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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Menschen tiefe Blicke in ihr eignes Innere und sehen es mit Dichteraugen an.

Alle Vorbedeutungen, Zeichen sowohl als Träume, wurden von den Vorfahren in ein System gebracht; es entstand die krause Kunst der Zeichendeuter, die Mantik oder die Divination, eine Wissenschaft, die man studierte, gleichsam eine Sprache, die man trieb wie Hebräisch oder Sanskrit. Wer sie innehatte, wurde zum Professor für sie ernannt, zum Hofwahrsager oder zum offiziellen Augur, als welcher er seine gründlichen Kenntnisse freilich mitunter dem Staatswohl unterordnen mußte. Und da nun „die Wissenschaft“ entdeckt und ein guter Grund gelegt war, so folgten bald auch schöne schriftliche Aufzeichnungen, Hand- und Lehrbücher der Kunst, kurzgefaßte Kompendien, Anleitungen zum Verständniß der göttlichen Zeichensprache, was um so willkommener war, als sich doch nicht jeder kleine Mann den Luxus eines eigenen Zeichendeuters gestatten konnte. Die Träume insbesondere wurden gesammelt und erklärt, wie schwierige Wörter in einem Wörterbuch, so daß Hinz und Kunz nachsehen und das Nöthige finden konnte, und aus diesen Sammlungen erwuchsen die Traumbücher, die gleich den Punktierbüchern eine eigene Gattung der Litteratur darstellen, auf Jahrmärkten und auf den Bänken der fliegenden Buchhändler aufliegen heute wie vor Jahrhunderten, die heute wie vor Jahrhunderten vom Volke, von Christen, Juden und Mohammedanern gekauft und gelesen werden.

Das älteste Traumbuch hat man bruchstückweise auf Ziegelsteinen in der Bibliolhek von Ninive gefunden. Im klassischen Alterthum erfreute sich des höchsten Ansehens das Traumbuch des Artemidorus, eines Ephesers, der zu Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr. lebte, sein Fach gründlich verstand und in „spekulativen“ und „allegorischen“ Träumen bewandert war wie einer; sein griechisch geschriebenes Buch ist in der That sehr merkwürdig zu lesen. Im Jahre 1563 erschien zu Basel ein lateinisches Traumbuch von dem berühmten Sonderling Cardanus, das im selben Jahre ins Deutsche übersetzt ward. Seitdem schossen diese nützlichen Schmöker, meist schlecht gedruckt und ärmlich ausgestattet, aber „nach Erfahrungen eines alten Traumdeuters zusammengestellt“, auf wie die Pilze; es giebt ihrer fast in allen Sprachen. In Italien riß mit dem Aufkommen der Lotterie die Sitte ein, alle Traumbilder in Ziffern zu übersetzen und in den Traumbüchern Aufschlüsse über Glücksnummern zu geben und zu suchen, daher die italienischen Traumbücher gewöhnlich pomphafte Nebentitel wie „Echo des Glückes“, „Hafen der Fortuna“ tragen. Der Italiener, dieser Zahlenmensch, dieser moderne Pythagoras, nimmt jedes Tagesereigniß und was seine Vorfahren als ein Augurium angesehen hätten, für eine verhüllte Ziffer, jedes durchgehende Pferd, jeder zerbrochene Krug verwandelt sich ihm in eine Zahl; es ist also nur folgerichtig, wenn er diese Spielerei auch auf die Träume ausdehnt. Mit seiner Zahlenwuth hat er Oesterreich angesteckt, wo in unserem Jahrhundert den Lottokollekteuren der Traumbuchhandel verboten ward, aber das kleine Zahlenlotto noch immer seine guten Tage hat, so oft eine hervorragende Persönlichkeit stirbt. Mit Hilfe der Traumbücher benutzt man die wichtigsten Ereignisse im Lebenslaufe des Verstorbenen zu Kombinationen, die stets großen Anklang finden. So wurden in Rom, als Papst Pius IX. starb, die sogenannten Papstnummern, in Ungarn vor einigen Jahren die Nummern der deutschen Kaiserin Augusta massenhaft gesetzt. Aus der Summe der Lebensjahre (78), dem Geburtsjahr (1811), dem Alter der Braut bei der Vermählung (18) stellten die Sternseher, die Wahrsager und die Weisen in Oesterreich-Ungarn eine Terne zusammen, und die Einnehmer konnten nicht genug Riscontri über die Nummern 11, 18 und 78 schreiben. Und was das Sonderbarste war: in Ofen wurden die Nummern 11, 18, 78 thatsächlich gezogen.

