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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)


so hätte der Bursche zeitlebens an der Maschine stehen müssen. Der Gedanke muß die Leute eigentlich wüthend machen.“

„Ich fasse die Sache anders auf,“ meinte Doktor Schindling, der langjährige Hausarzt der Familie Berry und der ganzen Arbeiterschaft der Fabrik – der einzige Mann, welcher imstande war, den schroffen Grundsätzen des Kommerzienraths da und dort ein Zugeständniß abzuringen zum Wohle der Arbeiter. „Wenn dieser Davis, mit dessen Trunksucht es übrigens nicht so schlimm stand“ – er blickte scharf auf den Direktor – „seine Pflicht gethan hätte, so wäre der Junge noch bei seiner braven Mutter; ich kannte die Frau –“

„Ein armes kränkliches Ding, diese Mutter!“ warf der Direktor ein und leerte mit Behagen sein Glas.

„Aber doch eine Mutter!“ fuhr der Arzt in erregtem Tone fort. „Und sie hätte ihren Sohn davor bewahrt, an einem Christabend als – als“ – sein gefurchtes ehrliches Antlitz röthete sich, er stotterte – „als der Zwillingsbruder eines Automaten verschenkt zu werden,“ stieß er dann rasch hervor, wie um eine Last abzuschütteln, die ihn schon lange bedrückte.

Die kühnen Worte hatten eine starke Wirkung; das Entwürdigende und Anmaßende des ganzen Vorganges stand jetzt plötzlich vor aller Augen. Man sah sich betroffen an, nur der Direktor brach in ein lautes Gelächter aus über die Auffasung des Arztes, und dem Prokuristen Merk blieb der Bissen im Munde stecken vor Entsetzen über die Frechheit des Arztes, der es wagte, eine so rührende, in seinen Augen unbegreiflich großartige That des Chefs zu bekritteln.

„Aber guter Doktor,“ erwiderte Berry, den der schonungslose Tadel am empfindlichsten getroffen hatte, „wie kann man einem harmlosen Scherz eine solch tragische Deutung geben? Niemand dachte an etwas derartiges! Doch ich sage es ja immer, wir mögen thun, was wir wollen, mit vollen Händen geben, stiften, ein noch so weites Herz haben – es wird uns stets übel ausgelegt und Gedanken werden uns untergeschoben, die wir nicht haben. Doktor, Doktor, ich merke es schon lange, Sie sind auch schon angesteckt von dem schleichenden Fieber in den Arbeiterhäusern, und gerade Sie sollten diese Menschen doch kennen mit ihrem unversöhnlichen Hasse, ihren wahnsinnigen unerfüllbaren Wünschen. Wieviele sorgenvolle kostspielige Jahre ernsten Studiums haben Sie gebraucht, bis Sie etwas geworden sind, wie quälen Sie sich seitdem das ganze Jahr hindurch, oft mit Gefahr Ihrer Gesundheit, Ihres Lebens. Steht Ihr Verdienst nur einigermaßen im Einklang mit diesen Opfern, diesen Mühen? Kümmert sich jemand auch um Sie, wenn es Ihnen trotz aller Kenntnisse nicht gelingt, eine Praxis zu erringen, wenn Sie erwerbsunfähig werden? Und murren Sie deshalb, hassen Sie deshalb die Besitzenden? Sie denken nicht daran! Und dieses Volk, das alle diese geistigen mühevollen Vorbedingungen der Existenz gar nicht kennt, von dem man nichts verlangt als rohe thierische Muskelkraft und mechanischen Fleiß, für dessen materielle Sicherstellung gegen alle Wechselfälle des Lebens die Besten unter uns sich den Kopf zerbrechen und der Staat mit seiner ganzen Macht eintritt – dieses Volk kann nichts als murren, hassen, unseren besten Absichten die häßlichsten Beweggründe unterschieben. Und nun stimmen Sie mit diesen Leuten, das verstehe ich einfach nicht, Doktor!“

Aufs höchste erregt, hielt Berry inne.

„Der Vergleich zwischen mir und dem Arbeiter dürfte nicht ganz sachhaltig sein,“ erwiderte der Arzt, ohne seine Ruhe zu verlieren. „Sie übersehen den ideellen Lohn der geistigen Arbeit, insbesondere meines Berufes, und der ist nicht hoch genug anzuschlagen: er muß den Ausschlag geben beim Abwägen von Arbeit und Gewinn; ist das nicht der Fall, dann beherrscht der Haß nicht weniger auch den geistigen Arbeiter. Die Beispiele haben wir täglich vor Augen; die ganze krankhafte Unzufriedenheit, dieser Geist einer gefährlichen Begehrlichkeit, der jetzt durch alle Schichten geht – sie haben meiner Ansicht nach ihren Grund lediglich in der steigenden Geringschätzung des ideelleu Erfolges. Der Arbeiter aber – wenigstens der mechanisch thätige, der Fabrikarbeiter, braucht diesen Posten nicht erst wie viele von uns aus seiner Lebensrechnung zu streichen, er kennt ihn überhaupt nicht. Die Maschine bringt ihn drum, die ihn selbst zur Maschine entwürdigt. Daher, wenn er seine Arbeit gegen den Gewinn hält, das furchtbare Deficit, dessen Wirkung bei ihm begreiflich, bei uns ein Verbrechen ist.“

Der Doktor hatte voll tiefster Ueberzeugung gesprochen; selbst Herr von Zerbst, dessen Theilnahme für dieses Thema nicht eben groß zu sein schien, hörte auf, gähnend mit dem Messer zu spielen, und wurde aufmerksam.

