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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Schrei war sie in sich zusammengesunken. Aber Grete hatte den Kopf oben behalten - sie war an den Schrank gestürzt, hatte dem Bruder das Geld aus der kleinen Kasse in die Hand gedrückt und ihn in seine Kammer geschoben. „Flieh’ – dort der Gang – – vielleicht ist’s noch möglich, daß Du entkommst! Wo nicht, verbirg Dich darin, bis die Gefahr vorüber ist.“ Julius war in dem düsteren Gange verschwunden, ohne Widerrede, ohne Dank, ohne Abschied, und hinter ihm hatte die Schwester aufathmend die Thüre geschlossen. Dann war draußen die Klingel gezogen worden –

„Mutter, Mutter!“ rief Grete, als sie jetzt der Polizei voraus ins Zimmer stürzte, „sei stark!“

Frau Meermann hob den Kopf, verstört die Tochter anstarrend, und da erschien auch schon Röver mit den Schutzleuten unter der offenen Thür. Die alte Frau brach bei seinem Anblick in ein wildes Lachen aus.

„Sie?! Sie! O, das ist ja schön, daß einer kommt, meinen Sohn fortzuschleppen, welcher selber – ein Dieb den anderen!“

„Mutter!“ fiel Grete ihr tödlich erschrocken ins Wort.

Röver aber that, als sehe und höre er nicht. Er drehte sich um und ertheilte seinen Untergebenen den Befehl zur Haussuchung so laut und rasch, daß seine Stimme die seiner Beleidigerin übertönte.

„Zeigen Sie mir das Zimmer Ihres Bruders!“ wandte er sich dann kurz an Grete.

Sie schritt ihm schweigend voran.

„Ist er zu Hause?“

„Ueberzeugen Sie sich!“

Röver trat in die Kammer – der erste Blick zeigte ihm, daß sie leer war; sein zweiter fiel auf den Schrank dem Eingang gegenüber, und erschrocken fuhr er sich an die Stirn. Daß er das hatte vergessen können - die geheime Treppe! Hastig stürzte er vorwärts. Da sah er Grete zusammenzucken, wanken; ihre Augen begegneten in tödlicher Angst den seinen, ihre Augen, die nicht lügen konnten. Seine Ahnung wurde zur Gewißheit, der Gesuchte mußte durch diesen Gang entflohen sein, wohl erst vor Minuten. Es galt die höchste Eile – – dennoch blieb er stehen wie gebannt. Wenn er die Pflicht preisgab um der Liebe willen, wenn der Beamte sich dessen nicht erinnerte, was dem Menschen bekannt war, wenn er dem geliebten Mädchen, das fast verging vor Angst und Beschämung, das Aeußerste ersparte - wer wollte ihm beweisen, daß er pflichtvergessen gehandelt habe! In seinen Schläfen hämmerte es, seine Pulse flogen.

Einer der Schutzleute erschien in der Thür. „In der Wohnung ist der saubere Vogel nicht, Herr Röver!“

Entschlossen wandte sich Röver nach ihm um; sein innerer Kampf war entschieden. „Durchforschen Sie das ganze Haus vom Keller bis zum Boden, und wenn Sie ihn dann nicht finden, erstatten Sie sofort die Anzeige davon am Bahnhof!“

Grete war’s, als drehe sich die Stube um sie. Was? Er kannte den Gang und schwieg, er ahnte, wußte, daß ihres Bruders Flucht auf diesem Wege erfolgt war, und verrieth ihn nicht! Der Mißhandelte wollte seinen Beleidiger nicht verderben! Er verletzte seine Pflicht, belastete sein Gewissen – für wen? für was? Für einen nichtsnutzigen herzlosen Buben, für eine vor Hochmuth unkluge Frau, für sie, die ihn verachtet, mißhandelt hatte?! Sie wollte es nicht! Es sollte nicht sein! Dieser Mann war ein Rasender in seiner heiligen Langmuth!

Die Hand auf seinen Arm legend, deutete sie nach dem Schranke. Sie überlegte nicht, sie dachte nicht, es trieb sie vorwärts mit übermächtiger Gewalt.

„Dort, hinter jener Thür befindet sich ein geheimer Gang! Lassen Sie dort nachsuchen!“

Sie hatte mit klingender Stimme gesprochen Der Schutzmann stürzte auf den Schrank zu, fand die Feder und verschwand auf der dunklen Treppe. Es war geschehen! – Die Schritte des Mannes verhallten, es ward totenstill um die beiden. Grete stand da, die Hände auf das Herz gepreßt, zitternd vor den Folgen ihrer That, doch ohne Reue; er sah sie an mit langem, düsterem Blicke. Endlich öffnete er die Lippen.

