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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888)

doch das Talent von Voß hat etwas so leidenschaftlich Hinreißendes, daß wir bei einer Darstellung des Stückes auf der Bühne gleichsam in seinem Banne gehalten werden und die Hauptscenen mächtig aus uns wirken lassen.

Auch unsere Romanschriftsteller streben nach dem dramatischen Lorbeer, der aber für ihre Darstellungsweise schwerer erreichbar ist. Friedrich Spielhagen hat mit seinem neuesten Stück „Die Philosophin“ einen geistreichen Essay in dramatischer Form geliefert, aber trotz einzelner für den Autor als solchen ehrenvoller Erfolge die Bühnen damit nicht erobern können. Die Heldin Friederike ist eine Philosophin, die sich gegen die Bestimmung des Weibes ketzerisch auflehnt; natürlich wird sie wie ihre stolze Vorgängerin Donna Diana zuletzt von der Liebe besiegt – die jedenfalls gelungenste Scene des Stückes, welches Vorzüge der Charakterzeichnung und des Dialogs besitzt, aber, wenn sich auch die Handlung im dritten und vierten Akt steigert, doch nicht den rechten dramatischen Guß und Fluß gewinnt. Es ist bedauerlich, daß soviele nichtssagende Autoren sich auf das dramatische und theatralische Metier verstehen und mit ihrer handwerksmäßigen Fertigkeit Erfolge erringen, während manche geistreiche und hochbegabte Schriftsteller daran scheitern, daß sie der dramatischen Technik nicht ihre großen und kleinen Geheimnisse abzulauschen verstehen.

Dem auf den Höhen moderner Bildung sich bewegenden Salonstück Spielhagens steht kontrastirend ein Volksstück wie Ludwig Anzengrubers „Stahl und Stein“ gegenüber. Dies Stück ist an dem Wiener Hofburgtheater mit Erfolg gegeben worden, die Erfindung ist scharf zugespitzt, die Ausführung kräftig und energisch. Die Volksbühne Anzengrubers liebt hochtragische Konflikte; die versöhnlichen Abschlüsse der oberbayerischen Bauernstücke liegen ihr fern. Der Held des Stückes, Eisner, ist Bürgermeister des Dorfes geworden. In seiner Jugend hat er ein wüstes Leben geführt und manche Schuld auf sich geladen. So hat er ein Mädchen verführt und dann den Sohn, welcher eine Frucht des Verhältnisses war, dem Elend preisgegeben. Dafür verfolgte ihn selbst häusliches Unglück, seine Frau brachte ihm keinen Segen ins Haus; es fehlte Ruhe und Frieden; seine drei Söhne starben ihm. Nun verfolgt er eine fromme Richtung und waltet seines Amtes mit unerbittlicher Strenge. Da macht das Schicksal aus ihm einen unfreiwilligen Brutus. In den Nachbarbergen wohnt ein einsamer junger Mann, der jede Auskunft über sich verweigert. Der Ortsvorsteher ist verpflichtet, ihn zur Rede zu stellen, und als der Fremde verharrt in wildtrotzigem Wesen, schickt der Bürgermeister Gendarmen ab, um ihn zu verhaften. Es kommt zum Kampf zwischen ihnen und dem Einsamen, der den einen erschießt, von dem andern aber selbst tödlich verwundet wird.

Nun folgt die ergreifende Wiedererkennungsscene; es ist Eisners Sohn, der ihm sterbend gebracht wird, nach dem er Jahre lang vergebens gesucht hat, um seine alte Schuld zu sühnen. Der Sohn hat wegen Todtschlags im Zuchthause gesessen; er hat einen erschlagen, der seine Mutter beschimpft hatte. Die Scene ist von ergreifender Innerlichkeit, schlaghaft und packend; freilich ist in ihr auch der ganze Extrakt der dramatischen Handlung zu suchen, die sich sonst vielfach in Erzählungen der Vorgeschichte verflüchtigt. Dem Drama liegt eben eine Erzählung unseres Autors zu Grunde und diese Herkunft verleugnet sich nicht so leicht.

Charakteristisch für diese Saison ist die Geltung, zu welcher die Lutherfestspiele gekommen sind. Abgesehen von Wilhelm Henzens Lutherdrama, welches sich den Anforderungen unseres Bühnenwesens anschmiegt, haben wir drei Festspiele, die aus dem Rahmen des Theaters herausgewachsen sind, nicht von Schauspielern, sondern von Studenten und anderen Mitwirkenden dargestellt werden und zu einer primitiven Form der Bühne zurückkehren: einen „Luther“ von Hans Herrig, der in Leipzig und Dresden mit Erfolg gegeben, einen andern von Otto Devrient, der in Jena zur Aufführung gekommen ist, und einen von Trümpelmann, der zuerst in Torgau und neuerdings in Berlin aufgeführt wurde. Das Streben nach einer Volksbühne ist für gewisse festliche Zwecke und nationale Schaustellungen gewiß nicht unberechtigt, doch darf dem darstellenden Dilettantismus nicht ein zu breiter Raum anheimgegeben werden.

