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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Medea stattet sie mit dämonischen Zügen aus, die eine ergreifende Wirkung ausüben. Eine Glanzleistung war ihre Margarethe in dem von Dingelstedt eingerichteten Königsdrama Shakespeares „Heinrich VI.“. Am Münchener Hoftheater spielte sie diese Furie der englischen Bürgerkriege, für welche ihr jedes Vorbild fehlte, selbstschöpferisch mit hinreißender Kraft, so daß die Kritik ihr warme Anerkennung zollte. Auch ihre Sappho, ihre Phädra, ihre Thusnelda und Isabella sind hervorragende Leistungen. Die Künstlerin hat ausdrucksvolle Züge, dunkle Augen, eine edle Gestalt und plastische Bewegungen.

Wenden wir uns jetzt jenen Schauspielerinnen zu, welche im Laufe des letzten Jahrzehnts sich einen Namen gemacht haben! Eine geborene Kölnerin wie Charlotte Wolter, ist Gertrud Giers in die Fußtapfen der Wiener Meisterin getreten. Von der eigenen Mutter ausgebildet, in der Plastik von dem italienischen Meister Perini unterrichtet, spielte Gertrud Giers schon im Alter von sechzehn Jahren ihre Heroinen; denn sie war ein hochgewachsenes deutsches Heldenmädchen. Sie glänzte an den großen Stadttheatern in Hamburg und Frankfurt, feierte in St. Petersburg und New-York Triumphe und ist gegenwärtig am Hoftheater in Hannover engagiert. Ihre äußeren Vorzüge, insbesondere ein sehr modulationsfähiges, glockenhelles Organ von großer Kraft, gehen Hand in Hand mit den inneren: einem feurigen Temperament und einem warm empfindenden Herzen. Ihr Mienenspiel ist höchst beweglich, ihre beredten Augen geben jeder Empfindung seelenvollen Ausdruck; sie arbeitet ihre Rollen mit feinem Verständniß durch. Wir lasen einmal in den Blättern, welch hohe Meinung [[Ernst von Wildenbruch]] von dieser Darstellerin hat, – er erklärte sie für das größte Talent unter den deutschen Bühnenkünstlerinnen. Jedenfalls liegt ihr alles Kühle und Eingelernte fern; sie spielt eben mit dem Herzen und giebt dadurch ihren Gestalten den Ausdruck voller Lebenswahrheit. Als eine vorzügliche Leistung wird ihre Jungfrau von Orleans bewundert; in den beiden großen Monologen und in der Kerkerscene wirkt sie hinreißend; sie bringt in dem Auftritt mit Burgund den Zauber des echt Weiblichen zu gewinnendem Ausdruck und läßt die schlichte Hirtenjungfrau Johanna nicht hinter der begeisterten Prophetin und Kriegerin verschwinden. Ihre Phädra, ihre Messalina, ihre Medea, ihre Iphigenie werden in gleicher Weise von der Kritik gerühmt. Fräulein Giers hat für diese Heldinnen des Alterthums den hohen Schwung, die plastische Gebärde, aber sie hat nichts Versteinertes, sie giebt auch diesen Gestalten ein reiches inneres Leben.

Die erste Heldin des Berliner Hofschauspiels, Rosa Poppe, ist eine Ungarin; ihre Eltern waren wohlhabende Weinbauern und sie hatten zugleich eine Gastwirthschaft, in welcher sie einen Theil ihres Weins ausschenkten; es giebt noch viele, denen die jetzige Berliner Tragödin ein Glas echten Adlersberger kredenzt hat. Sie wurde damals von ihrer Mutter zu einer tüchtigen Hausfrau erzogen, wie diese es war und noch ist. Vom Theater hatte man in den Kreisen des ungarischen Weinbauern keine Ahnung; auch die Tochter des Hauses hatte nie ein Theater gesehen, las aber in der Stille mit Heißhunger die Trauerspiele ihres geliebten Schiller. Durch elementare Ereignisse, Hagel und Ueberschwemmungen, durch ein vierjähriges Krankenlager des Vaters, der auch schließlich ein Opfer seiner Krankheit wurde, verlor die Familie ihr Vermögen, und Rosa Poppe mußte entweder die Hand eines ungeliebten Mannes nehmen oder sich selbst ihr Brot verdienen. Sie entschied sich für das letztere und wurde gegen den Willen aller ihrer Verwandten Schauspielerin. Sie machte das ganze Elend der kleinen Bühnen durch, hatte mit Noth und Sorgen zu kämpfen, bis ihr künstlerischer Lebenslauf allmählich in geregeltere Bahnen einlenkte. Wir finden sie am Wiener Karltheater, am Augsburger Stadttheater; doch erst seit ihrem Auftreten an der Berliner Hofbühne zog sie die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Anfangs schien ihr Spiel noch unausgeglichen und entbehrte des rechten künstlerischen Maßes; sie that hier und dort zu viel; auch die Gebärde war nicht immer angemessen. Doch gerade an der Hofbühne machte sie glänzende Fortschritte, und ihre Medea in der Grillparzerschen Trilogie bezeichnete einen Höhepunkt ihrer Entwicklung, der von der Kritik mit Begeisterung anerkannt wurde. Max Grube, der zuerst Grillparzers „Goldenes Vließ“ als Gesammtdichtung auf die Berliner Bühne gebracht hat, gab dadurch auch der Darstellerin Gelegenheit, den ganzen Entwicklungsgang der Heldin uns vorzuführen, während in der Regel den Heroinen der anderen Bühnen nur die Aufgabe zufällt, die Medea der dritten Abtheilung zu spielen. Diese Entwicklung aber mit aller Gewalt der Liebe und des Hasses brachte Rosa Poppe in ergreifender Weise und mit hinreißender Steigerung zur Anschauung. Ihre Darstellungsweise strebt nach Naturwahrheit, sie vermeidet den getragenen deklamatorischen Ton, doch nimmt sie nicht immer genug Rücksicht auf die dichterische Schönheit der Verse. Jedenfalls ist sie durchaus eigenartig und in dieser Eigenart bedeutend. Rosa Poppe hat eine hohe, schlanke Gestalt, angenehme Gesichtszüge, ein gutes, in großen Affekten machtvolles Organ. Von klassischen Rollen hat sie am Berliner Hoftheater außer der Medea die Adelheid im „Götz“, die Turandot, die Eboli, die Elisabeth, dann noch die Marquise von Pompadour gespielt. Am erfreulichsten ist der Fortschritt eines starken leidenschaftlichen Talents zu immer wachsender künstlerischer Bedeutung.

