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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Mühsam drückte sie die schwere eichene Hausthür auf und kam in den dämmernden Flur, gerade als die Räthin von der änderen Seite eintrat. Diese that gar nicht, als ob sie das blasse Mädchen bemerkte; sie ging eilends in die Küche und rief von der Schwelle aus Luischen zu: „Eben wird der junge Norban begraben! Lieber Gott, wenn er nur weuigstens einen hinterlassen hätte, der ihn beerben könnte; jetzt sitzt die alte Mutter allein mit dem vielen Gelde da!“

„Ja, ja,“ antwortete Luischen, „wenn Fräulein Julchen den genommen hätte – was die jetzt für eine reiche Witwe wäre und wie sie das Leben genießen könnte – und was hat sie nun?“

Mamsell Unnütz lächelte, als sie mühsam die Treppe hinaufstieg. Ja, was hatte sie nun? Nichts, gar nichts! Und doch – sich selbst hatte sie noch und das Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, und . . . den Schmerz um ihn.

Julia sah wirklich den Fritz heute nicht, zum ersten Male nicht. Er schickte ihr nur ein paar Orangen hinauf und ein Buch. Sie möge entschuldigen, daß er heute nicht komme, er habe so viel zu thun.

Nun saß sie am Fenster und blickte auf den Strom und zählte die Schiffe und starrte in die Sonne, die blutroth unterging, und sagte sich: „Jetzt müssen sie kommen.“

Drunten im Erdgeschoß war es ganz still, auch die Räthin schien nicht daheim zu sein. Vielleicht feierten sie heute schon die Verlobung, vielleicht hatte Therefe doch schon dort unten am blauen Meere dem Vater gestanden, daß sie den Fritz Roettger liebe, und dabei gefragt, ob ihm wohl dieser Schwiegersohn recht sei? Und Julia meinte, des alten Herrn freudestrahlendes Gesicht zu sehen und sein herzliches Lachen zu hören. „Ja, Töchterchen, den, den – in Gottesnamen – Du hast gut gewählt!“

Dann hatte Therese telegraphiert – sicher, so war es – und nun lag sich das Brautpaar in den Armen und Papa Krautner und Mama Roettger vergossen Rührungsthränen dabei, und der Fritz küßte seine Braut.

Welch ein schreckliches Herzpochen Julia plötzlich überkam! Und Zirp! Zirp! machten die Stare draußen und flogen glückselig miteinander in ihr Kästchen. Am Rheine drunten stand das Dienstmädchen der Tante Minna neben ihrem Schatz und spritzte ihm neckend eine Handvoll Wasser ins Gesicht, als er sie küssen wollte; ihr übermüthiges Lachen klang bis hier herauf. Und die beiden nutzten es so recht aus mit Lachen und Plaudern, das Stündchen im Abendroth, und als das Luischen endlich, mit dem Korbe voll frischgewaschenen Spinats auf dem Kopfe, sich dem Hause zuwandte, da riefen sie sich noch ein „Auf Wiedersehen!“ zu, und Julia hörte bald darauf das Mädchen in der Küche lustig singen. Sie selbst saß da, mit dem Ausdruck größter Mattigkeit, aber noch immer mit dem stillen Lächeln um die Lippen, bis das Roth draußen verblich, bis drunten die Thür ging und die hastigen Schritte der Räthin die Treppe heraufkamen, um in Tante Riekchens Stube zu verhallen. Da erhob sie sich und ging hinüber. Gewißheit, endlich Gewißheit wollte sie, denn bis zuletzt glaubt der Mensch an Märchenwunder, auch wenn er sich’s nicht eingesteht.

Sie kam gerade recht vor die angelehnte Thür, um die Worte der Räthin zu hören: „Und Du glaubst nicht, wie glücklich die beiden sind, wie die Kinder, Riekchen, wie die Engelchen, und der Alte küßt den Fritz um die Wette mit seiner Tochter, und im Mai ist die Hochzeit! Ach Gott, das ist doch endlich ’mal ein Sonnenstrahl nach so langer Prüfungszeit!“

Tante Riekchen sagte leise: „Ich gönne es Dir, Minna, weiß Gott, ich gönne es Dir!“

Mamsell Unnütz aber ging nicht hinein, sie kehrte wieder in ihre Stube zurück. Mäuschenstill blieb es drinnen, nur einmal ein Seufzer, fast wie ein Seufzer der Erleichterung – und zum ersten Male schlief sie wieder in der Nacht.

Die Gewißheit war da; die Ruhe kam über sie, die starre Ruhe der Entsagung.


Mit festem Willen vermag man viel, auch gesund zu werden, und Julia wollte gesund werden. Um keinen Preis hätte sie der Hochzeitsfeier beiwohnen mögen, vorher schon mußte sie das Haus verlassen haben. Dem Entschluß, in die Welt hinauszugehen, widersprach niemand, die Verhältnisse hatten es so gefügt, daß ihre Gegenwart mehr wie je „unnütz“ wurde.

