Seite:Die Gartenlaube (1892) 347.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Außer dem Pastor, dem Doktor. und dem Postmeister, die in das Geheimniß eingeweiht waren, hatte noch niemand so recht verstanden, worum es sich handelte, am wenigsten Konstantin Stevenhagen. Mit zitternden Händen ergriff er den Umschlag, öffnete ihn, entfaltete einen großen Bogen und las die wenigen Zeilen, die ihm seine Ernennung zum „Königlichen Kommissionsrath“ mittheilten.

Es war zu viel, zu unerwartetes Glück für den kleinen bescheidenen Mann; es flimmerte ihm vor den Augen und er taumelte einen Schritt zurück. Ein Glas Wasser, das der Doktor ihm reichte, brachte ihn jedoch sogleich wieder zu sich, und nun suchte er stammelnd und erröthend nach Worten, um dem Herrn Landrath seine Freude, seinen tiefgefühlten Dank für die ihm erwiesene „unverdiente Gnade“ auszusprechen.

Der gute Landrath aber wollte davon nichts hören, sondern antwortete immer nur: „Sie schulden mir keinen Dank; Sie haben nur erhalten, was Sie verdienen; ich gratuliere, Herr Kommissionsrath, ich gratuliere!“

Nun drängten sich auch die anderen Anwesenden herbei, um den neuernannten Würdenträger zu beglückwünschen. Frau Mathilde und Frau Agathe umarmten den Glücklichen unter Thränen; auch der Doktor und der Landrath konnten ihre Rührung ob der innigen und harmlosen Freude, deren Urheber sie waren, kaum verbergen, und jeder suchte durch Worte und Mienen seine herzliche Theilnahme an dem frohen Ereigniß kundzugeben. – Es war ein schöner, großer Augenblick in Herrn Stevenhagens ruhigem Leben!

Während des ganzen Tages blieb das Festhaus mit Glückwünschenden gefüllt. Viele von denjenigen, die schon am Morgen erschienen waren, hielten es für ihre Pflicht, sich ein zweites Mal zu zeigen, um ihre Freude über die hohe Auszeichnung auszusprechen, die Herrn Stevenhagen zu theil geworden war; andere, entferntere Bekannte des Jubilars, die unter gewöhnlichen Umständen kaum daran gedacht haben würden, sich einzustellen, glaubten nicht unterlassen zu dürfen, dem neuernannten Herrn Kommissionsrath ihre Glückwünsche darzubringen; und erst in später Nachmittagstunde jenes ereignißvollen Tages befand sich Herr Konstantin Stevenhagen mit seiner treuen Mathilde allein. Er ließ sich tief aufathmend in den altmodischen großen Sorgenstuhl des Wohnzimmers fallen, legte die Hände ineinander, blickte ernst und nachdenklich vor sich hin und wiederholte mehrere Male leise: „Ja, ja – wer hätte das geglaubt!“ – Die Größe des Ereignisses hatte ihn nahezu überwältigt.

Frau Mathilde nahm die Sache erheblich ruhiger auf, aber auch sie war in hohem Maße erfreut; nicht nur wegen der großen Befriedigung, die ihr lieber Konstantin empfand, sondern weil sie selbst nicht wenig stolz darauf war, in Zukunft den Titel „Frau Rath“ führen zu dürfen.

„Was hat ein Kommissionsrath eigentlich zu thun, Alterchen?“ fragte sie.

„Das weiß ich selbst noch nicht,“ antwortete Konstantin; „aber der Doktor und der Pastor werden es mir gewiß sagen können; das sind studierte Leute, die müssen es wissen.“

„Wirst Du eine Uniform tragen?“

„Das weiß ich auch noch nicht. – Laß nur, Kind, laß nur – störe mich nicht – ich habe den Kopf so voll, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll zu denken, und ich bin den ganzen Tag über noch nicht einen Augenblick zu mir selbst gekommen. – Weißt Du was, liebe Mathilde, ich möchte ein Viertelstündchen auf dem Wall spazieren gehen und frische Luft schöpfen, dann kehre ich zurück, und wir wollen noch einen Imbiß einnehmen, obgleich es gar nicht an der Zeit ist. Aber heute mittag bin ich kaum dazu gekommen, einen Bissen zu essen.“

„Das ist mir ganz recht,“ sagte Frau Mathilde, „geh’ nur! Unterdessen mache ich hier auch ein wenig Ordnung; es steht ja alles die Kreuz und Quer! Die Menge Leute! Ich habe ihrer so viele nicht ’mal an unserem Hochzeitstag in unserem Hause gesehen. Du kannst eine halbe Stunde bleiben und dann sollst Du einen gedeckten Tisch finden.“

Herr Stevenhagen nahm Hut und Stock, trat sinnend auf die Straße und machte sich auf den beabsichtigten Spazierweg. Eine volle Stunde später erst kam er wieder zurück, so daß Frau Mathilde ihn besorgt fragte, ob ihm etwas zugestoßen, daß er so lange ausgeblieben sei. Herr Stevenhagen antwortete zerstreut, er sei nur auf dem Wall auf und ab gegangen und habe nicht gewußt, daß es so spät geworden wäre.

