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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

schon tausend, tausendmal geholfen, hat er gesagt! Vater unser, der Du bist … im Himmel …“ Und betend sank sie neben dem Bett nieder, in welchem das Kind noch lag, wie sie es verlassen hatte.

„Aber Gittli. so red’ doch, wie soll’s dettn helfen, was soll ich denn machen damit?“

Mehr mit Zeichen als mit Worten wiederholte Gittli den Rath, den ihr der Frater Pförtner gegeben. Neben dem Bette kniend, mit thränenerstickter Stimme betend, hielt sie das flackernde Talglicht, während Sepha that, was der Mönch geheißen. Mit zitternden Händen, unter Weinen und zärtlichem Stammeln, entblößte die Mutter das Kind, welches vor ihr lag wie eine vom Stengel gefallene Blüthe. Ein zartes, holdes Körperchen, rund und weiß wie aus Wachs gebosselt … aber alle Gliederchen gefesselt von starrem Krampf.

Endlich richtete sich Sepha tief athmend auf, alles war gethan, was geschehen mußte. Sie legte die Kissen zurecht und breitete sorglich wieder die warme Decke über das Kind, welches unempfindlich schien für alles, was mit ihm geschah.

„Meinst, Gittli … es hilft was?“

„Ja, ja, es muß ja helfen!“

„Der liebe Herrgott soll’s geben! Wär’ nur der Polzer daheim!“

Nun faßen sie, Sepha und Gittli, die eine zu Häupten, die andre zu Füßen des Kindes, Stunde um Stunde, leise betend und des Wunders harrend, das sie mit Zuversicht erhofften.

Einmal streckte sich das Kind unter leisem Stöhnen, und die geballten Fäustchen schlugen seitwärts.

„Gittli!“ stammelte das Weib.

„Thu’ Dich nimmer sorgen ... es hilft, schau, es hilft ja schon! Weißt, er wehrt sich halt, der Krank[1], weil er spürt, daß er fort muß!“

Wieder saßen sie, betend und wartend. Auf leisen Sohlen schlich die Nacht davon, und durch die Fenster fiel der graue Dämmerschein des erwachenden Morgens.

Seph’ athmete auf. „Jetzt wird der Polzer ja doch bald kommen?“

Gittli nickte; die Hände im Schoß gefaltet, so saß sie, keinen Blick vom Gesichtchen des Kindes verwendend.

Wieder einmal befühlte Sepha das kleine, starr geschlossene Händchen. Sie erschrak. „Gittli … ich weiß nicht … das Kindl wird so kalt! Da, greif her … was sagst, was meinst denn?“ Ihre Augen waren starr geöffnet, und in ihrer Stimme zitterte die Angst.

Gittli umschloß mit beiden Händen das kalte wachsbleiche Fäustchen des Kindes. Da fuhr es auch ihr durchs Herz, sie wußte nicht wie. Sie konnte nicht sprechen. Mit einem bang erschrockenen Blick schaute sie zu Sepha auf.

„Was meinst …“ stotterte das Weib, „wenn ich ihm Tücher warmen thät’?“

„Ja, ja …“

Sepha zerrte einen Arm voll Linnenzeug aus einer Truhe, stürzte in die Küche, machte Feuer und preßte das Linnen in eine irdene Schüssel, um es an der Gluth zu wärmen. Schluchzend riß sie die Hausthür auf … der helle Glanz des Ostermorgens leuchtete ihr entgegen. Sie taumelte auf der Schwelle, raffte sich empor und rannte auf die Straße, um auszuschauen, ob ihr Mann nicht käme. Nichts, nichts, so weit ihre brennenden Blicke reichten.

„Mein Gott, mein Gott, wär’ er nur daheim geblieben!“ stammelte sie und wankte zurück.

Drinnen in der Stube kniete Gittli vor dem Bett, des Kindes kalte Fingerchen behauchend, die zwischen ihren Händen lagen. Sie wurden nicht wärmer. „Seph’, Seph’!“ rief sie in quälender Angst und wollte zur Thür eilen. Doch während sie sich erhob, schien es ihr, als hätte das Kind sein Köpfchen bewegt. Sie hatte recht gesehen … ein leises Zucken ging über die Augenlider, und das Mündchen bewegte sich, als wollt’ es sprechen.

„Mimmidatzi!“ schluchzte Gittli in neu erwachtem, freudigem Hoffen und warf sich wieder auf die Knie.

Da hob das Kind ein klein wenig die Aermchen und tastete mit gespreizten Fingerchen in die Luft. Gittli meinte, das Kind suche ihre Hände. „Ja, ja, mein Schatzi, das Handerl geben, gelt?“ flüsterte sie in heißer Zärtlichkeit, die beiden Händchen des Kindes fassend. „Dittibas’ geht nicht fort, nein … schau, ich bin ja schon bei Dir! Kennst mich denn nimmer, Schatzi?“

Es legte sich auf das bleiche Mündlein wie ein sanftes müdes Lächeln ein seufzender Athemzug, dann streckte sich das Körperchen und durch die kalten Fingerlein rann noch ein leises Zittern.