„Warum haben Sie das gethan?“

„Weil ich’s nicht dulde, daß Sie sich zu Grunde richten – für uns!“ Es lag eine grenzenlose Verachtung in der Betonung dieser zwei Worte. „Sie wollten schweigen ... leugnen Sie nicht! Ich sah’s, und darum redete ich.“

„– und verrathen Ihren Bruder, nur um mir nicht verpflichtet zu werden, nicht durch meine Hilfe die schwerste Stunde Ihres Lebens erleichtert zu wissen - o, ich kenne, ich verstehe Sie!“

Sie zog statt der Antwort ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche. „Nehmeu Sie! Es hat schwer auf mir gelastet, monatelang. Ich trag’s nicht länger, ich kann es nicht. Ich weiß, daß Julius Meermann der Dieb auch jener dreitausend Mark ist, derentwegen Sie verdächtigt wurden - hier, hier haben Sie den Beweis!“

Anton nahm betroffen den Zettel und faltete ihn auseinander. Die spurlos verschwundene Berechnung! Und sie – sie, seine Feindin, gab den Namen des geliebten Bruders preis, um den seinigen vom Makel zu befreien! Warum nur, warum? Sollte er sich getäuscht haben, sollte dennoch ihr Herz – Thorheit, es nur zu denken! Und doch – in der gleichen Sekunde fiel sein Blick auf das Muster des Taschentuchs, das Grete, in Thränen ausbrechend, vor die Augen preßte, und ein heißes Glücksgefühl durchzuckte ihn. Kein Zweifel mehr! Die ihm seinen ehrlichen Namen zurückgab, war auch die Freundin, die sich liebevoll seines verwundeten Hundes angenommen hatte!

„Fräulein Meermann,“ preßte er hervor, geblendet von der Erkenntniß, die plötzlich sonnenhell auf ihn eindrang, „haben Sie Dank, Dank für alles!“ Mit einem innigen Aufleuchten seiner dunklen Augen ergriff er ihre Hand.

In diesem Augenblick kehrte der Schutzmann zurück, ohne den Entflohenem. Julius war entkommen.

Es war ein fast hörbares Aufathmen, mit dem sich Röver zu seinem Untergebenen wandte. „Besorgen Sie die nöthigen Meldungen auf dem Bahnhof! Dem Chef werde ich selbst Bericht erstatten.“ Dann trat er zu dem jungen Mädchen.

„Leben Sie wohl, Fräulein Meermann,“ sagte er ernst. „Auf Wiedersehen!“

Sie antwortete nicht, sie hob nicht den Kopf. Sie hatte ihre Schuldigkeit gethan, er würde glücklich sein. Für sie selbst waren Glück und Hoffnung zu Ende. – –

An diesem Abend erkrankte Frau Meermann schwer und rang wochenlang zwischen Leben und Tod; Grete hatte Tag und Nacht zu schaffen und in ihrem Gemüth verdrängte eine Sorge die andere. Ins Geschäft war sie nicht mehr gegangen. Von der Außenwelt drang fast keine Kunde zu ihr. Ihre Mutter und sie hatten keine Freunde mehr, seit das Vergehen und die Flucht des Sohnes bekannt geworden waren, seit Röver unter der Beihilfe des Kommissars durch ein erneutes Gerichtsverfahren gläuzend gerechtfertigt und endgültig von dem auf ihm ruhenden schimpflichen Verdacht gereinigt worden war. Die Zeitungsnummer, die den Bericht darüber sammt einigen keineswegs schmeichelhaften Betrachtungen über den flüchtigen Dieb enthielt, bekam Grete von einem Ungenannten zugesandt; aber die Absicht, ihr damit wehzuthun, erreichte derselbe nicht. In ihr war es sehr still geworden.

Von ihrem Bruder verlautete nichts, er mußte jetzt längst in Sicherheit sein. Ihre Mutter genas. Was durfte sie darüber hinaus hoffen oder wünschen?

An dem Tage, an welchem der Arzt Frau Meermann außer Gefahr erklärt hatte, brachte ein Gärtnerbursche einen Veilchenstrauß für Grete; der ihn sandte, wünschte nicht genannt zu werden. Diese Gabe wiederholte sich alle zwei Tage, und Grete erröthete, wenn die Blumen gebracht wurden, jedesmal so tief, wie sie im Gedanken an ein Paar dunkler gefürchteter Augen zu erröthen pflegte.

„Gewiß von Märtens,“ sagte Frau Meermann, als sie wieder anfing, Interesse an ihrer Umgebung zu nehmen. „Das gefällt mir von dem jungen Manne, daß er gerade jetzt an Dich denkt.“

Grete mußte ein Lächeln unterdrücken. „Warum sollen die Blumen denn gerade von Märtens sein? Könnten wir nicht auch sonst noch einen Freund besitzen, der uns seine Treue in so zarter Weise beweisen will?“

Es war ein sonnenheller Sonntagmorgen. Grete hatte die Kammerfenster weit geöffnet, damit der Klang der Kirchenglocken

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_795.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)