der Seligen: „Amor giebt sie dir wieder!“ auf die Oberwelt zurückführt. Gluck hatte von seinem Dichter wirkliche dramatische Situationen und Verse erhalten und seinen Orpheus, den Kastraten Guadagni, dahingebracht, allen Schnörkeleien und Trillern zu entsagen und sich für die schlichten, aber seelenvollen und dramatisch wirksamen Gesänge der Hauptrolle zu begeistern. Der kühne Versuch war gelungen, die alte italienische Oper in ihrem eigenen Reich durch den feurigen deutschen Meister besiegt und die wirkliche Reform der Oper eine nicht mehr zu beseitigende Thatsache geworden.

Eine auffallende, sogar höchst merkwürdige Erscheinung, die uns beweist, daß die drei Reformatoren der Oper zum Theil mit ganz entgegengesetzten Mitteln ihr künstlerisches Ziel erstrebten und auch erreichten, tritt hier zu Tage.

Peri, der Schöpfer des ersten gesungenen Dramas, bewirkte seine folgewichtige Neuerung dadurch, daß er den mehrstimmigen Gesang zu Gunsten des Einzelgesangs gleichsam verbannte, wodurch auch für die Folge der Chor in der italienischen Oper entweder gar nicht oder nur in untergeordneter Weise thätig war. Gluck’s Reform bestand mit darin, daß er den Chor, der einundeinhalbes Jahrhundert vernachlässigt gewesen, wieder in die Oper einführte und ihm einen bedeutenden Antheil an der Handlung zuerkannte. Hundert Jahre später ist es der neueste Reformator der Oper, Richard Wagner, der in seinem Hauptwerk: „Der Ring des Nibelungen“ den Chor abermals von der Bühne verbannt und nur die Monodie gelten läßt. (Daß die „Götterdämmerung“ Chöre enthält, ist hier nicht maßgebend, da dieser letzte Theil der Tetralogie zuerst entstand. Vor mir liegt ein Brief Richard Wagner’s vom Jahre 1851, der darthut, daß schon damals „Siegfried’s Tod“ bühnenreif gewesen sein muß, indem der Meister die Aufführung dieses Werkes nicht eher gestatten will, bis er vorher ein heiteres Musikdrama „Der junge Siegfried“ fertiggestellt habe, was bis zum Juli 1852 geschehen sein sollte.)

Gluck’s Geburtshaus in Weidenwang.

Fünf Jahre dauerte es, bis Gluck sein zweites Hauptwerk: „Alceste“ zur Aufführung brachte (am 5. December 1767 und ebenfalls in Wien), in welchem er seine kühnen Neuerungen noch schärfer hervortreten ließ. Bekannt ist, daß er diese Oper in Form einer Zuschrift, die sein künstlerisches Glaubensbekenntniß bildete, dem Großherzog von Toscana widmete, und wiederum vergingen sieben Jahre, bis es ihm endlich vergönnt war, dasselbe durch die Aufführung seiner „Iphigenie in Aulis“, am 19. April 1774 in Paris, in möglichster Vollständigkeit verwirklicht zu sehen. Von diesem Zeitpunkt datirt die weittragende Wirkung der Opernreform des bereits sechzig Jahre alt gewordenen Meisters: einer Reform, deren Einfluß sich fortan kein Bühnenkomponist mehr entziehen konnte. – Am 15. November sind hundert Jahre verflossen, seit unser großer deutscher Tonmeister Gluck, der Reformator der Oper, in Wien aus dem Leben schied, doch – „in seinen Werken lebt er fort!“ Dies oft citirte Wort klingt schön, doch noch schöner wäre es, wenn die deutschen Opernbühnen es zur Wahrheit werden ließen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 765. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_765.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)