Eine Fülle von Gedanken und Empfindungen hatte in seinem kleinen, an die größte Regelmäßigkeit gewöhnten Kopfe eine wahre Verwirrung angerichtet. Er war nun Beamter, königlicher Beamter – ein Rath, der einzige im Städtchen außer dem Herrn Landrath. Es war unglaublich, und doch war es so! Er konnte die ganze Sache noch nicht fassen und er mußte sich mit dem Pastor und dem Doktor aussprechen. Das sollte morgea geschehen; dann würde er wissen, was er zu thun hätte. Einstweilen schwelgte er in dem geradezu beklemmenden Gefühl, daß ihm ein großes unerwartetes Glück zugefallen sei, und daß er dieses Glück verdient haben solle – denn das hatte ihm ja der Herr Landrath wohl zwanzigmal wiederholt. Er, Konstantin Stevenhagen, mußte doch wirklich ein bedeutenderer Mann sein, als er bis dahin in seiner unbegründeten Bescheidenheit geglaubt hatte.

Er konnte bei Tische nur wenig essen und abends zum ersten Male in seinem Leben vor Aufregung nicht einschlafen. Erst gegen Morgen fand er Ruhe, und – was seit seiner Verheirathung noch nicht vorgekommen war – Frau Mathilde mußte ihn wecken, um zu sagen, es sei Zeit für ihn, sich anzuziehen; der Laden werde in einer halben Stunde geöffnet.

Der Laden? – War es denkbar, daß er, der Herr Rath, nach wie vor mit der Elle in der Hand hinter dem Ladentisch stehen sollte, um jeden, der dort eintrat, zu bedienen und dankend einige Groschen für eine halbe Elle Kattun oder Band einzukassieren?

„Ich will zunächst zu Nehring und zum Pastor gehen und mit ihnen sprechen. Paß Du nur auf den Laden auf; sonst kann es ja auch Fritz thun!“

Fritz war ein kleiner Mann von etwa vierzig Jahren, der als Buchhalter, Korrespondent und häufig auch als Verkäufer Herrn Stevenhagen seit zwanzig Jahren zur Seite stand und sich durch seine am vorhergehenden Tage erfolgte Ernennung zum Prokuristen des alten Hauses, dem er diente, ebensosehr gehoben fühlte wie sein hoher Chef durch die Verleihung des Titels eines Kommissionsraths. Fritz Mätzkow stammte aus einer Bauernfamilie; er war als ein kränkliches Kind im Städtchen erzogen und wegen „allgemeiner Körperschwäche“ vom Militärdienst befreit worden. Er besaß alle Eigenschaften, die Herr Stevenhagen von seinem Arbeitsgehilfen wünschen konnte, war still, bescheiden, grundehrlich und betrachtete das Geschäft, in dem er arbeitete, als etwas ungemein Bedeutendes und dessen Chef, Herrn Konstantin Stevenhagen, als einen hochstehenden angesehenen Mann, dem er Verehrung schuldete und bereitwilligst zollte.

„Jawohl,“ sagte Frau Mathilde, „Fritz und ich werden im Laden schon alles besorgen, geh’ nur etwas spazieren oder mache einige Besuche; das wird Dich zerstreuen.“

„Ich brauche keine Zerstreuung, liebes Kind,“ antwortete Stevenhagen würdevoll. „Ich will nur zum Doktor und Pastor gehen, um Auskunft über meine neue Stellung einzuholen.“

„Recht so – hole Dir nur Auskunft, lieber Alter!“ sagte Frau Mathilde, und Herr Stevenhagen machte sich auf den Weg, nachdem er sich angekleidet und den Morgenkaffee eine gute Stunde später als gewöhnlich eingenommen hatte; aber seit gestern ging soviel Außergewöhnliches im Hause vor, daß diese Unregelmäßigkeit, die Frau Mathilde unter anderen Umständen in Erstaunen versetzt haben würde, kaum von ihr bemerkt wurde.

Der Herr Pastor war nicht zu Hause; er war nach einem benachbarten Dorfe gefahren, um einen Amtsbruder zu besuchen. Darauf ging Herr Stevenhagen zum Doktor, der ihm im Schlafrock, eine Zeitung in der Hand, die Pfeife im Munde, entgegentrat.

Nehring war im ersten Augenblick beunruhigt, Stevenhagen zu einer Stunde zu sehen, welche dieser für gewöhnlich der geschäftlichen Thätigkeit im Verkaufsladen widmete; aber seine Besorgniß, die Aufregungen des letzten Tages möchten seinen alten Freund vielleicht krank gemacht haben, legte sich bald, als dieser ohne Umschweife sagte, er sei gekommen, um sich zu erkundigen, welcher Art die Auszeichnung eigentlich sei, die ihm gestern durch seine Ernennung zum Kommissionsrath zu theil geworden.

Der Doktor lächelte vor sich hin, aber es war ein vollständig harmloses Lächeln und es konnte Herrn Stevenhagen auch nicht von ferne der Gedanke kommen, es sei ein ironisches, und Nehring mache sich über ihn lustig. Das war auch keineswegs der Fall. Der Doktor erkannte an der Wichtigkeit, die Herr Stevenhagen dem Titel beilegte, daß er sein Ziel, dem guten Manne eine Freude zu bereiten, vollauf erreicht habe; und das gereichte ihm

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_347.jpg&oldid=- (Version vom 22.8.2020)