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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

majestätischen Frieden, voller und reiner empfinden, weil der Anblick seiner Umgebung ihn nicht zerstreut, weil entfernte Laute, obgleich er sie deutlicher als andere vernimmt, ihm so klein und ohnmächtig erscheinen gegenüber dem erhabenen unnennbaren Etwas in der Natur, das seine Seele mit heiligem Schauer berührt. – Aber, so dürfte hier mancher einwenden, was sind jene poetischen Schwärmereien, die vielleicht nur von einzelnen Blinden empfunden werden, im Vergleich zu dem überwältigenden Schauspiele, das sich beim Auf- und Niedergang der Sonne dem Auge des Sehenden als schöne Wirklichkeit darbietet, während jener Abendfriede doch immer etwas Gedachtes, Ungreifbares bleiben wird? Dem antworten wir: wohl ist es wahr, daß der des Augenlichtes Beraubte vieles entbehrt, aber ebenso wahr ist es, daß er dafür alles, was die Natur hör- oder fühlbar zu ihm spricht, mit doppelter Wärme umfaßt und daß er selbst ihre herrlichsten Erscheinungen nicht schmerzlich vermißt, weil Dichterwort und eine reichere Phantasie sie ihm aufs glänzendste zu schildern vermögen.

Ueberhaupt läßt das lebhafte Vorstellungsvermögen, mit welchem die meisten Lichtlosen begabt sind, sie manches erreichen, was ihr Gebrechen ihnen ganz vorzuenthalten scheint. So dürfte es keineswegs allgemein bekannt sein, daß vielen und zwar sogar frühzeitig Erblindeten die Vorstellungen von Licht und Farbe nicht völlig verschlossen sind, da sie sich beide theils in Tönen theils in Formen, also durch Vorstellungen aus ihrer Welt des Hörens und Tastens verkörpert denken. Mir z. B. erscheint, obwohl ich schon im dritten Lebensjahre das Augenlicht und daher auch jede Erinnerung an das wirkliche Aussehen der Farben verloren habe, doch jeder Gegenstand gefärbt, sobald ich ihn betaste. In ähnlicher Weise kann ich nicht umhin, jedem Menschen, je nach dem Klang seiner Stimme, helles oder dunkles, krauses oder schlichtes Haar, blaue oder schwarze Augen anzudichten. Freilich geschieht es nicht selten, daß meine Vorstellungen irrig sind, und es wird mir dann, besonders bei Menschen, niemals leicht, ja hin und wider ganz unmöglich, den Erklärungen Sehender mich unterzuordnen und von meinen Phantasiegebilden zu lassen. Während ich nun für gewöhnlich, wenn ich mir Farben vorstelle, sie zu hören, zu fühlen oder dann und wann auch zu riechen glaube, so kommt es mir merkwürdigerweise im Traume häufig vor, daß ich sie sehe. Es ist dann, als ob sich die kleine, mir noch gebliebene Lichtempfänglichkeit vervielfältigte; sie zeigt mir Bäume, Sträucher, Wiesen – Menschen dagegen nur selten und in verschwommenen Umrissen. Die genannten Dinge erscheinen mir manchmal in milder Färbung, öfter aber von einem grellen blitzähnlichen Feuerstrahl übergossen – zu meinem Entsetzen bin ich nämlich noch imstande, den Blitz wahrzunehmen.

Ferner vermag unsere Phantasie Bildern, die uns von anderen beschrieben werden, vor unserem seelischen Auge feste Gestaltung zu verleihen. Manchem hat es schon ein Lächeln abgenöthigt, wenn er hörte, daß ich mich trotz meiner Blindheit für Malerei interessiere, denn auf den ersten Blick erscheint die Anwesenheit Blinder in kunstgeschichtlichen Vorträgen ebenso widersinnig und nutzlos, als wenn ein vollständig Tauber Musikstücke anhören und bewundern wollte, und man hat mich deshalb vielleicht da und dort jenen Blinden beigezählt, die in falscher Scham über ihr Gebrechen bemüht sind, sich anderen gegenüber sehend zu stellen. Allein wenn ich den Schilderungen von Gemälden oder Bauten mit Aufmerksamkeit folge, so thue ich dies nicht nur, um so Gebieten näher zu treten, die mir sonst ganz verschlossen bleiben würden, sondern auch, um für meine Phantasie neue Anregung zu erhalten. Mit wenigen Blicken überschaut der Sehende ein ihm vorher beschriebenes und dann zur Betrachtung dargereichtes Bild; während es also ihm ein Leichtes ist, sich in die gegebenen Gedanken des Künstlers zu versenken, muß meine Phantasie unablässig selbstschöpferisch thätig sein. Aber sie thut das so gern und zuweilen mit solcher Lebhaftigkeit, daß ich schon öfter den Wunsch hegte, zeichnen zu können, um zu erfahren, ob meine Vorstellungen der Beschaffenheit ihrer Vorbilder entsprachen oder wenigstens nahe kamen.

