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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Kronprinz Rudolf von Oesterreich †.

Ein vereinsamter Kaiser sitzt in der Hofburg zu Wien! Sein einziger Sohn ist gestorben, im Beginne des Mannesalters, die Hoffnung des Vaters, die verkörperte Zukunft eines mächtigen Reiches. Und nicht nur in blühender Jugend dahingerafft, sondern gefallen von der eigenen Hand, freiwillig aus einem Dasein gegangen, das für ihn die Fülle irdischer Größe und irdischen Glanzes aufzusparen schien. Die Geschichte wird noch in spätesten Tagen dieses grauenhafte Ereigniß mit düsteren Lettern verzeichnen. Und alle neuen Enthüllungen tragen nur dazu bei, das Trauerspiel, davon wir schaudernd Zeuge geworden, uns ergreifender und zugleich befremdender erscheinen zu lassen. Mag jetzt das letzte Wort des Räthsels gesprochen sein, mögen sich die Motive errathen lassen, die zu der Schreckensthat führten: es bleibt doch noch ein unerklärter Rest übrig, jene Verkettung der Gefühle, die auf den Erben eines großen Thrones und Reiches eine so zwingende Gewalt auszuüben vermochten, daß er auf eine große Zukunft, eine hohe Sendung verzichtete und den Tod suchte. Die Tragödie von Meyerling wird noch lange die Gemüther der Menschen mit wechselnden Empfindungen bestürmen und hat die Zeit beruhigend und mildernd gewirkt, so werden die Blicke mit stiller Wehmuth auf dem Grab eines so früh geschiedenen, verheißungsvollen Fürstensohnes ruhen.

Während der vierzig Regierungsjahre, deren Abschluß Kaiser Franz Joseph I. am 2. Dezember 1888 beging, hat Oesterreich Gutes und Schlimmes in reichem Maße durchgemacht. Es hat getrauert und hat Feste gefeiert; es hat gejubelt und hat geweint; es hat muthlos die Arme sinken lassen und hat mit Zuversicht des Kommenden geharrt. Aber noch nie – das ist nicht zuviel gesagt – waren alle Schichten der Bevölkerung in ihrem rein menschlichen Empfinden so tief aufgewühlt, noch nie so ganz erfüllt von namenlosem Leid wie an dem unvergeßlichen 30. Januar 1889, an welchem Kronprinz Erzherzog Rudolf auf seinem Jagdschlosse Meyerling bei Baden als Leichnam aufgefunden wurde. Und besonders Wien, die Geburtsstadt Rudolfs – am 21. August des Jahres 1858 erblickte er hier das Licht der Welt – trug eine Stimmung zur Schau, die selbst in den bösesten Tagen der Monarchie nicht zum Durchbruche kam. Keine Schilderung vermag darzustellen, welche Physiognomie die Kaiserstadt an diesem 30. Januar zeigte. Gegen mittag verbreiteten sich die ersten Gerüchte über einen Jagdunfall, welcher den Prinzen betroffen habe; sie drangen immer weiter, wurden immer lauter, nahmen immer abenteuerlichere Formen an, aber so viel stand endlich fest: der Kronprinz war todt. Ganz Wien schrie verzweifelt wie unter einer schweren Verwundung auf. Als an der Börse die Schreckensnachricht amtlich kundgemacht wurde, fielen starke Männer in Ohnmacht. Oeffentliche Persönlichkeiten, von denen man voraussetzte, daß sie Näheres mittheilen konnten, wurden auf offener Straße von ihnen fremden Leuten angehalten und um Auskunft gebeten. Als die Sonderausgaben der Zeitungen erschienen, wurden die Verkaufsstellen förmlich belagert; man jagte ungestüm nach den Blättern, man las sie inmitten dichtgedrängter Gruppen vor; wer eines in Händen trug, mußte achthaben, damit es ihm nicht entrissen wurde; die Kolportage ist in Oesterreich gesetzlich verboten; diesmal wurden in allen Straßen und Gassen Blätter kolportirt, die Behörde machte keine Miene, sich hindernd einzumengen.

Verordnungen, Gewohnheiten traten zurück vor der Uebermacht eines allgemeinen Unglückes. Der cisleithanische Ministerpräsident, Graf v. Taaffe, wurde aus dem Abgeordnetenhause in die Hofburg beschieden, um von dem Kaiser, dessen Jugendfreund er ist und der ihn in vertrauten Stunden duzt, das Ungeheuerliche zu erfahren. Als er, halb von Sinnen, die Hofburg verließ, flog er ohne Hut und Ueberrock die Treppe hinab und kam so ins Abgeordnetenhaus zurück. Allenthalben sah man schluchzende, die Hände ringende Menschen. Je nach ihrem Temperament gestikulirten die einen, wie um sich Luft zu machen, die andern schlichen gebeugt dahin. Auch wer nicht ahnte, was sich zugetragen, mußte rasch erkennen, daß etwas Außerordentliches vorgehe … In solchen Zügen spricht sich deutlicher als sonstwie die echte Theilnahme einer Bevölkerung aus. Ein kleiner Kreis mag aus Eigensucht oder Wohldienerei eine Trauer heucheln; die Bevölkerung einer Stadt bekundet nur, was sie wirklich im Innersten fühlt.

