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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

und Besserung bemerke. Nimm Dich zusammen, ich rathe Dir’s! Bei dem ersten Anstoß setzt es fürchterliche Hiebe. Nachhilfestunden bekommst Du nicht; wenn Du zu dumm zum Studium bist, dann kannst Du Steine klopfen!“

Ein neues Verzweiflungsgeheul war die Antwort. Emmy, selbst in Thränen, flüsterte Fritz zu: „Bitte den Papa um Verzeihung!“

Er bog den Arm vor das Gesicht und schluchzte weiter.

„Schick’ ihn hinaus,“ sagte Walter rauh, „ich mag ihn heute nicht mehr vor Augen haben!“

„Du trägst die Hauptschuld,“ fuhr er auf, als sich die Thür kaum hinter Fritz geschlossen hatte, „mit Deiner ewigen Nachsicht und Schwachheit gegen den Buben! Da hast Du’s nun! Ein elender Lapps ist er geworden, ein Dämel, der nicht einmal den Muth seiner Schlechtigkeit hat. Aber ich will ihm kommen, ich will ihn –“

Emmy sah den wüthend Auf– und Abrennenden mit entgeisterten Augen an. „Ich, Hugo? Aber um Gotteswillen, ich kann doch seine Ausgaben nicht mehr überwachen! Viel eher“ – ihr Muth wuchs über dem ungerechten Angriff – „viel eher solltest Du Dir selbst Vorwürfe machen, denn Du kümmerst Dich nicht darum, ob er seine Arbeiten richtig macht oder nicht. Die anderen haben ihre Nachhilfe –“

„Nenne mir das Wort nicht!“ rief er, zornig mit dem Fuße stampfend. „Ein tüchtiger Junge braucht keine Nachhilfe, die Klassenaufgaben sind nicht zu groß; die unserigen waren ganz ebenso, und wir haben sie gemacht. Wer überhaupt denken kann, der kann auch Regeln lernen und sie anwenden. Aber, der Bursche ist ja so zerstreut, daß er nicht hört und sieht –“

„Und das stört Dich erst, wenn wie heute eine schlimme Folge daraus entsteht! Ein Vater müßte sich mehr um seinen Sohn kümmern, als Du es thust, Hugo! Was weißt Du denn von seinem innern Leben, von seinen Neigungen und Interessen? Nichts! Du läßt ihn so neben Dir hergehen, bis ein Anlaß zum Strafen kommt, dann merkt er, daß er einen Vater hat. Und das ist dasselbe Kind,“ fuhr sie nach einer Pause ergriffen fort, „dessen erste Schrittchen wir mit Entzücken überwachten, für dessen geistiges Wohl in den ersten Jahren aufs ängstlichste gesorgt wurde! Sollen wir nun, wo er eine moralische Stütze braucht, nicht die Sorge und Liebe verdoppeln, hätten wir nicht nach jenem Zeugniß noch einmal fragen müssen? Ich kann mir nicht helfen, Hugo – der Fehler muß an uns ebenso liegen wie an dem Jungen. Pflichtgefühl ist eine Frucht der Erziehung, wir sind offenbar noch keine hinlänglich guten Erzieher.“

„Warum nicht gar!“ fuhr er auf. „Glaubst Du, daß meine Eltern, die ganz vorzügliche Erzieher waren, uns den ganzen Tag beobachtet und beaufsichtigt hätten? Fiel ihnen gar nicht ein! Aber wir waren tüchtige Burschen und brachten unsere Sachen allein fertig.“

Emmy ergriff seine Hand und sah ihn bittend an. „Bedenke doch einen Augenblick, Hugo, wie verschieden Euer Leben in der kleinen Landstadt war von dem heutigen hier. Ein Schultag verlief Euch wie der andere, Eure Aufgabenzeit blieb ungestört, Vergnügen hieß Euch Baden im Sommer, Schneeballenwerfen im Winter, Euer Lebenskreis, wie der Eurer Eltern, war ein eng umgrenzter, auch für sie war, ob sie es Euch zeigten oder nicht, das vornehmste Interesse der Gang Eurer Entwicklung. Und nun vergleiche unser Heute! Mit Deiner Bewilligung hat Fritz diesen Winter verschiedene Theater, eine Anzahl von Kindergesellschaften besucht, er läuft an den freien Nachmittagen den weiten Weg aufs Eis, liest leidenschaftlich Bücher, die ihn zerstreuen, durch Francis’ Gegenwart im Hause wird ihm eine Menge von Dingen zugänglich, an die ein Junge in seinem Alter nicht denken sollte – heißt es da nicht Charakter und Pflichtgefühl eines Erwachsenen voraussetzen, wenn man bei alledem ohne besondere Mahnung und Beaufsichtigung tadellose Arbeit von ihm verlangt? Warum sind denn jetzt die Klagen über das schlechte Lernen so allgemein? Sicher deshalb, weil eine allgemeine Ursache zu Grunde liegt!“

Hugo dachte ein Weilchen nach. „Es ist etwas dran,“ sagte er dann gemäßigter. „Aber wir stehen nun einmal in diesen Verhältnissen. Was thun, um da abzuhelfen?“

