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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

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Der „blinde Passagier“.

Die fürstlich Thurn und Taxissche Post! Aechzend folgt der orange-gelbe Marterkasten den wegemüden Gäulen, die in den ausgewaschenen Geleisen des steilen Hohlweges dahinkriechen wie die Schnecken – kaum ein wenig schneller als der verwetterte Wanderbursch daneben, welchem die jahrelange Last des Felleisens und ein unstetes Straßen- und Pennenleben vorzeitig die Haare gebleicht hat. Lang war der Winter – schier allzulang für den alten Nassauer; aber der Odem des Frühlings zieht durch das Land und erweckt unwiderstehlich die Wanderlust; fast heiß sendet die Sonne ihre Strahlen herab; die Lerche wiegt sich jubelnd im blauen Aethermeer und unablässig wiederholt der Fink seinen lockenden Werbegesang. Auch der Schwager hoch oben auf dem Bocke wird von der Frühlingsstimmung ergriffen; er setzt das gelbe Horn an den Mund und schmettert manch’ altes Lied in die Welt hinaus: „Schier dreißig Jahre bist du alt“ und: „Als ich auf meiner Bleiche“, „Muß i denn, muß i denn“ und so weiter, so daß selbst die beiden trübseligen Reiseonkel drinnen im dumpfen Kasten das Schiebefenster niederlassen und andächtig zuhören. Endlich ist die Höhe erklommen; instinktmäßig greifen die Pferde aus und schlagen einen gelinden Trab an – aber was ist das? Das Horn giebt einen grellen Mißton von sich und fällt schnellend auf seinen Platz an der Mantelseite, und zu gleicher Zeit saust blitzschnell und mehrmals hintereinander die Peitsche über das Verdeck hinüber nach dem Wagenkasten. Klingt das nicht wie ein dumpfes Schmerzensgeheul? Schadenfroh schaut der Schwager nach hinten aus, und richtig! dicht hinter dem Wagen kommt unser alter Wandergeselle wieder in Sicht, indem er mörderlich fluchend mit dem Knotenstock droht. Der Hieb hat gesessen.

„Warte, Kerl, ich werde Dir das Blindenspielen austreiben!“ brummt der Rosselenker und treibt die Pferde zur Eile an. „Dachte mir doch gleich, daß der alte Fuchs die schöne Gelegenheit zum Aufsitzen nicht verpassen würde!“ Und im nächsten Wirthshaus erzählt er bei einer Halben echt Bayerisch den Reiseonkeln das Ereigniß des Tages.

O diese gute alte Zeit!

Die Drahtseilbahn in der „Neuen Welt“ zu Berlin.
Originalzeichnung von Willy Stöwer.

Die Gegenwart mit ihren großartigen Fortbewegungsmaschinen und ihrem Massenverkehr läßt die Spezies der blinden Passagiere aller Orten und Enden wie Pilze emporschießen. Der Zielpunkt aller geldarmen Menschenkinder, die mit ein wenig Fixigkeit für ihr „Fortkommen“ sorgen wollen, ist vor allem die Eisenbahn. Die große Masse dieser Leute verfährt ungeheuer einfach: sie lösen überhaupt keine Karte, sondern fahren eben drauf los. Andere wissen durch allerlei Schliche und Ränke die Beamten zu täuschen; die Art der Ausführung richtet sich natürlich nach den Umständen und den Verhältnissen. Einen Begriff, welche Ausdehnung ein solches unehrliches Thun annehmen kann, giebt uns die statistische Aufzeichnung einer der größeren englischen Eisenbahnen, der Nordbahn. Dort wurden im Jahre 1890 von den Kontrollbeamten nicht weniger als 27 101 blinde Reisende gemeldet, denen an Straf- und Fahrgeldern 14 290 Mark abgenommen wurden. Vergleicht man damit die Anzahl der von der genannten Bahn überhaupt beförderten Personen, die sich auf 31 Millionen belaufen, so kommen allerdings nur neun hundertstel Prozent der Reisenden auf die „Blinden“. Das ist indessen immer noch genug!

Aber es giebt auch Leute, die es verschmähen, auf ausgetretenen Wegen zu wandeln, Pfadfinder der Zunft, welche auch als „Blinde“ ihrem eigenartigen Geschmack folgen. Ein Ritt auf den Wagenpuffern oder auf schwankender Kettenunterlage zwischen Himmel und Erde in sausendem Fluge ist z. B. nicht jedermanns Sache. Dazu gehören unstreitig sehr abgehärtete Nerven.

Besser schon ist’s, in irgend einem Schlupfwinkel drinnen im Wagen selbst. Ein junger reisedurstiger Mann kampierte, wie er nachträglich selbst gestand, während zweier Nächte auf der Strecke von Dresden nach Erfurt im – Bremshäuschen eines Güterzuges, ohne entdeckt zu werden. Verschmitzter verfuhr ein anderer. Auf einer Reise von Halle nach Magdeburg belästigte uns ungemein ein großer unter der Bank lang hingestreckter Hund, der gar nicht weichen wollte. Auf allseitig erhobene Beschwerde, und da niemand des Hundes Herr sein wollte, mußte der Schaffner einschreiten; unser vermeintlicher Nero aber entpuppte sich als ein junger Mensch, der – es war spät abends – ein Fell über sich gezogen hatte. Er wurde trotz Zeter- und Mordiogeschrei hervorgezogen und auf der nächsten Station der Polizei übergeben.

Daß man einen ausgewachsenen Menschen als Handgepäck bei sich führt, dürfte zum mindesten auf einen hervorragend ausgebildeten Sparsamkeitssinn schließen lassen. Zu der Zeit, da der Zonentarif noch nicht eingeführt war, geschah es, daß auf einer kleinen, von Handelsleuten viel besuchten Station der ungarischen Tiefebene, des „Alföld“, ein Reisender einen schweren Sack mühsam nach einem Coupé dritter Klasse schleppte, wo er denselben aufrecht neben sich an die Bank stellte. Vergebens verlangte der Schaffner, daß er den Sack wenigstens unter die Bank lege – „Isten örizzen!“ (Gott bewahre!) Der Reisende und seine Gefährten erhoben hiergegen den lebhaftesten Widerspruch, bis der Beamte die Geduld verlor, selbst Hand anlegte und den Sack auf den Boden warf. Darauf allgemeines Gezeter sämmtlicher Insassen, übertönt durch einen gellenden Wehschrei, der aus dem Sacke selbst kam. Man öffnete diesen – und heraus schaute, von schallendem Gelächter begrüßt, ein mit Hobelspänen bepuderter Krauskopf. Er gehörte dem hoffnungsvollen Sprößling unseres Reisenden, der sich mit Mühe aus seiner seltsamen Umhüllung herausschälte.

Eine in der neueren Zeit durch einen Wiener in Aufnahme gekommene, früher schon in Rußland und Amerika gepflegte besondere Abart des „Blinden“ ist der „Kistenreisende“. Jener Mann, Namens Hermann Zeitung, baute sich in der schönen Donaustadt einen Bretterkasten, groß genug, um seine eigene Person und ein wenig Proviant aufzunehmen, bezeichnete diese „Sendung“ als Holzfigur und schickte sich so durch Vermittlung eines Spediteurs an seine eigene Adresse als Eilgut bahnlagernd

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 608. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_608.jpg&oldid=- (Version vom 11.4.2024)