Kronprinz Rudolf war als echtes Kind seiner Zeit eine zu vielseitige Persönlichkeit, als daß es jemand gelingen könnte, mit wenigen Strichen sein Bildniß zu fertigen – gelingen zumal der Hand eines Oesterreichers, die noch unter dem ersten Eindrucke des Trauerspieles von Meyerling zittert. Erzherzog Rudolf war keine jener kleinen Prinzennaturen, die sich darin auszugeben vermögen, die Würde ihrer Stellung repräsentativ zu vertreten. Auch keine Liebhaberei genügte ihm. Im Genießen wie im Wirken griff er nach allen Seiten aus. Als Knabe schon legte er die Eigenschaft an den Tag, sich ein möglichst ausgedehntes Gebiet des Wissens zu erobern und sich durch nichts Einzelnes von dem Ganzen abwendig machen zu lassen. Als er vierzehn Jahre alt war, machte er die Prüfung aus der ungarischen Geschichte in ungarischer Sprache, mit sechzehn Jahren jene in der Geschichte Böhmens in böhmischer Sprache. Damals konnte einer seiner Lehrer in einer öffentlichen Darlegung betonen, daß der Prinz besondere Neigung für Naturwissenschaften, Weltgeschichte und Kunstgeschichte hege. Den Naturwissenschaften ist er bis an seinen Tod treu geblieben, sie gaben nicht nur seiner Bildung die entscheidende Richtung, sondern sie mußten begreiflicherweise das Gesammte seiner Weltanschauung beeinflussen.

Ein Kronprinz, der mit einem Manne wie Brehm auf dem Fuße des freundschaftlichen Forschungsgenossen steht, nöthigt uns von vornherein, auf seine Zukunft als Regent Schlüsse zu ziehen, welche sich aus einer naturwissenschaftlichen Quelle wie von selbst ergeben. Er beobachtete mit ganz besonderer Vorliebe die Thierwelt, in erster Linie die Vögel, aber er that dies, während er als Jäger dem Weidwerk oblag. Er studierte, die Büchse auf der Schulter. So lösten sich Gegensätze in seinem Wesen gefällig auf. Einseitigkeit lag ihm ferne. Seine Fertigkeit in jeder ritterlichen Uebung verhinderte ihn nicht, hervorragende Erscheinungen der Litteratur mit eifriger Beflissenheit zu verfolgen; er schrieb ein elegantes klares Deutsch, aber er kutschirte auch mit großer Gewandtheit seinen Phaëton; er verkehrte gern mit Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern, aber er begriff, daß er als zukünftiger Kriegsherr einer großen Armee militärische Pflichten habe, nahm deshalb seine soldatischen Geschäfte ernst und entsprach mit Hingebung der ihm vor etwa einem Jahre verliehenen Stellung als Generalinspektor der Infanterie; er vergaß nie, daß er als Kronprinz seine Individualität nicht vordrängen dürfe, aber so oft er im Auftrage des Kaisers das Wort zu ergreifen hatte, offenbarte er sein starkes Rednertalent, das ihm ermöglichte, mit scharf ausgefeilten, prägnanten Sätzen die Hörer merklich zu bewegen. –

Litterarisch bethätigte er sich zuerst als Mitarbeiter an Brehms „Thierleben“, für das er über mehrere Raubvögelarten und über den Rackelhahn schrieb. Brehm begleitete ihn auf mehreren Jagdausflügen und wissenschaftlichen Fahrten.[1] Aus dem nebenher zu einem fremden Werke beitragenden wurde ein selbständiger Schriftsteller, die Ausflüge wurden zu Reisen. In drei Büchern: „Fünfzehn Tage auf der Donau“, „Eine Orientreise“ und einem Bande „Jagdbeobachtungen“, setzte sich der Kronprinz mit der Lesewelt in direkte Verbindung. Seine Werke hätten auch dann Anerkennung gefunden, wäre nicht der Sohn des Kaisers von Oesterreich ihr Verfasser gewesen. Feine Beobachtung und anschauliche, temperamentvolle Darstellung, getragen von tiefgesättigtem Wissen, heben seine Schriften hoch über die Gewöhnlichkeit empor. Im Jahre 1885 gründete er das Lieferungswerk „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, das, auf fünfzehn Bände angelegt, zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum des Kaisers – Dezember 1898 – vollendet sein sollte.

In zwei Sprachen, deutsch und ungarisch, erscheinend, steht es unter der Redaktion von Joseph v. Weilen für die deutsche, Moritz Jokai für die ungarische Ausgabe. Die oberste Leitung führte der Kronprinz, der sich um diese seine Lieblingsschöpfung bis in die geringsten Einzelheiten bekümmerte. Das Weitererscheinen des Werkes ist bereits gesichert. Diese Thatsache darf freudig begrüßt werden, denn in dem schönen Unternehmen haben die besten Geister des Reiches ein Stelldichein gefunden; eine stattliche Schar tüchtiger Künstler konnte in dem illustrativen Theile ihre Fähigkeiten bekunden, und vor allem reizt zu dauernder Pflege der Grundgedanke, der dem Kronprinzen vorgeschwebt: die


  1. Vergl. „Adlerjagden des Kronprinzen Rudolf von Oesterreich“ (aus dem Nachlasse von A. E. Brehm) im Jahrgange 1887 der „Gartenlaube“.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_124.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)