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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Wohnung wiederfand, um durch die Lücke des Vorhangs hindurch eine strickende alte Frau zu beobachten oder den Bewegungen des Mannes am Schreibtisch zu folgen, angstvoll nach dem Ausdruck größeren oder geringeren Wehs in den Zügen desjenigen zu spähen, der einst seine beiden Hände unter ihre Füße hätte breiten mögen, ohne daß sie ihm nur einen flüchtigen Blick des Dankes dafür gegönnt haben würde. Jetzt lagen Haß und Fluch und Sünde zwischen ihnen, und eine lähmende Angst vor ihm war über sie gekommen.

Längst schon wagte sie nicht mehr, seinen Weg zu kreuzen. So oft sie seine Gestalt von weitem sah, durchrieselte sie ein kalter Schauer. Wenn er wüßte! O, der Blick, mit dem er sie anschauen würde, vor dem sie versinken mußte, wenn er erfuhr, daß sie ihn hätte retten können und keine Hand gerührt habe! So wich sie ihm aus, sorgfältiger noch als zu der Zeit, da seine Neigung sie verfolgt hatte, und doch schien es ihr täglich mehr, als ob der Friede ihrer Seele abhänge von einem versöhnlichen Worte aus seinem Munde.

Eben in dieser Zeit war es, daß der junge Kaufmann, der Gretchen auf dem Schützenfest ausgezeichnet hatte, das nachdenkliche stille Wesen, welches Fräulein Meermann seit kurzem angenommen hatte, auf eine keimende Neigung zu seiner eigenen geschätzten Person deutend, Frack und Cylinder ausbürstete und als ehrbarer Freier die Treppe zu Frau Meermanns Wohnung hinaufstieg. Er wurde von der alten Frau so zuvorkommend aufgenommen wie gute Partien von den Müttern heirathsfähiger Töchter aufgenommen zu werden pflegen; und obwohl noch ohne das Jawort, kehrte er doch ruhig und freudig im Gemüth nach Hause zurück, während Frau Meermann, des Ausgangs der Werbung ebenso sicher wie er, zu ihrer Kommode humpelte und vorsorglich ihr schönstes Taschentuch hervorholte, um gegen die Thränen gewaffnet zu sein, wenn sie der Heimkehrenden das große Glück verkünden würde.

Endlich hallte der feste Schritt ihrer Tochter im Flur. Grete öffnete die Thür und blieb verwundert stehen. So feierlich das Gemach – Julius mit Predigermiene, die Mutter in frischer Haube, das gestickte Taschentuch in der Hand – – „Was giebt es denn hier?“

„Grete, mein gutes Kind, komm zu mir! Laß mich Dich segnen! Der junge Märtens war hier, er hat sich erklärt. Du wirst sehr glücklich werden, mein Kind.“

Das Mädchen stand wie angewurzelt. „Mit – Märtens?“ Wie lange hatte sie an den nicht mehr gedacht; sie erinnerte sich kaum mehr, daß er auf der Welt war!

„Wenn Dein Vater noch lebte,“ fuhr Frau Meermann unbeirrt fort, „er würde Euren Bund segnen, wie ich es thue. Du heirathest in ein solides altbegründetes Geschäft, einen Mann von makellosem Ruf und Charakter.“

„Heirathen? Ich werde Märtens niemals heirathen, Mutter. Ich denke, Du hast ihm keine Hoffnung gemacht.“

„Wie Du daherredest! Freilich hab’ ich ihm Hoffnung gemacht. Hast Du selbst es doch gethan!“

Hatte sie das? Vielleicht – damals, ehe das eine geschah, das jetzt ihr Sein und Denken ganz allein erfüllte!

Frau Meermann begriff nicht, was die Brust ihrer Tochter bewegte, warum diese, statt zu antworten, nur immer wieder stumm den Kopf schüttelte. „Ueberlege doch nur, Grete,“ mahnte sie vorwurfsvoll. „Es ist Dein Lebensglück, das Du von Dir stößt. Nimm Vernunft an, Kind! Du bist so wunderlich in letzter Zeit! Wenn Du einen Mann wie Märtens ausschlägst, auf wen willst Du denn warten?“

„Auf niemand! Verzeih’, Mutter, aber ich hab’ mir’s überlegt, ich werde überhaupt nicht heirathen. Sag’ ihm das, bitte! Er soll mir nicht böse sein, ich erkenne an, daß er’s redlich mit mir meint, und ich danke ihm für die gute Meinung.“

„Liebe Grete,“ kam jetzt Julius, der aus mancherlei Gründen seine Schwester gern verheirathet gesehen hätte, der verblüfften Mutter zu Hilfe, „das sind Mädchenlaunen, die Dir nimmermehr ernst sein können. Wirst doch keine alte Jungfer werden wollen!“