Theresens Wünsche, das ganze Haus allein zu bewohnen, sollten sich nicht erfüllen. Noch bevor Herr Krautner dem Fräulein Riekchen Trautmann das Grundstück abkaufen konnte, hatte es in aller Stille einen anderen Käufer gefunden und zwar Herrn Doktor Roettger selbst; dieser aber war durchaus nicht zu bewegen, so sehr er auch seine Braut liebte, die Mutter und die Tante hinauszuweisen aus dem elterlichen Hause.

„Mein liebes Herz,“ sagte er ernst zu Therese, „Mutter und Tante werden zusammen unten wohnen; Mutter in ihren alten Räumen, Tante in den drei Zimmern, die neben meinem Warte- und Sprechzimmer liegen. Die Verbindungsthür lasse ich vermauern. Tante hat so ihr Reich für sich, ich das meinige daneben. Oben aber in den trauten Stuben soll das Glück mit uns einziehen und ganz allein mit uns hausen. Da oben darfst Du unumschränkt wie eine Königin herrschen, Dein Reich nach eigenem Geschmack gestalten. Drunten bleibt es, wie es war.“

Kein Bitten, kein Schmeicheln, kein Schmollen half, und Therese verschob ihren Sieg auf die Zeit nach der Hochzeit. Sie würde ihren Willen schon noch durchsetzen, meinte sie.

Die beiden alten Schwestern wollten in Zukunft gemeinschaftliche Wirthschaft führen, und zu Anfang April erprobte Julia ihre kaum wiedergewonnenen Kräfte zum ersten Male und half Tante Riekchen die Zimmer unten einrichten, denn oben wurden Maurer, Zimmerleute und Handwerker aller Art erwartet, um die Wohnung der künftigen Frau Doktor instand zu setzen. Kein Mensch fragte Julia, ob sie sich nicht zuviel zumuthe, nur Fritz sagte einmal, als er flüchtig in die Stube sah, in der Hand einen Strauß blühender Anemonen, die er seiner Braut bringen wollte: „Strenge Dich nicht zu sehr an, Unnütz – was hast Du dann, wenn Du wieder daliegst? Und trinkst Du auch noch Deinen Eisenwein?“

Sie nickte zerstreut, und er ging fort.

Er brachte fast jede freie Minute drüben in der Villa Krautner zu. Er vermied es, zusammen mit seiner Braut vor Julias Augen zu kommen, und war im Bewußtsein des Schmerzes, den er ihr bereitet hatte, noch rücksichtsvoller als sonst – und dennoch that Julia diese Rücksicht weh, und ihr Stolz bäumte sich dagegen auf in stummem Zorn.

Mitten in den Umzug kam Herr Krautner und setzte sich in all dem Wirrwarr ganz gemüthlich neben Tante Riekchen auf das Sofa, das eben an die Wand gestellt worden war; still beobachtete er, wie das blasse, fast überschlank gewordene Mädchen arbeitete, um es der alten Dame ein wenig gemüthlich zu machen und sie die altgewohnten Räume nicht allzusehr entbehren zu lassen.

„Nun, sagen Sie einmal, liebe Schwägerin“ – so nannte er Tante Riekchen seit der Verlobung – „da erzählt mir der Fritz neulich, das Töchterchen dort thue sich nach einer Stellung um?“

„Ja, ich suche danach,“ antwortete Julia.

„Hm! Da brauchen Sie diesmal nicht weit zu suchen. Kommen Sie zu mir, ich halt’ Sie wie mein eigen Kind! Ohne irgend eine Seele kann ich nicht sein, muß jemand haben, der mir einen freundlichen Gruß bietet, wenn ich abends heimkomme; und überhaupt, wenn das Thereschen fortgeht“ – er schnaubte sich heftig – „da würde ich’s allein gar nicht aushalten drüben in dem großen Hause. Also, wie ist’s Fräulein Julchen, kommen Sie zu mir?“

Tante Riekchen sah überrascht und dankbar zu ihm hinüber und setzte zum Sprechen an. Aber Julia kam ihr zuvor.

„Ich danke herzlich, Herr Krautner, indes bei Ihnen würde ich zu sehr verwöhnt, und das taugt nicht für mich. Ich muß auf eigenen Füßen durchs Leben, ich gehe unter ganz fremde Menschen und – recht weit fort.“

„Verwöhnt? Ich verwöhue keinen Menschen, am allerwenigsten Sie, Jungfer Unnütz. Ich nehme Sie auch gar nicht auf Kündigung, ich will Sie für immer da haben, bis Sie einmal einer wegholt oder bis ich die Augen zuthue. Und Alois Krautner verläßt auch die Leute im Tode nicht – verstanden?“

Sie kam herüber und die Rührung zuckte um ihren Mund. „Danke vielmal,“ sagte sie, „aber ich kann nicht, ich habe gestern eine Stellung angenommen.“

Tante Riekchen fuhr empor. „Und das weiß ich nicht?“ rief sie.

„Verzeih’, Tante, ich hätte es Dir noch heute mitgetheilt.“

„Und wo denn? Und als was denn?“ fragte die alte Dame, so gekränkt, als ob in ihr die sorgsamste Mutter hintergangen wäre.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 747. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_747.jpg&oldid=- (Version vom 14.12.2022)