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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


emporgehobenem Köpfchen und wie sie gestern Mama hatten vorlesen müssen, eine sentimentale Liebesgeschichte aus dem Englischen, die ihr so unglaublich süßlich vorgekommen war – und wie stark die Lilien um sie her dufteten, aber ihre Zeit war nun auch bald vorbei, die Linden fingen ja schon an zu blühen ...

Aber während sie all das dachte, hastig, ungeordnet, kam kein Wort über ihre Lippen, und sie wartete, daß Herr von Montrose etwas zu ihr sagen sollte. Er stand noch immer neben ihr, den Hut in der Hand – er sah von ihr weg, weil er merkte, daß sein Blick sie verwirrte, und ließ ihr Zeit, sich zu sammeln, aber er selbst fühlte auch, wie dieser schwüle Mittagszauber ihn in seinen Bann schlug. Endlich brachte Ilse stockend hervor: „Wollen wir in die Laube gehen?“

„Gern. Ich stehe zu Ihren Diensten.“

Sie schritt ihm voran zwischen den Blumenbeeten hindurch, mit ihrem leichten Gang, der so gut zu dem anmutig getragenen Köpfchen stimmte. In der kleinen, mit wildem Wein überwucherten Laube setzte sie sich wie erschöpft auf eine Holzbank und faltete die Hände leicht im Schoß. Montrose ließ sich in einiger Entfernung von ihr nieder und blickte sie wieder unverwandt an. Sie saß ganz in der grüngoldenen Dämmerung, und die gezackten Schatten der Weinblätter liefen zuweilen in lebendigem Spiel über sie hin. „Ich – ich hab’ eine Bitte,“ fing Ilse endlich an, zugleich hob sie wie verwundert den Kopf. war das wirklich ihre eigene Stimme, die das sagte? „Man – man hat mir gesagt,“ fuhr sie stockend fort, da er nur eine verbindliche Bewegung aufmerksamen Zuhörens machte, „Sie, Herr von Montrose, wollten unsere Besitzung kaufen, die ‚Perle‘.“

„Hat Ihr Herr Vater Ihnen das mitgeteilt?“

„Nicht mit dürren Worten. Papa ist – er kann darüber nicht sprechen“ – die Worte kamen ihr jetzt williger und rascher – „es liegt wie eine schwere Krankheit über ihm, er kann den Gedanken nicht fassen, von hier fort zu müssen, Und ich weiß nicht, wir alle, die ihn lieben, wissen nicht, wie er das Leben fern von hier ertragen soll. Es giebt gewiß viele, die das gar nicht verstehen, die es lächerlich finden, ich weiß nicht, ob –“

„Nein, nein,“ sagte er ruhig und lächelte ein wenig, „Sie sollen nicht denken, daß Sie in mir solch einen Verständnislosen vor sich haben. Je älter man wird, je mehr man von Welt und Menschen sieht, desto mehr wird man trachten müssen, alles zu verstehen, auch das Fremde, der eigenen Natur Unbegreifliche. Und das ist hier nicht eimnal der Fall. Hätte ich eine Heimat gekannt, ich bin fest überzeugt, daß mir die Trennung von ihr unendlich schwer gefallen wäre.“

Mit einem raschen scheuen Blick sah Ilse den Sprecher an; ihre warmen dunklen Augen verrieten deutlich ihr Mitgefühl, aber sie blieben nicht haften auf ihm; wie erschrocken wanderten sie weiter und ruhten beharrlich auf einem blühenden Fliederbusch, der neben dem Eingang der Laube stand.

„Für den Fremden muß es den Anschein haben, als sei Papa kein tüchtiger Landwirt,“ fuhr Ilse fort, „denn die ‚Perle‘ ist ein schönes ertragfähiges Gut, und wir können uns doch nicht mehr darauf halten. Aber als mein Vater es bekam, stand es, wie ich jetzt weiß, schon nicht mehr gut damit, und er hätte sehr sparsam leben müssen, um allmählich wieder in die Höhe zu kommen. Das aber konnte er nicht. Für sich selbst brauchte er nicht viel, aber meine arme Mutter ... Sie wissen davon?“ unterbrach sie sich, da Montrose eine zustimmende Bewegung gemacht hatte.

„Ja, ich weiß! Und Sie irren auch, Baroneß, wenn Sie glauben, ich hielte Ihren Vater für einen schlechte Wirtschafter, weil er die ‚Perle‘ nicht länger halten kann. Ich weiß, daß er Tüchtiges leistet, und setze volles Vertrauen in seine Kraft und Fähigkeit!“

Ilses Lippen zitterten – wie wohl ihr dies Lob ihres Vaters that! Wahrlich, er, zu dem sie sprach, machte es ihr leicht genug, ihre Bitte vorzubringen, ... und dennoch dieser Alp, der auf ihr lag, dieser unerklärliche Zwang! Eine dumpfe Angst stieg von neuem in ihr auf, ließ ihr das Herz bis in den Hals hinauf schlagen und raubte ihr die Sprache; es blieb wieder eine Weile still zwischen ihnen. „Und Ihre Bitte?“ fragte er endlich leise.

