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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Da tönte aus dem Salon, der unter meiner Stube lag, helles Lachen bis herauf in meine Einsamkeit.

„Und Onkel Christian?“ rief ich laut. „Welch abscheuliche Selbstsucht, des treuen Freundes zu vergessen!“

Rasch wusch ich meine verweinten Augen und eilte hinab in die Wohnräume. Ich durchschritt Billardsaal und Empfangszimmer, sie waren leer; aus der Bibliothek jedoch drangen mir laute Stimmen entgegen, die Stimmen der Brüder und Schwäger in lebhaftem fröhlichen Streite, der dann und wann von Egons Tenor und der Schwestern Lachen unterbrochen wurde. Was zankten sie denn? Ich trat ein und hörte Plato citieren, Schopenhauer und Kant, sogar den Thomas a Kempis. Schwager Philipp bat ums Wort, seine Frau hielt sich die Ohren zu, Egon rang die Hände. „Onkel Christian raubt mir meine Ideale!" – mit diesen rasch hingeworfenen Worten beantwortete er meine stumme Frage. Der Onkel aber, ein Fels im Meere, um den die Wogen branden, saß ruhig da, seinen Tschibuk rauchend, und lachte still vor sich hin.

„Um was streiten sie denn?“ fragte ich ihn.

„Um das Wesen der Liebe,“ war seine Antwort, „als wäre es zu ergründen!“

Egon jedoch, gewohnt, mich als Richterin zu betrachten, trat als Kläger vor. „Sag’ selbst, Leonore – Onkel behauptet, siebenmal geliebt zu haben, und jedesmal sei es echte, wahre Liebe gewesen; ist das möglich?“

„Siebenmal? Wirklich geliebt?“ – Onkel Christian lachte laut über mein verdutztes Gesicht.

„Ich theile Egons Ansicht,“ sagte ich. „Denn siebenmal und immer die rechte Liebe – nein, das ist unmöglich!“

„Leonore kann nicht mitsprechen in Liebesfragen,“ riefen im Chore Brüder und Schwäger, und es verdroß mich, daß sie eigentlich recht hatten. Der Onkel hingegen schien höchlich belustigt, ich hatte ihn nie so herzlich lachen hören. „Ich bin geneigt, diesen beiden Idealisten ein Zugeständniß zu machen,“ sagte er. „Möglicherweise war meine Liebe nicht in allen sieben Fällen wirkliche echte reine Liebe – aber ich hielt sie jedesmal dafür, und darauf kommt es schließlich an.“

Wieder erhob sich ein Sturm von Zwischenreden, von zustimmenden und widersprechenden. Schwager Lothars kräftiger Bariton übertönte ihn. „Ich beantrage, daß Onkel Christian aufgefordert werde, die sieben Fälle zu eingehender Betrachtung –“

„Und Belehrung,“ schaltete Edwin ein – „und Belehrung,“ fuhr Lothar fort, „dem versammelten Familienrathe vorzutragen.“

„Einverstanden! Einverstanden!“ erschallte es von allen Seiten. Nur Schwester Hilda sah sich vorsichtig um. „Ja so, die ‚Kleine‘ ist ja verheirathet,“ murmelte sie. Im Nu war die Zuhörerschaft um Onkels Armstuhl gruppiert und gab nicht nach mit Bitten, er solle seine Behauptung von den sieben echten Lieben durch die Erzählung rechtfertigen. Philipp, der Jurist, spielte Gerichtssaal und nahm die Personalien auf, wie er es nannte, während der Onkel lachend mächtige Wolken von sich blies.

„Also zur Sache!“ rief Philipp. „Fall Nummer eins – Name? Alter? Stand?“

„Halt, halt, nicht so rasch!“ rief der solchergestalt Verhörte, „ich muß mich erst besinnen, ‚Fall eins‘ ist lange her. Mein Alter? Etwa vierzehn Jahre. Das ihre ungefähr dreißig.“

Von unserer Heiterkeit oftmals unterbrochen, erzählte er nun launig und mit Humor von der schönen Babette in Prag, die als Ladenmädchen in einer Konditorei diente, wo er, von der Schule kommend, häufig einzukehren pflegte – „zur Magenstärkung, zur ‚Jause‘,“ erläuterte er, „an welche sich allmählich die Liebe knüpfte.“

Egon wollte Einwendungen erheben, Philipp verwies ihm das. „Gar nicht so ungewöhnlich, dieser Weg durch den Magen zum Herzen, mein Junge; mit vierzehn Jahren völlig normal.“

Onkel Christian gab die feierliche Versicherung, daß die Mohnkipfel und andere Herrlichkeiten eine untergeordnete Rolle gespielt hätten von dem Augenblick an, wo er sein Herz entdeckt zu haben meinte. Er schrieb Gedichte an die schöne Babette, brachte ihr Bücher und Blumen – und schon glaubte er sich ihrer Gegenliebe sicher, als er die fürchterliche Entdeckung machte, er selbst oder vielmehr seine Kappe habe als Liebesbote zwischen der Geliebten und dem eigenen Hofmeister gedient! Wilde Wuth erfaßte ihn, er wollte die Verräther und dann sich selbst töten. In Ermanglung eines Revolvers drang er mit dem Lineal auf seinen Nebenbuhler ein und hatte die Genugthuung, aus dessen Nase Blut fließen zu sehen, bevor man ihn selbst, den Rasenden, in sicheren Gewahrsam bringen konnte. „Später hat die ‚Süße‘ wohl Versöhnungsversuche gemacht, allein ich strafte die Falsche, indem ich ihr Gunst und Kundschaft entzog.“

So schloß der Berichterstatter den „Fall eins“ unter lautem Beifall der Herren.

