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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

angenehmer Schreck durch die Adern rann. Sie hatte sich schon oft ausgemalt, in welche Entrüstung sie gerathen würde, wenn dieser gefährliche Don Juan es etwa wagen sollte, sich ihr bedeutungsvoll zu nähern. Und dieses Lächeln eben war ganz entschieden ein verfängliches gewesen. Ach, sie wünschte so sehr, sich einmal sittlich entrüsten zu dürfen!

Aber für jetzt fand sie eine ganz andere als die ersehnte Gelegenheit dazu, denn Alfred sagte:

„Wir haben uns erst heute mittag entschlossen.“

„Wir?“ fragten beide Frauen aus einem Munde.

„Gerda und ich,“ sagte Alfred. Er sagte es wider seinen Willen und doch nicht gedankenlos. Es giebt Augenblicke, wo der Verstand das Wort, das von den Lippen geht, zurückhalten will, tadelt, ja verdammt, und wo eine unberechenbare, sekundenschnelle Regung doch den Mund zwingt, zu sprechen.

„Gerda – das ist Baronin Offingen? Also man darf doch gratuliren?“ fragte Frau Mietze.

„Demnächst offiziell, so lange bitte ich Sie, es als vertrauliche Freundesäußerung zu bewahren,“ sagte Alfred, über sich selbst ärgerlich dem erstaunten Auge Marbods ausweichend.

„Und Sie reisen zusammen? Und die Nacht durch? Wie merkwürdig!“ sprach die Doktorin Schneider, indem sie ihren Gatten durch einen Blick fragte, ob sich das schicke.

„Lieber Herr von Haumond,“ begann Frau Mietze mit mütterlich nachsichtigem Ton, „erlauben Sie mir, daß ich Sie auf etwas aufmerksam mache: eine der ersten Anstandsregeln im Verkehr zwischen Brautleuten ist, daß sie nicht zusammen reisen. Als Ludolf und ich ein Brautpaar waren, durften wir keine halbe Stunde weit allein auf der Eisenbahn fahren.“

„Ich könnte Ihnen mit der Königin in ‚Don Carlos‘ antworten: ‚Bloß Zwang bewacht die Frauen Spaniens? Schützt sie ein Zeuge mehr als ihre Tugend?‘ Was die Frau Baronin von Offingen anbetrifft,“ sagte Alfred mit beißendem Spott, „so ist sie eine Dame aus der großen Welt und giebt sich selbst die Gesetze, nach denen zu handeln sie für gut findet. Zu Ihrer Beruhigung jedoch, meine theuerste Gönnerin, kann ich Ihnen mittheilen, daß uns ein ganzer Apparat von Begleitung: eine Tante, ein Kind, zwei Domestiken, umgeben wird. Ich denke, die ‚Tante‘ muß doch etwas sehr Beschwichtigendes für Sie haben.“

„Einerlei,“ beharrte sie eigensinnig. „Die böse Welt weiß die Details so nicht und bes-pricht es dann doch nachher im schlimmen Sinn. Das Ungewöhnliche muß man immer vermeiden.“

„Sind Sie auch der Meinung, meine Gnädigste?“ fragte Alfred die Doktorin Schneider.

„Gott,“ sagte diese mit ihrem jugendlichsten Lächeln, „ich darf mir eigentlich gar kein Urtheil erlauben. Wissen Sie, ich habe so furchtbar jung geheirathet, daß ich eigentlich nichts vom Leben kennen lernte. Männe, was meinst Du?“

Auf diesen Zärtlichkeitsanruf antwortete Herr Doktor Schneider:

„Im Geleise bleiben! Immer im Geleise bleiben!“

„Ganz entschieden, ganz entschieden!“ bekräftigte Ravenswann, indem er Alfred das Glas vollgoß, sozusagen, um durch diese kleine Aufmerksamkeit anzudeuten, daß sein Wohlwollen als Wirth dem Gast gegenüber trotz der Meinungsverschiedenheit das lebhafteste sei.

„Gewiß,“ sprach Alfred, sich besonders an die Damen wendend, „gewiß ist es bequemer, wenn die Ereignisse des Lebens alle in dem Geleise sanft einherfahren, das durch den Gebrauch ausgeglättet ist. Wenn Herr Schulze durch Herrn und Frau Lehmann dem Fräulein Müller vorgestellt wird, und aus dieser Bekanntschaft entspringt eine so korrekte Verbindung, daß selbst die ganze, sonst sehr eigene Familie Meier nichts daran zu tadeln findet, dann ist das sicherlich eine sehr nette Sache. Aber sehen Sie, meine Damen, es sind just nur die ‚sehr netten Sachen‘, welche in das Geleise ohne Beschwerde hineingehen. Wenn die Leidenschaft und der Zorn und das Unglück ihre Riesenleiber emporrecken und mit ihren ehernen Füßen zu einem Ziele schreiten wollen, dann ist’s in dem Geleise zu eng. Und wenn Menschen voll Temperament, Menschen mit scharfgekanteten Charakteren sich im Geleise des Lebens treffen, dann erweist sich dies abermals als zu eng, und sie stoßen und reiben sich aneinander, bis sie beide sich auf andern ungebahnten und eigenen Wegen zurechtzufinden suchen. Und zum drittenmal ist es zu eng, wenn einen Menschen durch irgend einen unverschuldeten Umstand ein Sonderschicksal trifft, das ihn von allen Mitwandernden merkwürdig unterscheidet. Das macht den Mitwandernden Angst, und sie haben keine Ruhe, bis sie ihn ihrerseits aus dem Geleise gestoßen haben, in welchem er vielleicht gern geblieben wäre. Kraftlose Menschen gehen auf den Umwegen zu Grunde, aber die mit ganzen Sinnen und stolzem Muth tauchen sich in Drachenblut, und weder die Dornen ihres Weges ritzen ihr Gewand, noch trifft der Schmutz ihre Stirn, den die Hände der ‚Nächstenliebe‘ vom allgemeinen Geleise zu ihnen hinüberwerfen wollen.“

