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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

ohne Hinhorchen auf das, was mittlerweile im Familienzimmer vor sich geht, ohne Abhaltung durch hereingeschneite Kameraden mit allerhand Zerstreuungen und ohne die Freiheit, zwischenhinein fortzulaufen. Mittwoch und Samstag, die Tage der größeren Arbeiten, dürften nicht für Kindergesellschaften und dergleichen verwendet werden; im Theater hat ein Junge unter vierzehn Jahren überhaupt nichts zu suchen – kurz, ich bin überzeugt, daß die Klagen über die Schule vielfach das Haus treffen, denn ich sehe stets wieder Beispiele, daß richtig zur Arbeit und zur Erholung angeleitete und normal begabte Jungen das Gymnasium ohne Ueberanstrengung durchmachen.“

„Es giebt aber solche, die auch bei bestem Willen eine Stunde an einer Seite Wörter lernen, und Fritz gehort leider dazu.“

„Und warum müssen diese durchaus in die gelehrte Schule gezwungen werden?“ fragte der alte Mann ernsthaft. „Haben wir da nicht auch wieder ein Stück Größenwahn unserer Zeit? Warum soll der Sohn des Beamten, Professors und Offiziers nicht einen einfachen praktischen Beruf ergreifen, wenn seine Fähigkeiten zum Studium nicht reichen? Ich weiß wohl, man schützt das Einjährigen-Examen vor. Allein das ist auch von der Realschule aus zu erreichen. Ich möchte doch lieber meinem Sohn das Ziel kleiner stecken und ihn dann mit frischer Kraft drauf losgehen und zum tüchtigen Menschen werden sehen, als ihn schon von Anfang an nach einem höheren vergeblich ringen lassen. Das Sprichwort: ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘ hat seinen tiefen Sinn, jedoch nur für den, der nicht zu hoch hinaus will. Man muß auch mit seinen Kindern bescheiden sein; Genies kann nicht jeder zu Söhnen haben, aber sie zu tüchtigen pflichttreuen Menschen erziehen das kann jeder. Und diese finden dann doch ihren richtigen Platz. Lassen Sie Fritz, der, wie Sie sagen, Sinn und Freude für Naturwissenschaften hat, die Realschule und das Polytechnikum besuchen, um sich für die Elektrotechnik oder eine andere praktische Thätigkeit vorzubereiten. In allen diesen Berufsarten hat der Sohn aus gutem Hause, der streng ehrliche und gescheite Mensch, die besten Aussichten. Dann steht Fritz die Welt offen, und wer weiß, was sie noch alles aus seinen Fähigkeiten entwickelt, die heute nicht dazu angethan sind, Latein und Griechisch zu lernen!“

„Sie mögen recht haben,“ sagte Walter zögernd. „Wenn ich nur gewiß wüßte, daß es Unfähigkeit und nicht Faulheit ist! Man entschließt sich so schwer, den Sohn auf das verzichten zu lassen was man selbst einst ohne Schwierigkeit fertig gebracht hat.“

„Wissen Sie was? Schicken Sie mir ihn, so lange Sie hier sind, täglich eine Morgenstunde mit seinen Büchern herauf. Nach vier Wochen glaube ich, Ihnen hierüber ziemlich Gewisses sagen zu können.“

Walter stand ergriffen da. Er kam sich mit seiner eleganten Haltung und dem empfindlichen Selbstbewußtsein auf einmal so klein vor gegen den einfachen Menschenfreund im abgetragenen Rock, der nun bedächtig seine Gartenthüre aufschloß und ihm die Hand zum Abschied hinstreckte. Lebhaft griff er danach und sagte voll tiefer Bewegung:

„Ich danke Ihnen mehr, als Sie ahnen können. Ihr großmüthiges Anerbieten nehme ich als Wohlthat von höchstem Werthe an. Meine Frau wird auch glücklich darüber sein ... dieser Tag wird zur Wendung in unserem Leben. Wie ich Ihnen das alles vergelten soll, weiß ich freilich nicht!“

„Nicht mir – anderen vergelten Sie es,“ erwiderte der Alte, heiteren Glanz auf der Stirne und die Augen voll Milde auf den Jüngeren gerichtet. „Wie kann der einzelne besser dem Ganzen dienen, als indem er jeden Dienst leistet, der überhaupt im Bereich seines Armes liegt? Nichts einfacher als das. Und das Ganze, lieber Freund, das Ganze ist die Hauptsache!“




12.