„Ja, das will ich!“ rief sie erregt. „Und ich denke, Du könntest meine Gründe verstehen, gerade Du! Also rede mir nicht drein!“ Und gelassener sich zu ihrer Mutter wendend, die in steigender Verwunderung dem Auftritt lauschte, fuhr sie fort: „Noch einmal, Mutter, ich kann nicht. Ich werde auch meinen Sinn nicht ändern. Sag’ ihm das!“

So mußte denn Frau Meermann, so schwer es ihr wurde, auf die „glänzende Partie“ für ihre Tochter verzichten. Sie ächzte und stöhnte viel dabei. Das gestickte Tüchlein feuchtete sich statt mit den Thränen der Rührung, die ihm zugedacht waren, mit den Schweißtropfen, die auf ihrer Stirn perlten, während sie den langen verbindlichen Absagebrief an Märtens verfaßte. Sie meinte, so sauer sei ihr noch nie eine Arbeit geworden, konnte es auch nicht unterlassen, ein Wörtlein einfließen zu lassen von der Wandelbarkeit der Mädchenherzen und dem besseren Rathe, der über Nacht kommt.

Grete wurde von jetzt an noch stiller und gedrückter, in ihrem Verkehr mit den Ihrigen noch einsilblger als vorher.

An einem regnerischen Mittag, als sie aus dem Geschäft heimkehrte, sah sie Anton Röver vor sich hergehen, den Hut in die Stirn gedrückt, den Blick zu Boden gesenkt, wie das seine Art war. Sie verlangsamte ihren Schritt, um ihm Vorsprung zu lassen, und hatte ihn fast aus dem Gesicht verloren, als sie nahe an einer Straßeukreuzung von Waldmann überholt wurde, der eingesperrt gewesen war und nun, der Haft entronnen, die Nase an der Erde, auf der Spur seines Herrn dahinjagte, so ungestüm vertieft in seine Suche, daß er einem um die Ecke rasselnden Bierwagen gerade in den Weg lief.

Im nächsten Augenblick sah Grete ihn zwischen den Hufen. Ein schmerzliches Aufwinseln – er stürzte, von einem Schlag getroffen; in der nächsten Sekunde mußten die Räder über ihn weggehen. Wie ein körperlicher Schmerz durchzuckte es das Mädchen; auch diese Freude des Vereinsamten sollte verloren sein!

Mit einem Sprunge war sie neben dem Fuhrwerk und schrie den Kutscher an, so laut und befehlend, daß der Mann zusammenfahrend die Zügel an sich riß und das aufbäumende Pferd zum Stehen brachte, gerade noch zeitig genug, um es Grete zu ermöglichen, das blutende Thier unmittelbar vor den Rädern hervorzuziehen. Sie nahm, ohne sich weiter um den Kutscher und das verwunderte Publikum zu kümmern, das sich rasch gesammelt hatte, den winselnden Hund auf ihren Arm und eilte ihrer Wohnung zu.

Der Straßenschmutz, der an Waldmanns Füßen klebte, das Blut, das aus der verwundeten Vorderpfote troff, befleckte ihren hellen Regenmantel – sie beachtete es nicht, so wenig wie das Aufsehen, das sie erregte.

Die Mutter, welche Kartoffeln schälend in der offenen Küchenthür saß, sah sie mit ihrer Last die Treppe heraufkommen und schlug vor Erstaunen die Hände zusammen.

„Lieber Himmel, was für ein Aufzug! Grete, bist Du verrückt geworden? Der schöne Mantel! Was willst Du denn mit dem schmutzigen Köter?“

„Ein Pferd hat ihn geschlagen, um ein Haar wäre er überfahren worden. Er blutet, Mutter, wir müssen ihn verbinden.“

„So, müssen wir das? Ueber meine Schwelle kommt das Vieh nicht,“ rief Frau Meermann zornig. „Ich wohne nicht im Stalle. Was gehen Dich fremder Leute Hunde an? Wirklich, Grete, Du wirst alle Tage wunderlicher. Aber ein bißchen Rücksicht auf mich verlange ich denn doch!“

Grete wandte sich kurz zu Julius um, der an der Küchenthür lehnte, sehr guter Laune, denn in der vorigen Nacht hatte er beträchtlich gewonnen.

„Deinen Zimmerschlüssel, Julius!“

Aber er sträubte sich.

„Es ist Rövers Hund,“ sagte das Mädchen mit bebenden Lippen, und wie elektrisiert von dem Namen eilte Julius davon, um aufzuschließen.

„Du reibst Dich auf, Grete,“ flüsterte er leise der Schwester zu, die dem vierfüßigen Patienten auf des Bruders Bett ein Lager bereitete. „Glaube mir, Du nimmst es zu schwer.“

„Jeder nimmt’s eben, wie er kann. Hol’ eine Schale Wasser!“

Julius gehorchte, und Grete wusch dem Hunde sorglich den Schmutz und das Blut von der Pfote; sie zerriß eines ihrer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_791.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2023)