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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Julia wandte sich weg, so hörte sie die schmeichelhafte Bezeichnung nicht mehr, welche Frau Rath ihrem Bruder spendete.

Und sie schlief doch ein, die kleine Mamsell Unnnütz, trotzdem ihr das Herz schwer war von einem bangen Gefühl. Aber sie holte ihr altes Beruhigungsmittel hervor – sie drückte das dunkle Köpfchen in das Kissen und durchlebte mit geschlossenen Augen noch einmal die seligen Minuten dort oben in ihrem Dachkämmerchen. Ach, Fritz war ja sicher nur in den Garten hineingewandert, weil sie nicht mehr am Tische saß – sicher – ganz bestimmt! und mit dieser seligen Ueberzeugung schlief sie den tiefen traumlosen Schlummer arbeitsmüder junger Menschen.


Der Herr Lieutenant dachte gar nicht daran, den Pfingstausflug zu unternehmen, von dem er gesprochen hatte, und Mamsell Unnütz, die eigentlich mit Genehmigung der Tante am ersten Feiertag nur ein ganz einfaches Gericht bereiten wollte, mußte nun ihren Kirchgang aufgeben und am Kochherd stehen, denn nach Tante Riekchens Begriffen war ein auf Pfingsturlaub gekommener königlich preußischer Lieutenant unmöglich mit einem Eierkuchen abzuspeisen.

Julia fügte sich ohne Seufzen, es konnten nicht alle Leute feiern. Der Fritz war ja auch auf Berufswegen fort, er hatte schon vier Patienten! Wie eifrig horchte das junge Mädchen auf die neue Klingel im Hausflur, die extra für den jungen Arzt angebracht war und, so recht eine Unheilsbotin, einen grellen schrillen Ton hatte. Auch heute war er schon früh weggegangen, und Julia hatte erfahren, daß der Onkel Doktor ihn zu einer Konsultation in seinem Wagen über Land mitgenommen habe.

Der Bruder zog sich gegen Mittag die Uniform an und ging säbelklappernd die Treppe hinunter durch den Flur, um einen Besuch bei Krautners zu machen. Er kam freilich sehr bald zurück, denn Papa Krautner saß bereits bei Tisch, obgleich die Glocke eben erst Zwölf schlug; und daß der beim Essen nicht gestört werden dürfe, hatte das Stubenmädchen bestimmt versichert. Der Herr Lieutenant war nun drauf und dran, Julias Kalbsbraten im Stich zu lassen und das nächste beste Schiff nach Rüdesheim zu besteigen, damit er die hiesige Langweiligkeit besser überstehe. Da kam er von ungefähr auf eine andere Idee. Er trat in die kleine saubere Küche, wo die Schwester herumhantierte, und fragte, was sie nun den ganzen heutigen Tag anfangen wolle.

„Ich sitze im Garten mit meinen Büchern,“ war die Antwort.

„Mit Deinen Büchern?“

„Ja, ich lese so gern.“

„Aber das ist ja schrecklich langweilig! Giebt es denn kein einziges junges Mädchen, mit dem Du verkehren kannst?“ fragte er.

„Doch, Thereschen kommt mitunter; es kann sogar sein, daß sie mich heute besucht. Sie liebt den Pfingsttrubel auch nicht, und Sonntags ist sie fast immer hier.“

„Da hat sie recht, ich mach’ mich auch nicht gern populär,“ gab er zu. „Wie wär’s denn, Julchen, wenn wir uns ganz in die Einsamkeit flüchteten und ich ruderte Euch hinüber auf die Au?“

„Das wäre schön von Dir!“ sagte die Schwester, „drüben ist sicher niemand!“

„Wir machen uns gegen Abend eine Bowle, und Du sorgst für das Essen,“ schlug er vor.

Sie nickte. „Vergiß nicht, den Fritz aufzufordern, Frieder,“ bat sie und sah nach der anderen Seite, denn sie fühlte, sie war roth geworden.

Er schien es nicht zu hören und beeilte sich, aus der dunstigen Küche zu kommen; in seiner Stube warf er sich auf das Sofa und spann goldene Zukunftsfäden.

Am Nachmittag ruderte er die beiden jungen Mädchen nach der Au hinüber. Die ganze Luft war voll Fliederduft, die Schiffe trugen bunte Wimpel und der Strom war belebt von Nachen mit festlich gekleideten Menschen. Auf der Au war es desto einsamer, da stand kein Wirthshaus.

Der junge Offizier kettete das Boot an einen überhängenden Baum, und die drei schlugen einen grasbewachsenen Pfad ein, der an die westliche Spitze der Insel führte, wo, wie der Lieutenant behauptete, der herrlichste Platz für die Hängematte des Fräulein Therese und die schönste Aussicht sei. Julia folgte; ihr ernstes blasses Gesicht trug einen Anflug von Enttäuschung – Fritz war nicht mitgefahren, war überhaupt noch gar nicht heimgekommen. Sie achtete weder auf die ungewohnte Redseligkeit ihres Bruders, der einen wilden Apfelbaum seiner Blüthen beraubte zu einem Strauße für Fräulein Therese, noch verstand sie, was er ihr sagte.