Sie zuckte empor – jawohl, die Bitte! Was war sie denn für eine Tochter, daß sie im Grübeln über ihre „dummen unklaren Empfindungen“ das Wichtigste vergaß? Eine fliegende Röte kam und ging in ihrem Gesicht. „Es ist mir gesagt worden, Sie, Herr Baron –“

„Bitte,“ unterbrach er sie rasch, „einfach Montrose!“

„Herr von Montrose“ – es fiel ihr schwer, seinen Namen auszusprechen – „man hat mir gesagt, daß Sie die Leitung Ihrer neuen Obliegenheiten nicht selbst übernehmen wollen –“

„Können!“ betonte er, wieder mit seinem flüchtigen Lächeln. „Vielleicht würde ich es wollen, wenn ich mich nicht gänzlich unfähig fühlte, diese Aufgabe zu erfüllen. Was versteht ein Bankier vom Landbau? Ich würde gern einen tüchtigen Beamten haben, der mir einen Einblick gönnte, mich etwas lernen ließe. Würde Ihr Vater, Baroneß, dieser Beamte sein wollen?“

Da war ihre Bitte nun, und sie selbst hatte es nicht nötig gehabt, sie auszusprechen! Jetzt hätte sie ihm danken müssen für sein Entgegenkommen, das fühlte sie, statt dessen erwiderte sie nur: „Ich weiß das nicht, Papa hat keine Silbe darüber geäußert. Er ist so überaus reizbar, so wund in seiner Seele – ich glaube nicht, daß er an irgend jemand, er sei, wer er sei, eine solche Bitte richten könnte.“

„Nun, so will ich ihn bitten,“ sagte Montrose einfach.

„Sie – ach, wenn Sie das wollten!“

„Warum sollte ich nicht? Es ist der kürzeste Weg. Wollen Sie mir nur sagen, Baroneß, wo und wann ich Ihren Vater in nächster Zeit sprechen kann?“

„Papa führt ein merkvürdiges Dasein jetzt; er kommt nicht mehr regelmäßig zu den Mahlzeiten, wir müssen oft stundenlang auf ihn warten. Wenn ich ihm aber sage, Sie seien hier gewesen und wünschten ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen, so wird er selbstverständlich zu jeder Stunde, die Sie bestimmen, zu Ihrer Verfügung sein!“

„Gut! Sagen wir übermorgen nachmittag um sechs Uhr – meinen Sie, daß es so recht wäre?“

„Ohne Zweifel ist es das.“

Montrose erhob sich. „Ich hoffe, die Angelegenheit wird zu Ihrer Zufriedenheit geordnet werden.“

Auch Ilse war aufgestanden, sie suchte mühsam nach Worten. Es war ihr bisher nie schwer gefallen, sich zu bedanken, schon als Kind war sie freudig mit ausgebreiteten Aermchen auf jeden losgestürmt, der ihr ein Spielzeug, ein Naschwerk brachte, und auch später war es fast zum geflügelten Wort in ihrem kleinen Kreise geworden: man muß Ilse etwas zuliebe thun, damit sie sich bedanken kann! Warum fiel ihr heute, wo ihres geliebten Vaters Existenz in Frage kam, das so schwer, was ihr sonst ein unabweisbares Herzensbedürfnis gewesen war? Sie kam sich hart und gefühllos vor, sie war nahe daran, in ganz kindische hilflose Thränen auszubrechen; da warf sie den Kopf zurück und das schöne weichgeformte Gesicht nahm ungewollt einen hochmütigen Ausdruck an. „Ich habe Ihnen noch zu danken!“ brachte sie endlich heraus. Es klang hart und unverbindlich, sie fühlte das recht wohl, aber sie hätte es nicht anders sagen können, und wenn es um ihr Lebensglück gegangen wäre.

„Ich bitte, Baroneß! Es handelt sich ja auch um meinen Vorteil.“ Sie traten nebeneinander aus der Laube heraus und schritten dem Gitterthor zu. Als sie am linken Seitenflügel des Schlosses vorüberkamen, öffnete sich die Thür zu einem ziemlich niedrig angebrachten Altan, und Clémence von Montrose, von der Wirtschasterin begleitet, trat heraus. Ihr Gesicht bekam einen Ausdruck beinahe verblüfften Erstaunens, als sie das schöne Mädchen gewahrte, das an ihres Vaters Seite ging. Sie kniff die Augen zusammen, wollte die Lorgnette emporheben und riß ungeduldig an den Spitzen ihres Kleides, in die der goldene Stiel sich verwickelt hatte. Endlich hatte sie das Glas vor den Augen. „Sieh da, Papa! – Meine Liebe, wie heißen Sie doch gleich? – Giebt es da unten nicht irgendwo eine Thür, die hier zu uns heraufführt?“

„Ganz gewiß, gnädigstes Fräulein!“ entgegnete Frau Köhler, an welche die letzten Worte gerichtet waren, eifrig und wichtig. „Wir haben hier überall Zugänge. Gleich unten rechts ist eine kleine Pforte, Baroneß Ilse kennt sie ganz genau.“

„Sehr schön! Dann also bitte, Papa, komm herauf und laß mich Deine Begleiterin kennenlernen! Ich käme gerne hinunter, aber ich bin noch nicht zu Ende mit meiner Besichtigung, mir fehlt noch dieser Seitenflügel.“

Was blieb Ilse übrig, als die kleine Pforte zu öffnen und dem „neuen Herrn“, wie sie ihn beharrlich im Geiste nannte, voranzugehen, um auf den Altan zu gelangen!

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_131.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2021)