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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

der die erste Linie zu Glynde in der Grafschaft Sussex auf dem Gute des Lord Hampden im Jahre 1885 in Angriff nahm. Damals hat auch die „Gartenlaube“ (Jahrgang 1885, S. 880) kurz darüber berichtet. Die Linie war eine englische Meile lang und beförderte Thonerde nach der Sussex-Portland-Cement-Fabrik. Da Jenkin während des Baues starb, wurde die Strecke von Professor John Perry zu Ende geführt. In Amerika sind die Telpherlinien vielfach in Verwendung. Die längste mißt etwa 300 Kilometer; sie befördert die Briefschaften zwischen Buenos-Ayres und Montevideo in regelmäßigen Zwischenräumen von je zwei Stunden hin und her. Eine der späteren Anwendungen, welche das Auge der Fachmänner und das Interesse des Publikums auf sich lenkte, war die Telpherlinie auf der letzten elektrischen Ausstellung zu Edinburgh im Jahre 1890 (siehe die Abbildung auf Seite 93). Ihre Neuheit bestand darin, daß sie zur Personenbeförderung benutzt wurde. Ein Zug von drei Wagen lief über ein starkes Drahtseil aus Stahl in der Dicke von 33 Millimetern, das an den Wegkrümmungen durch eine gebogene Schiene ersetzt war. Jeder Wagen hing an seinen Laufrädern mittels Federn (M), so daß er durch sein Gewicht immer in senkrechter Lage verblieb, selbst wenn das Seil etwas bergan stieg; er enthielt Sitzplätze für vier Passagiere. Die Lokomotive entnahm ihre Triebkraft einem zweiten dünnern Drahte, der auf Isolatoren, ähnlich den Porzellanglocken der Telegraphenstangen, ruhte. Den Rückweg nach der Centralstation dagegen suchte der Strom durch das Geleisedrahtseil selbst.

Ob eine solche Anlage für den Personenverkehr in größerem Maßstabe sich eignet, hauptsächlich angesichts der Gefahren, welche aus der geringen Festigkeit des Baues oder einem Seilbruch drohen, mag noch dahingestellt bleiben. In Edinburgh war es das Schwanken des Seils und das damit verbundene Auf- und Niederhüpfen der Wagen, worüber die Fahrenden nicht gerade entzückt waren, und das ist erklärlich in einem Jahrhundert, das mit demselben Recht das elektrische wie das nervöse genannt wird. Manche Leute freilich würden selbst eine etwas gewaltsame Schaukelbewegung jenem entsetzlichen Rasseln, Schütteln und Stoßen vorziehen, das leider noch immer so viele unserer Eisenbahnwagen auf festem Schienenstrang auszeichnet.




Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.

(5. Fortsetzung.)

4.

Herr Jaspersen erreichte den „Falken“, als dieser schon innerhalb des Hafens war, und ging, so rasch es sich thun ließ, an Bord. Während der Fahrt zum Landungsplatz saß er bleich und still neben dem Lager seiner Tochter, deren Ohnmacht immer noch nicht weichen wollte. Einer der Offiziere, bewegt von diesem wortlosen Schmerze, leistete ihm Gesellschaft und berichtete über die Ereignisse der letzten Stunden. Die „Bachstelze“ sei mit einer Wache unter dem Schutze der Insel zurückgeblieben und könne von dort aus bei dem guten Wetter, das sich ankündige, leicht in den Heimathhafen gelangen; Lieutenant Gebhardt liege in bleiernem Schlafe, scheine aber ernstlichen Schaden nicht genommen zu haben, was ja nach Aussage des Arztes auch von dem Fräulein zu hoffen sei. Nur über Frettwurst, den Burschen des Lieutenants, fehle jede Nachricht.

Theilnahmlos hörte der Lehrer zu; er wartete mit verzehrender Ungeduld auf den Augenblick der Landung, und kaum hatte der „Falke“ Anker geworfen, so ließ er seine Tochter ans Land schaffen, um sie unverzüglich in den Schutz des elterlichen Hauses zurückzubringen, dem sie sich zu so unglücklicher Stunde entzogen. Gebhardt hatte er auch jetzt nicht gesehen.

Einige Tage vergingen.

Herbert hatte sich leidlich erholt, und auch über Hildes Befinden hörte man befriedigende Nachrichten, Aber das Leid um das Schicksal des treuen Frettwurst, die Verwirrung, in welche er seine und Hildes Zukunft gestürzt, die Besorgniß, wie man ihn im Schulhaus empfangen werde, das alles lastete schwer auf dem Gemüth des Offiziers.

Er hatte wohl gemerkt, wie man im Kreise seiner Kameraden, trotz aller Theilnahme für das junge Mädchen, seine Verlobung nicht als ernsthaft gemeint auffaßte. Es fielen darüber keine greifbaren Aeußerungen, gegen die er hätte Verwahrung einlegen können, sondern was ihn nadelfein und nadelscharf verletzte, das war eine halb gutmüthige, halb frivole Aeußerung, die zwischen den Worten lesen ließ, ein zweifelnder Blick oder ein überlegenes Zucken um den Mund. Er gab es von Anfang an auf, dagegen anzukämpfen. Mochten sie denken und reden, was sie wollten – was er selbst zu thun hatte, stand ihm unverrückbar vor Augen!