Ein prächtiger Septembermorgen stand über dem Lande Tirol. Helleuchtend ragten die rosenfarbenen Gebirgshäupter in den tiefblauen Himmel, duftige Nebelschleier zogen zwischen ihren Zinnen und Schrofen hin, und in tausend Tropfen funkelnd dehnten sich die grünen Haiden zum Thal abwärts. Dieses selbst war noch von kämpfenden Nebelmassen verdeckt, aber schon stachen

die Tannenspitzen aus dem weißen Duft heraus ins Sonnenlicht, und immer stärker klang das Wasserrauschen aus der Tiefe. Daneben wurde noch ein anderer Ton hörbar: durch Dampf und Dunst kam das Schnauben einer Lokomotive, die keuchend ihren Wagenzug zwischen Fluß und Bergwand aufwärts schleppte. Sie hatte längst die Stadt Innsbruck mit ihren Kuppeln und ragenden Bergschlössern hinter sich, nun wühlte sie sich immer weiter in das stets enger werdende Thal des Inn hinein, wo die Wände steil in das reißende Wasser hinunterschauen, wo Straße und Bahn dem Felsen abgerungen sind und durch die Scharten da und dort die großen Eis- und Schneefelder von fern hereinlugen. Station Imst war passiert, als das Nebelmeer gerade über der Lokomotive sich theilte, wie durch ihren schrillen Pfiff gespalten, und nun drang mit dem Sonnenschein zwischen den entweichenden Nebelfetzen soviel Pracht von allen Seiten auf die Reisenden im Aussichtswagen ein, daß sie kaum genug Augen hatten, um alles zu sehen.

Ganz vorn an dem großen Glasfenster stand ein junges Mädchen im einfachen grauen Reisekleid. Sie stützte beide Hände auf die Brüstung und wandte das Gesicht, völlig hingenommen, so nach der Aussicht, daß ihren Mitreisenden nur ein schmaler Theil davon sichtbar blieb. Schon lange stand sie so, ungeduldig das Fallen des Nebels erwartend und nach jeder Felsenecke hinaus spähend. Nun, da in unaufhörlicher Folge grüne, dörfergekrönte Höhen, rauschende Wildwasser mit hohen Brücken, silberne Schneefelder über dunklen Tannenwäldern an ihren Augen vorüberzogen, vergaß sie in ihrem stillen Entzücken vollends die Reisegesellschaft, die hinter ihr englisch und deutsch schwatzte. Sie hatte auch nicht bemerkt, daß in Imst ein bestaubter und sonnverbrannter Passagier eingestiegen war, der sie selbst aus dem Hintergrunde des Wagens ein Weilchen zweifelhaft musterte, dann aber, als ihm einen Augenblick ihr volles Profil sichtbar wurde, sich lächelnd den graublonden Bart strich und murmelte:

„Sieh da, die selbständige Paula! Am Ende auf der Reise nach der Emanzipation! Aber wie gut sie aussieht in ihrer entschlossenen Haltung – keine Spur von ihrem sonstigen gedrückten Wesen!“

Und Thormann, denn er war es, setzte sich seitwärts und betrachtete über ein paar alte Engländerinnen weg die feine Umrißlinie des Kopfes mit dem weichen Filzhütchen auf tiefgesteckten dunkeln Flechten und die schlank abfallenden Schultern, über welche der Riemen des Täschchens lief.

Ein Tunnel klappte jetzt den schwarzen Deckel über das farbenreiche Bild draußen, und allgemeines Niedersitzen erfolgte. Thormann half sich in der Dunkelheit über ein paar Sitze vorwärts; als dann wieder Helle zu den Fenstern hereindrang, fiel Paulas Blick auf ein wohlbekanntes, ernsthaft freundliches Gesicht, dessen hellblaue Augen mit einer gewissen Erwartung nach ihr hinsahen.

Eine leise Röthe stieg in ihre Wangen, dann stand sie auf, that entschlossen einen Schritt gegen ihn, der sofort emporsprang, und bot ihm die Hand.

„Herr Thormann – wie froh bin ich, Sie hier noch einmal zu sehen!“

Unter dem Bartdickicht entwickelte sich ein humoristisches Lächeln, und mit einer gewissen Anzüglichkeit sagte der Maler:

„Ich hätte nicht gehofft, eines solchen Vorzugs zu genießen, gnädiges Fräulein.“

„Schelten Sie nur, Sie haben alles Recht dazu,“ sagte sie freimüthig und blickte ihn dabei so unverzagt an wie noch niemals während ihrer Bekanntschaft, „ich habe mich damals gar zu albern gegen Sie benommen, als Dank für Ihre Freundlichkeit. Längst hätte ich Sie gern um Verzeihung gebeten, und daß ich dies nun auch noch kann, das letzte, was mir vor dem Abschied noch auf der Seele lag, das macht mich wahrhaft glücklich. Nicht wahr, Sie tragen mir’s nicht ferner nach?“

„Ich habe das bis jetzt auch nicht gethan; ich bedauerte nur hinterher, wieder einmal nach meiner verzweifelten Gewohnheit zu geradeaus geredet zu haben. Schlimm, wenn man so etwas nicht loswerden kann!“

„Mir kommt das gar nicht schlimm vor,“ erwiderte sie ernsthaft. „Sie dürfen auch nicht glauben, es habe mich verletzt, zu merken, daß Sie meine Lage als hilfsbedürftig kannten, nein,

gewiß nicht. Es kam nur an jenem Tage so viel zusammen ...

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 214. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_214.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2020)