Wie Bogumil Dawison der polnischen Bühne angehörte, ehe er deutscher Schauspieler wurde, so war Marie Pospischil, die jetzt als jüngere Heroine am Wiener Hofburgtheater thätig ist, tschechische Schauspielerin, ehe sie sich dem deutschen Theater zuwandte. In Prag geboren, kam sie schon mit sechzehn Jahren an das tschechische Nationaltheater, wo sie fünf Jahre blieb. Dann widmete sie ein Jahr Gastspielen in Rußland und Polen. Hierauf wagte sie den Uebergang zur deutschen Bühne und spielte die Jungfrau von Orleans am Deutschen Landestheater in Prag mit großem Erfolg. Die Tschechen verloren ungern ein so bedeutendes Talent, das sich nach einem größeren Wirkungskreis sehnte, als ihn die böhmische Nationalbühne gewähren konnte, und es fehlte nicht an heftigen Angriffen auf die abtrünnige Künstlerin. Von Prag aus wurde sie an das Deutsche Theater in Berlin engagiert, wo sich ihre Umwandlung in eine deutsche Schauspielerin vollendete. Vor allem gab sie sich Mühe, die tschechischen Dialektanklänge aus ihrer Aussprache zu verbannen, obschon noch immer jener Rest angeborener Eigenart übrig blieb, der auch bei Dawison stets, wenn auch noch so leise, an den Ausländer gemahnte. Dann brach sie mit der mehr deklamatorischen Vortragsweise des tschechischen Theaters und strebte nach Naturwahrheit des Ausdrucks, ohne den idealen Zug zu verkümmern. Für glänzende Farbengebung war sie geschaffen; das breit Verschwommene, allzu Ueppige der Darstellungsweise mußte sie zu vermeiden suchen, und es gelang ihr, bei der strengen Zucht des deutschen Theaters, alle Auswüchse, die theils ihrer Nationalität, theils ihrem Naturell entstammten, immer mehr zu beschneiden. Ihre Eigenart schildert ein namhafter Kritiker mit folgenden Worten: „Marie Pospischil ist eine Heroine mit der Erscheinung einer Salonliebhaberin und der Stimme einer Sentimentalen, und diese Mischung wird zusammengeschweißt durch die Leidenschaft der Empfindung.“

Marie Pospischil tritt jedenfalls in die Fußtapfen von Charlotte Wolter; sie hat nicht die marmorne Hoheit der Klara Ziegler und ihrer Nachfolgerinnen. Ihre tragische Kraft liegt in ihrem leidenschaftlichen Naturell; auch der „Wolterschrei“ ist ihr nicht versagt, wie ihre Adelheid im „Götz“ in der Ermordungsscene beweist. Zu ihren Glanzrollen gehören diejenigen, in denen eine glühende Sinnlichkeit sich ausprägt wie die Messalina und die Udaschkin in Freytags „Graf Waldemar“; aber auch die Lady Macbeth, die Orsina, Sappho und Porcia stellt sie in interessanter Weise dar, wenn sie auch nicht überall jene widerstrebenden Züge ihres Wesens zu harmonischem Einklang zu stimmen vermag. Das gelang ihr vorzüglich als Hjördis in Ibsens „Nordischer Heerfahrt“, einer Rolle, die ebenso den Höhepunkt ihrer Entwicklung bezeichnete wie die Medea denjenigen von Rosa Poppe. An das Wiener Hofburgtheater berufen, hatte sie mit ihren Proberollen der Orsina und Maria Stuart einen großen Erfolg – und so gehört sie jetzt dem gefeierten Künstlerstabe dieser Bühne an.

Noch ist eine Reihe jüngerer Kräfte vorhanden, die in ernstem Vorwärtsstreben den hohen Aufgaben der Tragödie gerecht zu werden trachten. Einer späteren Zeit wird es vorbehalten sein, über sie das endgültige Urtheil zu fällen. Dann wird vielleicht auch die „Gartenlaube“ ihren Lesern einen neuen stolzen Kranz von Meisterinnen der tragische Muse vorführen können, wie die heute geschilderten ihn bilden.  


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 635. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_635.jpg&oldid=- (Version vom 12.4.2024)