„Und wie, glauben Sie, könnte dieses Deficit gedeckt werden?“ fragte Herr Berry, den Kopf in die Hand stützend.

„Nur auf einem Wege – indem man den verloren gegangenen Posten wieder in die Rechnung setzt.“

„Den ideellen Erfolg?“ rief der Direktor lachend. „Den Vorschlag machen Sie einmal in einer Arbeiterversammlung, dann können Sie etwas zu hören bekommen, was Sie vollständig kuriert, Herr Doktor! Mit einer einprozentigen Lohnerhöhung schlage ich Sie aus dem Felde.“

„Das glaube ich Ihnen. Ein unbekannter Werth, ein X, hat keinen Platz in solcher Rechnung; zuvor gilt es, dieses X zu einer bekannten Größe zu machen; das heißt, man muß durch geistige und sittliche Erziehung den Gesichtskreis des Arbeiters erweitern, damit er den inneren Werth des Schaffens verstehen lernt und mit gehobenem Selbstbewußtsein auch in sich ein nützliches Glied der Gesellschaft sieht. Darin allein liegt Heilung, nicht in wilden Umsturzplänen und Phantasien von ungeschmälerter dauernder Gleichheit, die nur zerstören können; aber ebensowenig in Gnadenakten und Almosen, die man dem Arbeiter sehr von oben herab anbietet, die ihn zum Bettler herabwürdigen. Solche selbstherrliche Wohlthätigkeitsanfälle –“

„Wie zum Beispiel die Adoption dieses Knaben, das meinen Sie doch,“ warf die Kommerzienräthin gereizt dazwischen.

„Nein, die Thatsache der Adoption selbst meine ich nicht; die verdient nur Anerkennung. Aber – aber – das ist es eben – wenn wir alle geben würden, wie wir geben sollten! Die Art und Weise dieser Adoption, die paßt mir nicht. Ich weiß es wohl, Sie meinen es nicht schlimm, Frau Kommerzienrath; allein ich kann mir nicht helfen, ich sehe an dieser sonst so kostbaren Frucht der Menschenliebe einen faulen Fleck, und das schmerzt mich.“

„Habe ich Dir nicht die Wahrheit vorausgesagt, als Du mir Deinen Plan mit dem Jungen vorlegtest?“ rief Berry seiner Frau zu „Doktor, Sie machen mich noch wirklich zu dem, wofür ich gehalten werde, zu einem erbarmungslosen Tyrannen. Uebrigens sehen Sie einmal, der Kleine scheint sich ganz gut in seine traurige Lage zu finden. Claire stopft ihm die Backen voll und verschwendet all ihre Liebenswürdigkeit an ihn.“

„Ich kenne manchen Jungen, der sich gern als Automat Nummer zwei von dem Herrn Kommerzienrath verschenken ließe,“ meinte der Prokurist, über seinen Witz herzlich lachend.

„Und sind wir denn nicht alle Automaten des Schicksals?“ rief Berry. „Pah, nur keine Sentimentalität – die hasse ich! Das bringt das Geschäft mit sich – Eisen!“

Die Lichter des Baumes waren herabgebrannt und wurden von den Bedienten ausgelöscht. Die Gesellschaft begab sich in das Nebenzimmer, in welchem eine duftende Bowle aufgetragen war. Der feurige Trank löste die Zungen zu harmloserem Gespräch, und die durch die vorausgehende Erörterung verursachte Spannung verwandelte sich bald in laute Heiterkeit.

Nebenan ging es nicht weniger lustig zu; das helle Lachen der Kinder, die zurückgeblieben waren, Trompetenstöße, Trommelwirbel, das Gequiek von Puppen, das Knallen von kleinen Pistolen drang ununterbrochen herein. Jeden Augenblick kam Claire zum Papa gelaufen, um irgend einen neuentdeckten Vorzug ihrer Geschenke zu melden. Ihr Bruder vertrug sich leidlich mit Hänschen. Der Pony war schon längst abgeführt worden in seinen wirklichen Stall, so beschäftigte Otto sich hauptsächlich mit seinem militärischen Besitz, für den er eine besondere Neigung zu haben schien. Dabei fand er es ganz selbstverständlich, daß Hänschen auf seinen Befehl mit dem kleinen Schießprügel herumhantierte, und er traf ganz vortrefflich den barschen Ton der Unteroffiziere, welche er täglich auf dem Gange zur Schule durch das Gitter des Kasernenhofes mit höchstem Antheil beobachtete.

Anfangs ging der Kleine willig auf das Spiel ein, so großen Widerspruch auch Claire dagegen erhob, da sie eine andere Verwendung für ihn hatte – den Puppenwagen fahren und der kleinen porzellanenen Gesellschaft das Nachtessen servieren. Als aber Otto auch die Kasernenpüffe und die heimlichen Fußtritte nachahmte, da wurde der Rekrut unwillig, warf das Gewehr weg und verlangte ungestüm einen Tausch der Rollen indem er nach Ottos

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 459. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_459.jpg&oldid=- (Version vom 26.6.2021)