„Hoffentlich war die zweite Liebe ernster,“ meinte Egon.

„Sentimentaler, denn sie fiel in die Zeit des Unterrichts in Rhetorik und Literaturgeschichte. Der Gegenstand war diesmal ein bleiches blondes Nähmädchen, in der ganzen Nachbarschaft als ‚Flick-Milly‘ bekannt. Sie flickte und stopfte auch bei uns allwöchentlich an bestimmten Tagen im sogenannten ‚Wäschezimmer‘. Es war dies eine Bodenkammer, fern vom lauten Treiben des großen Hausstandes, ein stilles Winkelchen, wo sie, die Holde, inmitten von riesigen Schränken und altem Gerümpel thronte, von ganzen Bergen Wäsche umgeben, und wo ich all meine Schiller-, Goethe- und sonstigen Schwärmereien ungestört in ihr ähnungsvolles Herz ergießen konnte. Ihre thränenreichen hellblauen Augen hatten es mir erschrecklich angethan; ich hielt für Schwermuth, was sich meist als Hunger erwies. Doch mich störte das wenig. Abendelang deklamierte ich und las ihr vor; alles war sie mir dabei, bald Gretchen und Klärchen, bald Hero oder Ophelia. Und sie weinte dazu, weinte Ströme von Thränen; nie wieder habe ich so wolkenbruchartig weinen sehen. Je heftiger aber ihre Thränen flossen, desto begeisterter klang mein Pathos, desto würdiger schien mir die Aufgabe, diese schöne Seele heranzubilden durch unsere großen Dichter und meine große Liebe.“

„Onkel, Du spottest!“ unterbrach ich ihn.

„Jetzt liegt mir der Spott allerdings nahe bei dieser Erinnerung, doch damals war es mir fürchterlich ernst. Ich wollte die bleiche Emilie wirklich und in aller Form heirathen! Da machte mein Vater kurzen Prozeß und steckte mich in die Armee.“

„Ein drakonisches Mittel,“ meinte Lothar.

„Sehr klug,“ betheuerte Edwin, „die Kaserne ist eine vorzügliche Kuranstalt für Sentimentalität. Ich wette, ‚Fall drei‘ ist pikant.“

„Pikant? Vielleicht für andere,“ entgegnete lachend der Onkel, „für mich ist er nur albern; eine schauderhafte Blamage.“

„Erzähle! Erzähle!“

„Stellt Euch einen langen scheuen ungeschlachten Burschen von neunzehn Jahren vor, aus einem verträumten Studentendasein in das flotte Leben eines Kavallerieregiments versetzt, wohlgemerkt: im vormärzlichen Ungarn, von dessen jubelnder berauschender Gastfreundschaft man sich heute keinen Begriff mehr machen kann. Auf mich wirkte es anfangs verblüffend; ich ließ mich gleich einer Marionette von den Kameraden hin und her schieben, zu den dienstlichen Vorstellungen wie zu den Besuchen in der Nachbarschaft. Bald genug jedoch regte sich das Soldatenblut in meinen Adern. Der ritterliche Geist, die schöne Kameradschaft, die Eleganz des Lebens verfehlten nicht, mit mächtigem Zauber auf mein leicht erregbares Gemüth zu wirken. Ich schloß mich warm an die neuen Freunde an, ihre Gesinnungen und Ansichten wurden die meinigen und mein ganzes Bemühen ging dahin, es ihnen auch in der äußeren Form gleichzuthun.

Es gab viele Edelsitze in der Nachbarschaft, wo die Gastfreundschaft fast noch überholt wurde von der Leichtlebigkeit; es gab hübsche Mädchen und allerlei Liebeshändel, deren durchsichtige Schleier von den unzarten Händen der Kameraden mehr oder minder gelüftet wurden, wenn wir an langen Abenden in der Garnison beisammen saßen. Ich horchte mit steigender Aufregung; so sehr ich mich auch bemühte, meine Neigung für die blonde Näherin vor den Freunden aufzubauschen, so erkannte ich doch mit Beschämung, daß ich eigentlich nichts Rechtes erlebt hatte. Diesem Mangel mußte schleunigst abgeholfen werden; ich sah mich in allem Ernste nach dem würdigen Gegenstand um, dem auch ich eine so stürmische Liebeserklärung hätte machen können wie etwa die, von denen der Rittmeister erzählte.

Da traf es sich glücklich, daß die Frau unseres Majors durch ein Avancement ihren glühendsten Verehrer einbüßte. Sie galt als eine Schönheit ersten Ranges – allerdings schon seit einer Reihe von Jahren! Für mich war sie die verkörperte Juno und sie imponierte mir gewaltig. ‚Versuche Dein Glück,‘ rieth einer der Freunde, ‚bist ja ein gefährlicher Schwerenöther!‘

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_314.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2020)