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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

das Moabiter Untersuchungsgefängniß selbst einer Besichtigung. In unmittelbarer Nähe des Kriminalgerichtsgebäudes in den Jahren 1876 bis 1881 erbaut und mit letzterem mehrfach direkt verbunden, gewährt es 1230 Gefangenen (darunter 220 weiblichen) Aufnahme, von denen 820 isoliert und 410 in Gemeinschaftshaft untergebracht werden können; das Männer- und das Weibergefängniß sind baulich vollständig voneinander getrennt, wobei wir erwähnen, daß sich die weiblichen Gefangenen meist in Gemeinschaftsräumen befinden, während über die männlichen mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich Einzelhaft verfügt wird. Hinter dem Verwaltungsgebäude mit den Bureauräumen, den Dienstwohnungen des Direktors, des Oberinspektors und des Anstaltsgeistlichen sowie dem Gefangenensprechzimmer und der Militärwache erhebt sich massig und drohend, in Ziegelrohbau ausgeführt, das Männergefängniß, auf allen Seiten von Mauern eingeschlossen und von mehreren Militärposten bewacht. Vier Stockwerke hoch, enthält es zugleich umfassende Boden- und Kellerräumlichkeiten; es ist strahlenförmig gebaut, in der Weise, daß fünf Flügel von einer Centralhalle sich abzweigen. Von diesem Centrum aus, in dessen Mitte sich eine gewaltige eiserne Säule erhebt, können alle Flügel überblickt werden; eiserne Brücken stellen die Verbindung her zwischen der Halle und den einzelnen Stockwerken, an deren Zellenreihen eiserne Laufgänge entlangführen, die wiederum untereinander durch Querbrücken verbunden sind. Man kann also auch in jedem Flügel von unten nach oben und von oben nach unten die genaueste Umschau halten und sich sofort von der kleinsten Unordnung durch den Augenschein überzeugen; außerdem wird jedes laute Wort, jedes noch so unbedeutende Geräusch durch alle Stockwerke vernommen. Dieses innere eiserne Gerippe des Gefängnisses erscheint wie ein riesiges Spinnengewebe, in welchem selbst die Spinne nicht fehlt, in der Gestalt eines Beamten, der auf der drittobersten Plattform jener Säule seinen Platz hat und von hier aus das ganze Innere überblickt; er ist es auch, der die Vorführung der Gefangenen vor den Untersuchungsrichter anordnet, nachdem ihm letzterer durch Telephon mitgetheilt hat, wen er zu sprechen wünscht. Der Aufseher stellt in solchem Falle in dem neben seinem Sitze befindlichen Verzeichniß die Nummer des betreffenden Gefangenen, die stets der Nummer seiner Zelle entspricht, fest, ruft durch ein Alarmzeichen – je nach der Anzahl der Schläge – einen der Aufseher jenes Flügels, in welchem sich die bewußte Zelle befindet, und befiehlt ihm die Vorführung des Gefangenen.

Die Mittagssuppe.

Die Isolierzellen sind alle genau nach demselben Muster eingerichtet; eine starke Bohlenthür, mit schwerem Riegelschloß versehen und derart angebracht, daß sie nicht ausgehoben werden kann, schließt die Zelle von den eisernen Laufgängen ab; an jeder Thür ist eine Klappe, durch welche den Gefangenen das Essen hineingereicht wird; eine kleine, von außen durch einen beweglichen Deckel verschließbare Oeffnung ermöglicht, ohne daß der Insasse etwas merkt, seine Beobachtung. Die Zellen sind vier Meter lang, fast zweieinhalb Meter breit und zweidreiviertel Meter hoch; der Thür gegenüber befindet sich über Mannshöhe das vergitterte Fenster, mit einer Vorrichtung zum Lüften, die von dem Gefangenen nach Belieben gestellt werden kann. Die Einrichtung jeder Zelle besteht aus einem Holztisch, der an einer Seite an der Wand befestigt und zum Herunterklappen eingerichtet ist, aus einem Schemel ähnlicher Konstruktion, einem Holzregal zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln – denn der Gefangene darf sich, wenn er über die nöthigen Mittel verfügt und der Arzt nichts dagegen einzuwenden hat, selbst beköstigen – aus einer eisernen, gleichfalls an der Wand befestigten und aufklappbaren Bettstelle mit Indiafasermatratze und Bettzeug, endlich aus den nöthigen Gegenständen zum Waschen, Wassertrinken, Säubern der Kleidung. In vorzüglicher Weise ist die Zufuhr guter und der Abzug der schlechten Luft geregelt; die Heizung geschieht durch erwärmte Luft. Durch ein Telephonzeichen kann ferner der Gefangene den Wärter herbeirufen und ihm seine Wünsche übermitteln.