Unstreitig jedoch bringt der Gehörsinn für den Blinden die schönsten Früchte, wenn in Tönen und Melodien zu seiner Seele gesprochen wird; denn wenn auch die Musik auf alle fühlenden Menschenherzen einen großen Einfluß ausübt, so darf dies doch ganz besonders von dem Blinden gesagt werden, der in ihrem Reiche Trost sucht und findet für anderes, was das karge Leben ihm versagt; er ist wahr – jener Satz: „Allen Blinden ist die Musik viel, vielen ist sie alles.“ Wie sehr zuweilen die Tonkunst das Seelenleben Nichtsehender beherrscht und wie leicht diese geneigt sind, die so empfangenen Eindrücke mit der Wirklichkeit zu vermengen, das möge ein Beispiel beweisen aus dem Leben einer meiner Freundinnen, für die auch die Musik alles war. Diese Freundin hatte ihr schwärmerisches Herz einer Künstlerin zugewendet, durch deren herrlichen Gesang sie zur höchsten Bewunderung hingerissen worden war, die sie aber nicht persönlich kannte. In guter Absicht waren nun Bekannte grausam genug, der Armen den Glauben an die sittliche Tüchtigkeit jener Sängerin, den ihr die musikalische Begeisterung eingegeben hatte, zu zerstören, indem sie ihr deren Leben wahrheitsgemäß schilderten. Unvergeßlich wird mir der Ton bleiben, in dem das junge Mädchen nach jenen Eröffnungen ausrief: „Nun, wenn diese Stimme lügen konnte, dann ist alles Lüge!“

Sollte dieser schmerzliche Aufschrei nur der Ausdruck gewesen sein für eine Enttäuschung, wie sie übertriebener Schwärmerei nicht erspart werden kann? Ich glaube nicht – es handelte sich hier vielmehr um eine tiefgehende Verwechslung von Künstlerin und Kunst, von Person und Stimme, wie sie bei Sehenden nicht vorzukommen pflegt. Einmal war meiner Freundin der Gesang das Höchste, Schönste, was sie auf Erden kannte, und dann hielt auch sie wie alle Blinden die Menschenstimme für ein aufgeschlagenes Buch, in welchem über Menschencharakter und Menschenwerth offen zu lesen ist. So mußte die Enttäuschung sie aufs tiefste treffen.

Bedeutsam ist auch der Abschluß, den das Leben dieses Mädchens fand; in dem Bestreben, Sängerin zu werden, zog sie sich durch allzu eifrige Studien, denen ihr schwacher Körper nicht gewachsen war, ein Lungenleiden zu, an dem sie in jungen Jahren starb. Ihr Ende veranlaßt mich, darauf hinzuweisen, wie viel Mühe musikalisch begabte Blinde daran setzen, um ihr Talent praktisch zu verwerthen. Wer dem einen oder andern zur Erreichung dieses schönen Zieles seine Hilfe leihen kann, der möge es doch ja thun; er wird einem dunklen Menschenleben jenes Licht reiner innerer Befriedigung entzünden, das uns höher steht als das des Auges. So können z. B. Organistenstellen sehr wohl von Nichtsehenden ausgefüllt werden, und es wäre mir zu wünschen, daß diese Ansicht Verbreitung finden möchte. Die große Bedeutung des musikalischen Berufes für die Blinden richtig erkennend, hat der jüngst in England verstorbene blinde Dr. Armitage in edler Fürsorge zu Norwood bei London eine Musikhochschule für seine Schicksalsgenossen ins Leben gerufen. Die treffliche Anstalt, in welcher schon zahlreiche Zöglinge zu tüchtigen Musikern und Klavierstimmern ausgebildet wurden, steht gegenwärtig unter Leitung des blinden Direktors Cambel.

Neben das Gehör, das, wie wir gesehen haben, den größten Einfluß auf den Blinden ausübt, sowohl auf sein Thun als auf sein Gemüthsleben, tritt in zweiter Linie der Tastsinn. Nicht ohne Berechtigung hat man die Fingerspitzen der Lichtlosen ihre Augen genannt; auf dem Tastsinn baut sich wesentlich der Unterricht der Blinden im Lesen und Schreiben auf. Die Möglichkeit des Lesens und Schreibens ist für die Nichtsehenden erst eröffnet worden, als es gelungen war, tastbare Schriftsysteme für sie zu erfinden. Die eigentliche Anregung zum Unterricht der Blinden ist von Frankreich ausgegangen, wo 1784 durch Valentin Hauy das erste Blindeninstitut der Welt in Paris gegründet wurde; die ältesten Blindenschulen Deutschlands sind die zu Berlin und Dresden, welche in den Jahren 1806 und 1809 entstanden, ebenfalls auf Hauys Veranlassung hin. Erst allmählich jedoch kam man auf Schriftsysteme, die auch den Blinden zugänglich waren. In erster Linie sei die Braillesche Punktschrift erwähnt, so benannt nach ihrem blinden Erfinder Louis Braille (geboren 1809, gestorben 1852). Die Buchstaben werden dabei durch 1 bis 6 fühlbare Punkte von wechselnder Stellung wiedergegeben und beim Schreiben mittels eines spitzen Griffels meist auf metallenen Rillentafeln dem Papier eingedrückt. Dieses Schriftsystem, mit welchem Braille 1829 an die Oeffentlichkeit trat, wurde erst fünfzig Jahre später auf dem Blindenlehrerkongreß zu Berlin für die deutsche Sprache eingerichtet. Bis dahin bediente man sich in Blindenschulen hauptsächlich der erhabenen großen lateinischen Buchstaben, in denen die ganze Bibel für Blinde gedruckt ist und die von den letzteren

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verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_050.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)