„Ich habe schon oft darüber nachgedacht: es giebt nur zwei Wege, entweder mit Gesellschaft, Vergnügen und Zerstreuung brechen und um der Kinder willen ein ganz zurückgezogenes Familienleben führen -“

„Oder? –“

„Oder thun wie die anderen und den Nachhilfslehrer nehmen, der den zerstreuten Kopf zu bestimmten Stunden wieder zusammenfaßt und die Leistungen erzielt, die nun einmal zum Vorwärtskommen gefordert werden.“

„Nein und abermals nein – dazu entschließe ich mich nicht. Und es ist auch nicht nöthig. Mindestens zwei Drittel der Klasse haben keinen Hilfslehrer und kommen doch vorwärts.“

„Die sind dann gescheiter oder fleißiger als Fritz! Erinnere Dich, was der alte Rektor Müller sagte: ‚Wer nicht besonders begabt, aber tüchtig fleißig ist, kommt durch. Wer begabt und faul ist, kommt ebenfalls durch. Nur wer sowohl unbegabt als faul ist, bleibt sitzen, und dem geschieht sein Recht!‘“

Hugo dachte nach. „Gut!“ sagte er endlich, „man muß den Burschen offenbar besser unter Aufsicht halten. Ich werde mich von jetzt an um seine Aufgaben kümmern.“

„Aber nicht gleich so heftig werden, Hugo, wenn er etwas versehen hat!“

„Dafür laß mich sorgen! Und die Vergnügungen – na, die werden wir ihm kurz beschneiden, dafür will ich gut stehen!“

Gerade wollte ihm Emmy zu bedenken geben, daß ein reines Arbeitsleben ohne Abwechslung und Erholung doch für ein Kind von zwölf Jahren eine strenge Sache sei, da ertönten draußen rasche Schritte und einen Augenblick später streckte Karoline Wiesner den Kopf zur Thür herein.

„Seid Ihr noch sichtbar vor dem Mittagschläfchen? Schön! Ich wollte nur sagen, daß ich mitgehe, will einmal wieder leichtsinnig sein. Und der Thormann ist auch dabei.“

„Wobei?“ fragte Emmy erstaunt.

„Nun, bei dem Nürnberger Ausflug – redet Ihr denn nicht gerade auch davon? Dein Mann ist ja der Urheber der Geschichte.“

„Freilich, ich sagte es Emmy vorhin,“ versetzte Walter etwas verlegen, „aber sie will die Kinder nicht so lange allein lassen.“

„Na, höre einmal!“ rief die Malerin eifrig, „das geht über das Maß! Solche Püppchen sind sie nicht mehr! Das würde ja den ganzen Spaß verderben. Allein kann ich doch nicht mit dem Thormann in die Welt fahren – hahaha!“ lachte sie belustigt, „da müßt Ihr schon als Ehrenwache mit!“

„Mein Mann begleitet Euch,“ erwiderte Emmy schnell. „Ich kann wirklich in der nächsten Woche nicht fort, Linchen, aber er hat in letzter Zeit soviel Arbeit und Aerger gehabt, ihm wird es recht gut thun. Nicht wahr, Hugo?“

„Immer Opferlamm!“ dachte Linchen mit stillem Aerger. „Und mit welcher Selbstverständlichkeit dieser Hausgötze seinen Kultus annimmt. Ich sage es ja immer, die Ehe wirkt verderblich auf den Charakter!“

Der Götze hatte inzwischen doch ein paar kleine Gewissensbisse und hob an: „Nein, wenn Du nicht mitgehst, Emmy“ – allein sie ließ ihn nicht ausreden, bewies ihm mit den besten Gründen, daß es Pflicht der Selbsterhaltung für ihn sei, manchmal auch an sein Vergnügen zu denken, und bewog ihn denn nach kurzer Zeit schon, dies Opfer für seine Familie zu bringen.

„Ja – und Thormann?“ fragte sie zuletzt, indem sie der Freundin bedeutungsvoll in die Augen sah. „Ich wartete die ganze Zeit her auf eine ganz andere Neuigkeit. Und jetzt reist er so ohne weiteres?“

„Er reist – ich denke jedoch, er kommt wieder. Das ist ein unbegreiflicher Mensch; rein unmöglich, etwas von seinen Vorsätzen aus ihm herauszubringen.“

„Linchen, Linchen,“ drohte der Gerichtsrath, „mir scheint, Sie haben sich mit strafbarem Eifer der Leidenschaft des Heirathstiftens ergeben.“

„Hat sich was! Das wären die rechten Leute dazu! Vilma ist ja auch ein ganz undurchdringliches Geschöpf, heute voll Antheil und morgen wieder hundert Stunden davon entfernt. Vor ein paar Wochen, ja, da glaubte ich auch, die Geschichte sei im Gange, da kam er viel in mein Atelier, ersichtlich um ihretwillen, ließ sogar die Cigarre draußen, was für ihn sehr viel ist, und sah, wenn er mit ihr sprach, ordentlich hübsch und jung aus.“

„Und sie?“ fragte Emmy.

„Na, weißt Du, sie kann ja rein bezaubernd sein, wenn sie

lebhaft wird, sie hat eine Anmuth in Blick und Lächeln, daß man

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_158.jpg&oldid=- (Version vom 22.5.2020)