Inneres einer Zelle.

Neben diesen Zellen giebt es auch noch sogenannte „schwere“ oder „Mörder“-Zellen, in welche gewöhnlich gefährliche Verbrecher gesteckt werden; in diesen ist die Thür innen mit Eisenblech beschlagen und noch mit besonders starken Riegeln versehen; der Boden ist nicht von Holz, sondern cementiert, das Gaslicht fehlt gänzlich und die Bettstelle ist von Holz, damit der Gefangene sich nicht von den Eisentheilen Brechwerkzeuge oder gar Waffen verfertigen kann. Außerdem befinden sich unter dem hölzernen Tische sowie an der Wand oberhalb des Bettkastens starke Eisenringe damit, wenn besondere Vorsicht geboten erscheint, der Verhaftete mit Ketten dort angeschlossen werden kann. Indessen hindert selbst diese äußerste Maßregel kühne Verbrecher nicht, Fluchtversuche zu unternehmen. So war vor einiger Zeit ein gefährlicher Einbrecher angekettet worden; als am nächsten Morgen der Aufseher die Zelle revidierte, fand er den Insassen auf seiner Lagerstatt sitzend und mit seinen Ketten Fangball spielend: von dem starken Drahtgeflecht, mit welchem das Luftloch der Zelle überspannt war, hatte dieser, indem er sich hoch emporreckte, mit den Zähnen ein Stück Draht abgerissen, wozu stundenlange Anstrengungen erforderlich gewesen waren; mit dem Drahte hatte er dann allmählich seine Ketten gelockert, bis es ihm endlich gelang, sie ganz abzustreifen. Alle weiteren Versuche aber, aus der Zelle zu entkommen, waren mißglückt, und so mußte er sich am nächsten Morgen ruhig in sein Schicksal ergeben und sich von neuem anschließen lassen. Uebrigens ist dieses „Anschließen“ nicht so schlimm, wie es sich anhört; die Handeisen, welche zumeist allein in Anwendung kommen, wiegen ein Kilogramm, zusammen mit den Fußfesseln, die selten gebraucht werden, drei Kilogramm. Im äußersten Nothfall nur bedient man sich der sechs Kilogramm schweren, aus starkem Leder und Eisen gefertigten Zwangsjacken, welche man bloß jenen Verbrechern anlegt, die entweder wirklich von einem Tobsuchtsanfall heimgesucht werden oder, um in die Gefangenenstation der Charité oder der Dalldorfer Irrenanstalt zu gelangen, den „wilden Mann“ spielen, d. h. sich als Tobsüchtige gebärden und alle Sachen ihrer Zelle kurz und klein schlagen. Für diese schlimmen Burschen sowie für die in irgend einer anderen Weise widersetzlichen Gefangenen giebt’s noch besondere Arrestzellen, die in den Kellergewölben liegen und als einzige „Ausstattung“ eine Pritsche, einen Eimer und einen Wasserkrug enthalten. Meist genügen einige Tage Haft da unten, um auch den widerspenstigsten „schweren Jungen“ wieder zur Vernunft zu bringen; immerhin aber bekommen es manche fertig, wochenlang dort auszuhalten, während sie zugleich Blödsinn heucheln und Tage hindurch in ein und derselben Stellung verharren. Durch ihre Ausdauer können sie selbst den gewiegtesten Arzt täuschen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 732. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_732.jpg&oldid=- (Version vom 13.4.2024)