Jede Saison hat ein paar Lustspiele, die sich fröhlich im Lichte der Prosceniumslampen tummeln, viel beklatscht und viel belacht werden und nach kurzer Daseinsfreude in den Theaterarchiven verschwinden. Selten findet sich ein glücklicher Treffer, der für Jahrzehnte ausreicht. In der letzten Saison hat die Firma Franz von Schoenthan und Kadelburg, die bereits mit den „Goldfischen“ die Bühnen erobert, ein Lustspiel „Die berühmte Frau“ verfaßt, welches zuerst am Deutschen Theater in Berlin mit Erfolg gegeben wurde und dann seinen Weg über die deutschen Bühnen machte. Schade, daß „die berühmte Frau“ selbst zu wenig im Mittelpunkte des Lustspiels steht; die bekannte Satire Schillers mag die erste Anregung zu dem Stücke gegeben haben, aber man erwartet vergebens, ein Charaktergemälde darin zu finden, welches die Schillerschen satirischen Pfeile in einem dramatischen Köcher sammelt. Die berühmte Frau weilt in Italien; indeß herrscht in ihrem Hause eine kunterbunte Wirthschaft. Der Gatte geht einem Liebesabenteuer mit einer Schauspielerin nach, die Töchter haben auch ihre Liebeshändel; wie da ein Freund der berühmten Frau Ordnung schafft, selbst das Herz der einen Tochter gewinnt, die Mutter zur Rückkehr bewegt, das wird uns in einer Reihe lebendiger Scenen vorgeführt. Die berühmte Frau behandelt den unberühmten Gatten mit vernichtender Ironie; und man ist vollständig davon überzeugt, daß, wenn sie ihm vorschlägt, jeder möge seine eigenen Wege gehn, dies das einzig Richtige, ja Mögliche ist. Doch da muß noch ein Ausgleich zur Befriedigung des Publikums gesucht werden, das solche Dissonanzen nicht verträgt, und damit geht die Lebenswahrheit in die Brüche.

Ein anderes Lustspiel. „Auf glatter Bahn“ von Heinrich Heinemann kam im Berliner Schauspielhause mit Erfolg zur Aufführung und machte auch seitdem die Runde über die deutschen Bühnen. Der Verfasser ist ein tüchtiger Theaterpraktiker und weiß die effektvollen Lichter zur rechten Zeit aufzusetzen, die packenden Scenen an die rechte Stelle zu rücken. Die Voraussetzung der Lustspielhandlung ist ein pikanter Skandalprozeß, in welchem ein Graf Marberg als Zeuge vorgeladen wird. Diese Vorladung trifft ihn gerade zur Zeit, als er mit seiner jungen Frau die Hochzeitsreise nach Paris antreten will. Um welchen Skandal es sich eigentlich handelt, das erfahren wir nicht. Die Thatsache genügt, daß Graf Marberg da in eine sehr mißliche Angelegenheit mitverwickelt ist. Seine ganze Sorge ist, daß seine Frau nichts davon erfährt; er setzt es daher durch, daß er in den Zeitungen nur als der Zeuge M. erwähnt wird. Doch gerade für diesen Zeugen, der die pikantesten Aussagen macht, interessant sich seine Frau; es bleibt ihm nichts übrig, als einen alten Universitätskameraden Müller zu bitten, daß er sich für den Zeugen ausgiebt. Die Scene, in welcher das bemooste Haupt sich zu diesem Freundschaftsdienste entschließt, ist die ergötzlichste des Stückes. Doch Müller wird dadurch in Konflikte mit der Familie seiner eigenen Braut verwickelt und platzt schließlich mit der Wahrheit heraus. Dadurch geräth der Graf in eine Verlegenheit, welche durch eine gewandte Vermittlerin beseitigt wird. Das Stück trägt keine schriftstellerisch bedeutende Physiognomie zur Schau, aber es amüsirt durch ein paar ergötzliche Auftritte und das große Bühnenpublikum begnügt sich mit solcher geistig frugalen Kost.

Ein Fastnachtsschwank, der vorzugsweise in Malerateliers spielt, ist „Die Amazone“ von G. v. Moser, dessen Produktion sich aber nicht in aufsteigender Linie bewegt, denn die Verkleidungsscenen dieses Stückes gehören einer wohlfeilen grotesken Komik an und man muß sich schon in einer Karnevalslaune befinden, um das Derbe und Scharfgewürzte vieler Scenen genießbar zu finden.

Eine große Zahl von neuen Lustspielen, die wir hier nicht weiter erwähnen wollen, überlebte einen oder mehrere Theaterabende nicht; doch zu allen Zeiten war ja solcher dramatische Unterhaltungsstoff für das alltägliche Repertoire ein Bedürfniß und auch die Musterbühnen konnten ihn nicht entbehren.

Rudolf v. Gottschall.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1888). Leipzig: Ernst Keil, 1888, Seite 571. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1888)_571.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2020)