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verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

den Geistern der Verstorbenen in die Flucht geschlagen wurden.

Der Flori weiß jene Geschichte haarklein vom Urgroßvater her – wie die Räuberschar vor dem Dorfe lag und in der Umgegend alles niederbrannte; da kam der Geistliche heraus und lud sie ein, nur vorwärts zu reiten, sie würden Mannschaft so viel finden, wie Körner in eine Metze gingen. An der Kirchhofmauer angelangt, fanden die Panduren den ganzen Friedhof voll Leute, alle weiß. Es waren die Geister der verstorbenen Brüder, die Eltern, Ahnen und Urahnen, die aus den Gräbern gestiegen waren und sich mit Sensen und Hauen zur Wehr setzten. Die Panduren erschraken darob nicht wenig und flohen voll Entsetzen von dannen. Und von seinem Vater selig her kennt der Flori auch die geheimnißvolle Sage vom „Wisperl“, dem seltsamen Geist, der nur an heiligen Zeiten, so an Allerseelen, sich hören läßt, am Wege zwischen Lenggries und Hohenburg wie eine Grille zirpt und bald nah, bald fern scheint. Kommt ein guter Mensch vorbei, so hört er das „Wisperl“, und dessen wundersames Zirpen bringt ihm Glück. Bösewichte aber hören das „Pfeiferl“, scharfe Töne, wie wenn jemand mit aller Kraft durch die Finger pfeift. Manchem Nichtsnutz ist das „Pfeiferl“ als schwarze Riesengestalt von drei Mannslängen erschienen, hat ihm einen heillosen Schrecken eingejagt und böses Unheil verkündigt. –

Der Winter steht wieder vor der Thür; aus den Wellen der Isar steigen die dicken schweren Nebel auf, grau lagern die Wolken auf den Bergen, leise raschelt das welke Laub auf der erstarrenden Erde. Das Fest Allerheiligen ist gekommen, an dem die Lebenden unter Gebet die Gräber ihrer Toten schmücken. Auch Flori ist mit einem Kranz von späten Bergblumen zum Kirchhof gewandert und hat ihn auf seiner Eltern Grab gelegt, ihrer in inniger Dankbarkeit gedenkend. Die Schwermuth dieses düsteren Novembertages in der Natur erfaßt auch ihn, und wie er so an dem schlichten Hügel steht, überkommt ihn ein banges Gefühl der Verlassenheit. Aber wie er dann still über den Rain wandert, seiner Schmiede zu, wo heute das Wasserrad still steht und der Bergbach ohne Frondienst geschwätzig zur Isar schießt, da wird ihm so eigen ums Herz, es klingt ihm in den Ohren wie geheimnißvolles Flüstern, und ein seliges Ahnen durchzieht seine Brust. Und wie sein Blick sich erhebt, dorthin, wo des wuchtigen Karwendels starre Felsriesen sich aufthürmen, da öffnet sich das Nebelmeer, es blaut verheißend herab aus lichter Himmelshöhe und wie vergoldet erstrahlen die Zinnen und Zacken.

Wenige Tage nach Allerheiligen findet im benachbarten Tölz die „Leonhardsfahrt“ statt, ein kirchliches, mit dem üblichen naiv derben Pomp gefeiertes Fest. Die Berge tragen den ersten Neuschnee, der Hochwald ist in die schimmernden Tinten des Spätherbstes getaucht, auf Flur und Feld die Arbeit vollendet, von den Tennen ertönt der gleichmäßige Takt der Drescher: das ist die Zeit der Leonhardsfahrt, wo man sich einen „Guten Lienhard“ wünscht, auf daß des Freundes und Nachbars Viehstand gesund bleibe bis übers Jahr.

Von jeher ist das germanische Volk zäh gewesen im Festhalten am Alten, und seine uralten heidnischen Bräuche sind, in ein christliches Gewand gekleidet, vielfach bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben. Jahrhunderte hindurch hat es im Allvater den Beschützer muthiger Rosse verehrt und seine Behausungen mit Pferdeköpfen am Giebel geschmückt. Im Christenthum ist dann St. Leonhard an Wotans Stelle getreten und hat die Obhut über die Rosse und über das Vieh im allgemeinen übernommen, wie er auch Patron der Hammerleute geworden ist. Im Lande, wo viel Viehzucht getrieben wird, mußte dieser Heilige naturgemäß ein großer Herr werden; er ist der erste, den man zu Hilfe ruft, wenn Seuchen auftreten und Schaden für die Viehzucht droht. Man opfert St. Leonhard gläubigen Sinnes die Hufeisen der kranken Pferde, die er heilen soll; an die Gitter der Gnadenkapellen hängt der Altbayer eiserne und wächserne Rosse zum Dank für rechtzeitig eingetretene Hilfe und an seinem um den Leib geschnürten Ledergurt trägt er mit Vorliebe ein beinernes oder gesticktes weißes Roß. Viele Kapellen sind auch mit Pferdeketten umspannt „aus Dankbarkeit“.

Kaum daß der Leonhardstag graut, herrscht in den Gehöften bewegtes Leben, die Pferde werden zierlich geschmückt mit farbigen Bändern und Blumensträußchen in Mähne und Schweif, aus der Scheune wird der das Jahr über sorgsam verwahrte Lienhardswagen hervorgezogen, eine oft namentlich mit Landschaften bemalte große vierräderige Truhe für zehn bis vierzehn Personen, und mit Tannengrün, Moos und Flitter geziert; die Dirndln tragen den höchsten Feiertagsstaat, das reichverschnürte Mieder, große silberne Halsketten, farbige Seidentücher auf der Brust, und auf den reichen Flechten thront keck das zierliche goldverschnürte Hütchen mit dem weißen Adlerflaum. Die Burschen erscheinen trotz der oft schon recht empfindlichen Kälte in dem kleidsamen „Berglerg’wandl“ mit nackten Knien und haben sich wie die Mädchen Sträußlein an Rock und Hut gesteckt. Die Pferde werden mit dem nur für den Lienhardstag bestimmten reichen und sauber geputzten Geschirr angespannt, immer vier prächtige Gäule vor jeden Wagen.

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1892, Seite 701. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_701.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2023)