Herbert war immer noch dienstunfähig, als ihm der Stationschef, ein aristokratischer Herr mit blank poliertem Schädel und wallendem Blondbart, einen Besuch an Bord machte, denn die Excellenz hielt ganz besondere Stücke auf den tüchtigen jungen Offizier.

Nachdem Herbert seinen innigen Dank für die Hilfe des „Falken“ abgestattet hatte, fragte ihn der Chef vertraulich nach der kühnen Sportsfreundin, die in der Schreckensnacht an seiner Seite gewesen sei, und ob das Gerücht, daß er sich mit dem Mädchen verlobt habe, auf Wahrheit beruhe; hoffentlich sei das alles leeres Geschwätz.

Erröthend, aber bestimmt gab der Lieutenant Auskunft. Lediglich durch seinen eigenen Leichtsinn sei das Fräulein bloßgestellt worden. Gerade deshalb müsse er durch seine Verlobung den Leuten das Recht nehmen, sich verletzend über die Dame zu äußern, die ihm durch die Ereignisse jener unheilvollen Fahrt nur noch theurer geworden sei. Freilich habe er noch nicht förmlich um ihre Hand angehalten, wolle sich aber unverzüglich die Zustimmung der Eltern erbitten.

Der Chef schüttelte den Kopf.

„Aber mein lieber Gebhardt, Sie müssen sich doch sagen, daß Sie als aktiver Offizier die Tochter eines Dorfschullehrers, noch dazu eines hier ansässigen, unbedingt nicht ehelichen können.“

In Herberts noch tief erregter Seele flammte es auf. „Wenn dem so ist, Excellenz,“ rief er bitter, „so glaube ich in einer Sphäre, in der so engherzige Anschauungen maßgebend sind, überhaupt keinen Raum mehr zu haben. Die Tochter eines Emporkömmlings darf ich heirathen, vorausgesetzt, daß sie reich ist und ihre Familie soviel gesellschaftlichen Schliff besitzt, um nicht gerade Anstoß zu erregen, mag die Dame im übrigen so hohl sein, wie sie will; aber die Tochter eines Lehrers, die Geist und Herz besitzt, deren Vater für die Menschheit zehnmal mehr leistet als so ein Geldmensch – die zu heirathen ist nicht standesgemäß! Eine solche Verwirrung der Begriffe ist ebenso widerspruchsvoll, wie sie meinen Anschauungen über Herzenstakt widerstreitet!“

Glücklicherweise war der Chef, trotz ansgeprägter Standesvorurtheile, ein billig denkender Mann, der, zumal unter so besonderen Umständen, diesen jugendlichen Ausbruch des Unwillens menschlich, nicht dienstlich auffaßte. Beruhigend entgegnete er: „Sie sind leidenschaftlich erregt, Gebhardt, und überdies, wie mir scheint, in einer selbstverschuldeten verwickelten Lage. Ich kann und will daher, was ich eben gehört habe, nicht als Ihr letztes Wort gelten lassen. Ueberlegen Sie sich die Sache reiflich! Unsere sogenannten Vorurtheile mögen in einzelnen Fällen verletzend, sogar ungerecht wirken, allein für das Wohl der Gesamtheit sind sie unbedingt nothwendig. Gemeinsamkeit auch der äußeren Lebensbedingungen – das schweißt ein Corps zusammen. Als Gelehrter oder Künstler mögen Sie nach Ihrer eigenen Façon selig werden, doch als Offizier müssen Sie es verstehen, sich in jeder Beziehung zu uniformieren!“

„Gerade dies widerstrebt mir aber, Excellenz!“

„Gebhardt, nehmen Sie Vernunft an! Es sollte mir um Sie und den Dienst leid thun, wenn sich ein hoffnungsvoller Offizier wegen einer Liebesangelegenheit den Hals bräche! Lassen Sie sich doch nicht fangen! Ihr feiner Ehrbegriff ist falsch dirigiert. Ihre erste Pflicht besteht darin, einen brauchbaren Offizier. wie Sie einer sind. dem Dienst des Königs zu erhalten. Dahin weist Ihr Kompaß!“

Herbert senkte einen Augenblick den Kopf, doch schon in der nächsten Sekunde richtete er ihn wieder stolz empor. „Ich danke für das Wohlwollen, Excellenz, und weiß es zu schätzen. Ich weiß auch, daß viel Wahrheit in Ihren Worten liegt. Indessen, Excellenz irren. Es handelt sich für mich nicht um eine einfache Liebesangelegenheit. Die Liebe beeinflußt wohl mein ganzes Denken – wie könnte ich das leugnen? – aber sie giebt hier

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_094.jpg&oldid=- (Version vom 8.6.2020)