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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

An der Stätte meiner Kindheit.

Fern verrauschte Kinderjahre,
Gebt zurück mir eine Stunde,
Eine einz’ge wunderbare
Aus der Welt der Märchenkunde!

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Laßt mir duften eure Blüthe,

Eure Spiele mich entzücken
Und die Gaben frommer Güte
Mich vom Weihnachtsbaume pflücken!

Sel’gen Rausches leise Wogen

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Lasset an das Herz mir schlagen,

Eures Himmels Regenbogen
Auf mein Haupt herniederragen!

Nur den Saum von deinem Kleide,
Kindheit, möcht’ zum Kuß ich fassen,

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Eh’ ich von der Stätte scheide,

Wo ich dich zurückgelassen.
 Karl Müller.


Der geschichtliche Don Carlos.

Von Eduard Schulte.

Die Gestalt des Don Carlos haftet in den Vorstellungen und im Gedächtniß der gebildeten Deutschen so, wie Schiller sie gezeichnet hat, und keine geschichtliche Kenntniß wird dies Bild, wie wir es nun einmal mit dem Dichter festhalten, je verdrängen oder ersetzen. Die geschichtliche Kritik, so mächtig sie in ihrem eigentlichen Wirkungskreis sein mag, ist ohnmächtig gegen eine große und volksthümliche Dichtung und würde, auch wenn sie mächtiger wäre, deren gutes Recht nicht stören wollen und sollen. Nur die Grundzüge im Leben sehr bekannter Persönlichkeiten darf der Dichter, der ein historisches Drama schaffen will, nicht ändern; in untergeordneten Dingen und gegenüber unbedeutenden und unbekannten Personen hat er freie Hand. Der unglückliche Sohn König Philipps ragte nur durch seinen Rang hervor, seine Geschichte war, als Schiller seinen „Don Carlos“ schrieb, sehr wenig bekannt und durch Fabeln entstellt, und so konnte der Dichter sie für seine Zwecke verwenden und zurechtlegen. Zu erfahren, wie diese Geschichte sich in Wirklichkeit abgespielt hat, wird dem Leser, welcher von Schillers Drama herkommt, Enttäuschungen bereiten; aber ohne Interesse ist es nicht.

Die Hauptquelle, welche Schiller benutzt hat, war eine zuerst im Jahre 1672 erschienene geschichtliche Novelle, die den französischen Abbé Saint Réal zum Verfasser hatte. Der meisterhafte Stil der Schrift und die politische Lage nach ihrem Erscheinen gewann ihr viele Leser. Ranke sagt im Hinblick auf sie: „Die spanische Macht war nicht mehr furchtbar; doch der allgemeine Haß, den sie einst in ganz Europa wider sich erweckt hatte, war noch sehr lebendig. Er konnte um so mehr litterarisch werden, weil er sich bloß in Erinnerungen bewegte. Dies Rachegefühl wußte Réal aufs geschickteste anzuregen.“

Erfindungen wie die, daß Philipp in Elisabeth die Braut seines Sohnes geheirathet und dann wegen ihrer Neigung zu dem Prinzen habe töten lassen, wurden durch Réal entweder aufgebracht oder doch verbreitet.

Den Forschungen unseres Jahrhunderts ist es vorbehalten geblieben, die echten und entscheidenden Belege für die Geschichte des Don Carlos, wie sie namentlich in den sorgfältigen Berichten der venetianischen und anderer Gesandten vorliegen, aus einer Reihe von Archiven ans Licht zu ziehen und kritisch zu sichten. Sie ist heute in fast allen Punkten mit ausreichender Sicherheit und Genauigkeit bekannt.

König Philipp II. von Spanien regierte von 1556 bis 1598. Er stammte aus der Ehe Kaiser Karls V., der in Spanien König Carlos I. hieß, mit Isabella von Portugal und war im Jahre 1527 in dem alten Schlosse der kastilischen Könige zu Valladolid geboren. Er war viermal verheirathet, nämlich mit Maria von Portugal und dann mit Maria Tudor, die beide seine Basen waren, dann mit Elisabeth von Valois und endlich mit seiner Nichte Anna von Oesterreich. Alle vier Frauen sind jung gestorben. Nur von der zweiten Frau hatte er keine Nachkommen; aber die meisten seiner Kinder starben früh. Der einzige männliche Sprößling, der ihn überlebte, war der Sohn der Anna von Oesterreich, der als König Philipp III. sein Nachfolger wurde.

Don Carlos, das einzige Kind der ersten Ehe Philipps, wurde am 8. Juli 1545 geboren. Seine Mutter, Maria von Portugal, starb vier Tage nach seiner Geburt. Während der Knabenjahre Karls, zwischen seinem vierten und vierzehnten Lebensjahr, konnte der Vater, der sich jahrelang in den Niederlanden und in England aufhielt, sich wenig um ihn bekümmern, und unter den Händen Fremder wuchs er auf. Er lernte spät sprechen und seine Sprache blieb stammelnd. Den Unterricht ertheilte und leitete ein Edelmann aus Valencia, ein vertrauenswürdiger Mann mit tüchtigen Kenntnissen, der in den Niederlanden studiert und Deutschland und Italien bereist hatte, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_400.jpg&oldid=- (Version vom 9.4.2024)