Das Plätzchen, welches er ausgesucht hatte, war aber in der That wunderschön, und als Thereschen in der niedrigen Hängematte schaukelte und ihr weißes Kleid wie eine Wolke um sie schwebte, als sich der Lieutenant auf ein Tuch zu ihrer Seite gelagert hatte, nahm Julia ihr Buch und vertiefte sich mit soviel Eifer darein, daß sie bald von der Außenwelt nichts mehr sah. Das Plaudern und Lachen der beiden, das leise Rauschen des Wassers, das in ihr Ohr drang, stimmte gar so gut mit der Erzählung von der schönen blonden Frau auf ihrer Burg Schwarz Wasserstolz inmitten des Rheins und mit der heimlichen Liebe zu dem Sänger Hadlaub in Gottfried Kellers reizender Novelle, daß sie gar nicht bemerkte, wie die Zeit verflog und das Gespräch der beiden jungen Leute leiser, immer leiser wurde, wie endlich Pausen entstanden, lange Pausen, nur unterbrochen durch fernen Gesang oder einen nahen Seufzer und das Plätschern des Wassers gegen den Uferrand.

Und die Sonnenstrahlen streuten Funken durch das Geäst der alten Rüstern, tiefgoldene Funken, denn es wollte Abend werden. Dann flammte das Abendroth da drüben empor, der herrliche stolze Strom färbte sich purpurn, und plötzlich glühte dieser Purpurschein auch auf den Wangen des blonden Mädchens, das sich in der Hängematte aufgerichtet hatte und den Kopf halb abgewendet von dem Manne zu ihren Füßen, doch die Hand in der seinen ließ, die er wieder und wieder küßte.

„Aber so rasch – – ich weiß nicht, was ich Ihnen antworten soll –“ sagte sie stockend; und dennoch zuckte um den hübschen Mund ein Lächeln beglückten Stolzes.

„Wenn man so mächtig empfindet wie ich, giebt es kein Zögern. Ich liebe rasche Entschlüsse und weiß auch sofort ganz, was ich will, was ich muß. Ich weiß, daß ich Sie liebe, Therese, wußte es in der ersten Sekunde, als unsere Blicke sich trafen.“

Sie riß erschreckt die Hand aus der seinen, Julia war aufgestanden und an ihnen vorüber dem Ufer zugegangen. „Dort kommt er!“ sagte sie wie für sich und schaute dem Nachen entgegen, der über das leuchtende Wasser daherschoß.

Die beiden jungen Leute hinter ihrem Rücken sahen sich an; Therese legte den schlanken Finger auf die Lippen, und noch einmal haschte er nach ihrer Hand und fühlte einen leisen Druck derselben, dann war auch er aufgesprungen.

„Guten Abend!“ tönte es gleichmüthig dem jungen Arzte entgegen, „kommst grad’ recht, um die Bowle zu mischen. Julia, packe doch den Eßkorb aus!“

„Endlich!“ rief der Doktor fröhlich. „Just als ich vor einer Stunde fort wollte – die Mntter sagte mir, daß die Herrschaften hier seien – kam noch so ein Unglücksrabe mit blutig verhauenem Kopf, und ich mußte flicken. Grüß’ Gott, Fräulein Therese!“ Und er lagerte sich neben dem Mädchen und warf den Hut auf den nächsten blühenden Strauch. „Ist es nicht ein wahrer Prachtsabend?“ setzte er hinzu.

Und dann sah er zu Therese empor, die in der rosigen Beleuchtung so frisch erschien wie die Apfelblüthe, die sie im Gürtel trug.

„Haare haben Sie wie die Lurley selbst,“ sagte er in aufrichtiger Bewunderung, „fehlt nur noch der goldene Kamm. – Julia, Du braust doch die Bowle? So ist’s recht; ich bin auch zu müde und hatte nicht Feiertag wie Ihr.“

Sie waren alle sehr fröhlich bei dem kleinen Picknick, fröhlich, wie es zumal am Rheine junge Menschen sein können, die goldenen Wein in den Gläsern haben und heimliche Liebe im Herzen. Theresens silbernes Lachen flog alle Augenblicke mit dem warmen Westwind über den Strom hinweg, und der Doktor sekundierte ihr. Der Lieutenant lachte nur hie und da, dann that er wieder einen Seufzer und ließ die blonde Lurley leben und citierte Verse: „An den Rhein, an den Rhein, zieh’ nicht an

den Rhein, mein Sohn, ich rathe Dir gut!“ und seufzte abermals.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 682. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_682.jpg&oldid=- (Version vom 14.8.2022)