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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

„Nun denn! Er kommt schon heute abend aus Dresden hier an, und wir sollen ihn in derselben Nacht noch über die Grenze schaffen, sonst nimmt man ihn gefangen!“

„Aber wen denn? Ich verstehe Dich nicht!“ –

Und allerlei Notenblätter, hastig beiseite geschoben, flatterten umher, wohin sie eben Lust hatten.

„Daß Du das nicht errätst! Niemand anderes als den seltsamen wunderbaren Menschen und Musiker, den aufgehenden Stern: Richard Wagner! Hier, lies den Brief eines Freundes in Dresden! Wir müssen also ohne Aufsehen für sein Weiterkommen sorgen. Jeder brave Musiker muß sein Teil beitragen und ihn schützen helfen, das ist hier Ehrensache! Er hat dort mitgethan bei dem Aufstande, allerlei Reden an das Volk gehalten, lange Recitative, aber ohne Musikbegleitung!“

„Wir stehen für ihn wie ein Mann!“ sagte da der „graue Kantor“ strahlenden Blickes. „Er mag getrost kommen, die Heilige Cäcilia wird ihren getreuen Dienern helfen!“

Und er kam wirklich am Abend desselben Tages in Erfurt an, jener Flüchtling der damals nach Paris eilte. Eine bewegtere und doch zugleich friedlichere Versammlung konnte nicht gedacht werden als die, welche damals in der Wohnung des „grauen Kantors“ sich traf. Doch der Bewegteste von allen war der Gast selber, der kleine Mann mit dem blassen scharfgeschnittenen Gesicht. Was aber damals alle jene schlichten Kollegen in den Stunden des Beisammenseins dem Flüchtling anzuthun sich mühten, das sagen keine Worte. Wie einen geliebten scheidenden Sohn oder Bruder behandelte und beschenkte man ihn und die Taschen des unscheinbaren Fuhrwerks, das da im Freien draußen vor der Stadt hielt, bargen Proviant auf Wochen – in allen Gestalten.

Es war eine laue Mondscheinnacht, die heraufgezogen war. In einzelnen Gruppen wanderte man zur festgesetzten Stunde auf Umwegen hinaus, die letzten mit Richard Wagner selber. Da – in irgend einer Straße tauchten erleuchtete weit geöffnete Fenster auf, und in die Dunkelheit hinaus strömte, wie ein heller Strahl, der Gesang lieblicher Frauenstimmen – das thüringer Lieblingslied:

„Ach, wie wär’s möglich dann,
Daß ich dich lassen kann!
Hab’ dich von Herzen lieb,
Das glaube mir!“

Der fremde Gast blieb plötzlich wie festgebannt stehen, zum heimlichen Entsetzen seiner getreuen Begleiter Böhner und Brückner, denen der Boden unter den Füßen brannte. „Ich kenne diese Melodie,“ sagte er leise, „dies Volkslied singt man überall. Laßt mich hier alle Verse hören! Das ist ein schönes Geleit, das man mir zum Scheiden giebt. Und wie rein das junge Volk singt! – Nein, ängstigt Euch nicht, Ihr bekommt mich nicht von der Stelle, bis der letzte Ton verklungen ist!“

Der ungenannte Komponist jenes Liedes vom „blauen Blümelein“ wie auch der Musikmeister Brückner meinten in jenen Augenblicken, der letzte Vers wolle niemals kommen. Ueberall sahen sie verdächtige Gestalten auftauchen, näher schleichen und gespenstische Fangarme ausstrecken nach ihrem Schützling. Nun, zum Glück erklang endlich doch das letzte Wort, der letzte silberhelle Ton – der Flüchtling mußte jetzt wieder an etwas anderes denken! Aber nur zögernd setzte er sich in Bewegung. „Ich wollte, ich hätte das Ding da selber gemacht!“ murmelte er im Weitergehen.

Ob der „graue Kantor“ nicht eben dieses Wort seines Kollegen später als die größte Genugthuung seines Musikerlebens empfunden haben mag? Vergessen hat er’s gewiß nie und nimmer. – –

Man war bei der kleinen geschlossenen Kalesche angekommen, wo die Vorausgegangenen schon ungeduldig warteten. Da setzte mit einem Male, Richard Wagner war eben eingestiegen - alle Vorsicht in der Erregung des letzten Händeschüttelns vergessend, irgend eine junge, weiche Stimme ein:

„Wenn ich den Wandrer frage:
Wo willst du hin ? –
Nach Hause, nach Hause!“

Und im brausenden Chor erklang es mit ergreifendstem Ausdruck:

„Nach Hause, nach Hause!“

bis zu jener erschütternden Schlußklage, dem Verzweiflungsrufe:

„Hab’ keine Heimat mehr!“

Eine halb erstickte Stimme aber rief „da capo!“

Dann zogen die Pferde an. Noch immer, nur ferner und immer leiser, zog jene Klage begleitend hinaus in die Mondnacht – aber ein einsam Gewordener drückte sein Gesicht in die Kissen des Wagens, der ihn unaufhaltsam davontrug, und weinte bitterlich:

„Hab’ keine Heimat mehr!“ – –

Johann Ludwig Böhner ist längst „nach Hause“ gegangen, sein jüngerer Freund aber, Friedrich Brückner, jetzt in Quedlinburg, durchblättert als dreiundachtzigjähriger Greis noch, in stiller Zurückgezogenheit, heiter, voll Beschaulichkeit das Buch seines Musikerlebens und verweilt besonders gern auf jenem Blatte, das die Ueberschrift trägt: „Erfurt“. Er freut sich seiner tüchtigen, in alle Welt verstreuten Söhne, die seinem erziehenden Taktstab alle Ehre machen, und eines singenden Töchterleins und vor allem des „Kammervirtuosen“, des Cellisten Oskar, dessen Cellosaiten meinen Traum von den beiden thüringischen Volksliedern hervorgerufen haben, einen Traum, der doch im Grunde eine wahre Geschichte ist!




Die Perle.
Roman von Marie Bernhard.
(6. Fortsetzung.)


Zeno machte eine Pause in seiner Erzählung, dann fuhr er mit einem musternden Blick auf seine zuhörenden Kameraden fort: „Seit dem Vater unseres Montrose durch die allzu klugen Finanzkünste seines Herrn Papas die diplomatische Laufbahn abgeschnitten worden war, soll er völlig verändert gewesen sein – anfangs beinah tiefsinnig, so daß sie ihn in eine Nervenheilanstalt bringen mußten. Später verfiel er in eine Art stiller Verzweiflung, die ihn gleichgültig gegen alles machte. Der Vater wünschte, ihn zu verheiraten – der Sohn ließ sich verheiraten. Der Vater wünschte, der Sohn solle nach Südamerika gehen und dort ein Zweiggeschäft der väterlichen Bank begründen – der Sohn gehorchte. Seine Ehe soll die denkbar unglücklichste gewesen sein, und als seine Frau gestorben und der Herr Papa in Brüssel gleichfalls aus dem Leben geschieden war, da kam Herr von Montrose nach Deutschland zurück und brachte seine beiden Kinder mit. Den Sohn steckte er ins Kadettenhaus, die Tochter in ein Pensionat. Er selbst reiste, ruhelos, jahraus jahrein – man hat ihn in allen möglichen und unmöglichen Ländern getroffen, immer mit demselben stillen verschlossenen Gesicht. Ich hab’ ihn auch kennengelernt, wie man so sagt – wirklich kennenlernen wird den Mann sobald keiner; sogar die eigenen Kinder haben offenbar keine Ahnung, wie es in ihm aussieht. Er hat ganz sonderbare Augen; sie sehen über einen hinweg und doch in einen hinein … beschreiben läßt sich das nicht. Die Kinder scheinen ihm nicht nachzuschlagen – sein Herr Sohn, unser Kamerad, stand in Berlin bei der Garde und hat dort ein so flottes Leben geführt, daß sein Vater ihn hierher nahm, um ihn etwas mehr im Auge zu behalten. Die Tochter, die einzige Tochter –“

„Schön? Hübsch?“ warf Oesterlitz gespannt ein.

Zeno verzog die Lippen. „Mein Geschmack ist sie nicht – aber ’s ist schließlich alles Ansichtssache!“

„Aber, Zeno, bitte! Darin sind wir denn doch einig! Clémence von Montrose und hübsch! Wird wohl kein einziger sein, der so ’was behaupten möchte!“

„Ja,“ fuhr Zeno fort, „und sie ist die Braut unseres Kameraden von Jagemann, des schönen Jagemann. Montrose, der Vater, will sich nun seßhaft machen, in hiesiger Gegend, er will die ‚Perle‘ kaufen.“

„Die ‚Perle‘? Was ist das?“

„Altes feudales Gut. Ein paar hundert Jahre in ein und derselben Familie – Geschenk des Landesherrn an den Stammvater. Jetziger Besitzer verschuldet über Kopf und Ohren, nicht mehr zu halten. Unheilbar kranke Frau, wunderschön6e Tochter.“

„Schön? Wahrhaftig? Auf Ihr Wort?“ Oesterlitz war ganz Ohr.

Zeno lachte. „Stimmen sammeln!“ sagte er kurz. Es war nicht nötig! Es erhob sich ein Lärm ohnegleichen, denn während Zenos Bericht war man um die Bowle herum nicht unthätig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 111. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_111.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2019)