„Gott behüte uns alle davor,“ sprach Ravenswann bedächtig, „verschuldet oder unverschuldet von dem sichern Weg des Herkömmlichen fortgerissen zu werden!“

„Aber ich sehe nicht ein,“ rief Frau Mietze, die sich gerade aus ihrem gelb- und braunkarrirten Kleid einen Weinfleck rieb, „was das mit Ihnen und der Baronin Offingen zu thun hat und in welchem Zusammenhang es mit Ihrer gemeinsamen Reise s-teht.“

„Vielleicht,“ sagte Marbod, für den Freund das Wort nehmend, dem er tiefe Ergriffenheit ansah, „hätte Alfred besser gethan, Ihnen ein Wort von Theodor Storm zu citiren:

‚Der eine fragt: was kommt danach?
Der andre fragt nur: ist es recht?
Und also unterscheidet sich
Der Freie von dem Knecht.‘“

„Sie suchen demnach das Wesen der Freiheit darin, ohne Rücksicht auf die Erscheinungsform und die Folgen Ihrer Thaten immer den Eingebungen Ihres Willens zu folgen?“ fragte Doktor Schneider mit strafender Betonung.

Marbod lächelte.

„Unser Wille ist schon unfrei, wenn er sich in Handlung umsetzt, denn diese ist immer den Gesetzen der Erscheinungswelt untergeordnet. Die moralische Freiheit ist etwas Metaphysisches und daher immer nur vollkommen in unserem Charakter, nicht in unsern Thaten zu finden. Doch scheint mir deshalb gerade nöthig, um die moralische Freiheit uns möglichst zu bewahren, daß wir immer so handeln, wie es unserm Willen und nicht den hergebrachten Meinungen anderer am nächsten kommt,“ sagte er.

„So ist Ihnen Ihr Wille mehr Gesetz als die von Ihren Eltern und Voreltern beglaubigte sogenannte gute Sitte?“ fragte der Doktor weiter im Ton, wie ein Erzieher einen unartigen Buben zum Geständniß gethaner Unart bringt, und Frau Doktor Schneider schlug die unschuldigen Augen zum Plafond auf.

„Allerdings,“ erwiderte Marbod ruhig, „denn ich lebe mein Dasein nach den Bedürfnissen meiner Individualität aus und nicht nach dem, was Menschen, die in andern Zeiten unter andern Kulturbedingungen lebten, an Gesetzen zusammengetragen haben, und was Sie selbst eben nur die ‚sogenannte‘ gute Sitte nennen, was aber in der That nichts ist als eine Kette von Gewohnheitsansichten, geschaffen durch klimatische, kulturelle und sociale Verhältnisse, respektive – Unverhältnisse.“

Da Doktor Schneider nichts zu entgegnen wußte, trank er in stummem Widerspruch sein Glas Rothwein aus.

Alfred aber erhob sich und sagte, daß er gehen müsse, wenn er den Zug nicht versäumen wolle.

Marie meinte bedauernd:

„Ist es schon so s-pät? Sie können gewiß noch erst etwas Käse nehmen.“

Aber mit der Hast, die er zuweilen ohne ersichtlichen Grund zu zeigen pflegte, blieb Alfred dabei, daß er gehen müsse. Er verabschiedete sich von allen mit einem Händedruck und wechselte mit Marbod einen tiefen Blick.

„Bleib nur sitzen,“ sagte Frau Mietze zu dem Gatten, der sich erheben wollte, „laßt Euch nicht s-tören, ich begleite Haumond.“

Sie geleitete ihn in der That bis an die Thür des ersten Zimmers. Ihr war, als könnte er nicht so flüchtig gehen. Er hatte ihr den ganzen Abend kein Wort gesagt, über das sie sich ärgern konnte – freilich war sie sich dessen nicht bewußt, aber sie hatte das Gefühl, als wenn er sie weniger denn sonst beachtet hätte.

„Vielleicht kommen wir auch durch Baden,“ sagte sie, als er den Klopfer schon in der linken Hand hielt.

„Das wäre charmant,“ sprach er, mit seiner Rechten ihre Finger drückend. Die Pulse schlugen ihm in den Schläfen. Nur fort – hinaus!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_278.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)