So schreiben sich die Gefangenen in Wien die Nummern ihrer Zelle auf, um darauf zu setzen und wenn Pater Abraham in der Predigt den Leuten ins Gewissen redet: „Ja, so seid Ihr! Da sieht einer im Traume die Nummer 45 oder die Nummer 46, gleich läuft er hin und spielt sie, seine paar Kreuzer zu verthun!“ – so kann er sicher sein, vertraulich befragt zu werden: „Pater Abraham, wie waren die beiden Nummern?“

Nicht ohne Vorbedacht haben wir das Traumbuch mit einem Wörterbuch verglichen. Denn es geht von der Voraussetzung aus, daß im Traume eine Art Natursprache gegeben sei, die der Verfasser gewissermaßen in die Landessprache übersetze, und daß diese Natursprache, geringe Verschiebungen abgerechnet, in allen Ländern und zu allen Zeiten dieselbe sei. In diesem Falle hätte ein gutes Traumbuch freilich noch mehr Werth als ein Weltsprachewörterbuch. Leider ist die umlaufende Ware aller tieferen Beziehungen, ja jedes Nachklangs aller dichterischer Vorstellungen völlig bar. Am ehesten findet man dergleichen noch in der mündlichen Ueberlieferung des Volkes.

Unglück, Trauer, Krankheit, Tod, tausendfältiges Herzeleid, dergleichen Jammer wird mit Vorliebe prophezeit; das Leben ist ja auch danach! Was bedeuten kleine Kinder? – Nichts als Unangenehmes, Schererei und Sorge. – Was bedeuten Eier im Traume? – Fürchterlichen Aerger oder gar einen Todesfall. Eier sind, namentlich in der Mehrzahl, kein guter Traum. Zwar ist es eine bekannte Geschichte, die Johannes Pauli in dem beliebten Volksbuch „Schimpff und Ernst“ dem alten Cicero nacherzählt, daß einer einmal im Traume ein rohes Ei ausgeschlürft und daß ihm das Eiweiß Silber, das Eidotter rothes Gold bedeutet habe. Er machte eine Erbschaft und schenkte dem Tranmdeuter zwanzig Pfennige, worauf der meinte, ob es nicht für das Dotter auch was gebe! – Hilft nichts, Eier taugen nun einmal nichts, und wenn’s frischgelegte Straußeneier wären; das Volk sagt sprichwörtlich: „He drömt vun gele Eiern“, um auszudrücken, er sei irre.

Die Traumdeutung hat gelegentlich eine förmliche Kultur der Träume nach sich gezogen: sie wurden nicht mehr abgewartet und hingenommen wie sie kamen, sondern angebaut wie Getreide, gezüchtet wie die fetten Kühe im Traume Pharaos. Man suchte sie zu bekommen, man legte sich an geweihter Stätte nieder, um im Tempelschlaf Besuche aus dem Jenseits zu empfangen. Es gab eine Zeit, wo die Götter den Kranken oder ihren Angehörigen im Traume erschienen und Rezepte verschrieben, die nicht so viel kosteten wie heute. Ein Soldat der Kaisergarde im alten Rom war von einem tollen Hunde gebissen worden – flugs träumte seiner Mutter in Spanien von einem unschätzbaren Mittel gegen die Hundswuth, das noch Plinius erwähnt. Der Feldherr Ptolemäus hatte eine gefährliche Schußwunde, Alexander der Große erfuhr im Traume, was für ein Pflaster aufzulegen sei. Der Architekt Mnesikles war beim Baue der Propyläen vom Gerüst gefallen, da erschien Pallas Athene dem Perikles im Traume und sagte: nimm das Kräutlein Ehrenpreis. Noch Kaiser Karl dem Großen bezeichnete ein Engel im Traume die Eberwurz als das untrügliche Mittel gegen die Pest, daher auch die Pflanze ihm zu Ehren „Carlina“ heißt. Es handelte sich nun darum, sich die nützlichen Anweisungen methodisch zu verschaffen; die Kranken wurden zu dem Ende feierlich in den Tempel des Aeskulap gebracht, um hier auf dem Felle eines frischgeschlachteten Opferthieres eine Nacht zuzubringen und so zum Gotte der Heilkunde gleichsam in die Sprechstunde zu gehen. Man nannte das „Inkubation“ – sie fand auch in Apollotempeln und Serapistempeln statt; Blinde gingen gewöhnlich in einen Isistempel. Die Priester, welche den Tempelschlaf einleiteten und die Träume der Kranken auslegten, träumten die specifischen Heilmittel wohl auch selbst für ihre Patienten.

So sehen wir, wie die räthselhafte Erscheinung der Träume den Menschen auf die seltsamsten Wege und Abwege leitete; die natürliche Erklärung der Gebilde, welche vor dem Schlafenden auftauchte, entzog sich dem Geiste des Wachenden. Doch nur der Weise übt in diesem Falle bescheidene Entsagung; die unkritische Menge aber bleibt vor der offenen Frage nicht stehen. Weil sie das Woher? nicht ergründen konnte, so verlangte sie wenigstens nach einem Wozu? Was ihr Verstand nicht zu begreifen vermochte, das deutete die Phantasie aus; und um diesen Ausdeutungen den Schein des Willkürlichen zu nehmen, um sie gleichsam mit Gesetzeskraft zu umkleiden, wurden sie aufgeschrieben, kodifiziert! Das ist der Entstehungsweg jener unscheinbaren Hefte, die auf den Gemüthszustand weiter Kreise auch heute noch von wesentlichem und leider selten glücklichem Einfluß sind.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_607.jpg&oldid=- (Version vom 10.4.2024)