Jetzt kam die Mutter mit den warmen Tüchern gerannt. „Seph’, Seph’!“ rief ihr Gittli mit stammelnder Freude entgegen. „Besser geht’s, besser … es kennt mich schon wieder … und wie ich mit ihm geredet hab’, da hat es mich angelacht … schau nur, Seph’, schau nur, es lacht noch allweil!“

„O Du lieber, lieber Gott …“ stotterte Sepha. Die Freude benahm ihr fast die Stimme.

Nun griffen sie alle beide zu mit fliegenden Händen und hüllten das Kind von den Füßen bis an das Hälschen in die warmen Tücher; und wenn die Tücher zu erkalten begannen, wurden sie wieder ersetzt durch andere, warme …

Und immer lächelte das Kind; nur war das Gesichtchen so weiß wie Schnee, und das geschlossene Mündlein war anzusehen, als hätt’ es sich verwandelt in ein blasses Veilchen.

Stunde um Stunde verging … und immer lächelte das Kind.

„Ich mein’, es schlaft!“ flüsterte Gittli. Und dann plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Seph’, ich lauf’ ins Kloster hinauf … meinst nicht, es wär’ gut, wenn ein Pater beten thät’?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie in ihre Kammer, schlüpfte in die Schuhe, zog ein Jäcklein über, streifte mit einem flüchtigen Kuß die rothe Wange des Buben, der in ihrem Bette schlief wie ein Murmelthierchen, und rannte aus dem Hause.

Als sie die Straße erreichte, sah sie zwischen den Bäumen einen Mönch des Weges kommen. Den hätte ihr der liebe Gott geschickt, so meinte sie. „Herr Pater, Herr Pater!“ rief sie und winkte ihm zu. Nun stand er vor ihr … Pater Desertus war es, der Fischmeister; er hatte im Kloster die Frühmesse gelesen und wollte heimkehren in seine Klause.

Gittli erschrak, da sie ihn erkannte, und zögerte; doch nur einen Augenblick, dann trat sie auf ihn zu, mit bittend erhobenen Händen, die Augen naß von Thränen.

Eine dunkle Röthe flog über seine bleichen Züge, seine Augen flammten, und wie in heißer Sorge streckte er die Hände nach ihr und fragte. „Mädchen, was ist Dir? Weshalb weinst Du?“

„Ach, Herr Pater, wir haben ein krankes Kind daheim … ich bitt’ Euch, kommt mit mir und betet für das arme Würmlein!“

„Beten?“ Ueber die Lippen des Mönches irrte ein Lächeln, das sich Gittli nicht zu deuten wußte. Scheu wich sie vor ihm zurück. Er aber faßte ihre Hand und sagte. „Komm’! Wir wollen sehen, was zu helfen ist!“

Sie wollte seine Rechte küssen, doch er wehrte es fast erschrocken. „Führe mich!“ sagte er und folgte ihr mit raschen Schritten; dabei verwandte er keinen Blick von ihrem Gesicht, und immer wieder schüttelte er den Kopf, als könnte er irgend etwas, das ihn zu bewegen schien in seinem tiefsten Innern nicht fassen und begreifen.

Nun erreichten sie die Hausthür, und da ließ er die Hand des Mädchens und fuhr sich über die Stirn wie um etwas von sich abzustreifen, was er nicht mit sich tragen wollte über diese Schwelle. Gittli bekreuzte sich, als der Pater ihr voran in die Stube schritt. Sepha erhob sich vom Bett und zog sich scheu in einen Winkel zurück. Gittli blieb mit gefalteten Händen an der Thür stehen, und so folgten die beiden Frauen mit brennenden Augen jeder Bewegung des Priesters, der neben dem Bett stand, tief über das regungslose, still lächelnde Kind gebeugt.

Nun richtete er sich auf, schwer athmend, und sein Antlitz schien noch blässer geworden. Mit wehmuthsvollem Blick suchten seine Augen die Mutter. „Kommt her zu Eurem Kind,“ sagte er mit leiser, schwankender Stimme.

Ein Zittern befiel Sephas Glieder, in ihrem Gesicht erstarrte vor Angst jeder Zug, nur die Arme konnte sie strecken, aber ihre Füße waren auf den Dielen wie festgewurzelt.

„Hier ist keine Hilfe mehr. Es müßte denn sein, daß unser Herr Jesus in diese Stube träte und zu Eurem holden Kind spräche wie zur Tochter des Jairus: „Steh’ auf und lebe!“

Gittli erbleichte bis in die Lippen, Sepha rang nach Athem, aber noch immer wollten sie nicht fassen, was geschehen war.

„Ach, guter Pater,“ stammelte das Mädchen, „schauet nur hin, es lachet ja, es lachet …“

  1. Der böse Geist der Krankheit. In gleichem Sinn bedeutet der „G’sund“ die lebensvolle Kraft des gesunden Körpers.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_299.jpg&oldid=- (Version vom 19.4.2024)