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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

in welchem auch die mit Heu gefüllten Lager der beiden Almerinnen standen. Die Dirnen waren schon munter und kochten die Morgensuppe. Vom Geprassel des Feuers und vom aufquirlenden Rauch wurde Ruedlieb geweckt, der ihn Dachraum der Hütte auf frisch eingebrachtem Heu geschlafen hatte. Er ließ sich von den Sparren niedergleiten, schüttelte die Heufäden von seinem Gewand und trat ins Freie. Da hörte er schreiende Stimmen und blickte der Richtung zu, aus welcher sie klangen. Ihm zu Füßen senkten sich im Halbkreis die Almgründe in ein schmales, dem See entgegenlaufendes Thal, welches auf der einen Seite von einem steilen Waldhang, auf der anderen Seite von der schroffen, nur mit Gestrüpp bewachsenen und kaum wegsamen Reginwand geschlossen wurde.

Aus diesem Thal herauf klang das wilde Geschrei, das immer kreischender wurde. Stürmenden Laufes eilte Ruedlieb über den Hang hinunter, doch er mußte zur Seite weichen ... eine Schar flüchtender Kühe sprengte ihm entgegen, brüllend, jedes Tier mit schäumendem Maul und aufgequollenen Augen, im Sprung mit den Hinterfüßen hoch ausschlagend. Nach allen Seiten sah Ruedlieb die Ziegen und Schafe flüchten – und überall, von allen Hütten, sprangen die Senner und Almerinnen dem Thal entgegen, Steinbrocken von der Erde raffend, Prügel schwingend unter gellendem Geschrei. „Der Bär, der Bär! Er hat eine Geiß gerissen! Dort! Der Bär! Dort! Dort! Er nimmt die Wand an! Lauft! Lauft! Erschlagt ihn! Drauf! Erschlagt ihn!“

Ruedlieb riß das Messer aus dem Gürtel, und in langen Sätzen, daß unter seinen Füßen die Steine flogen, sprang er über die steile Halde hinunter. Da sah er schon die Leute am Fuß der Reginwand, Steine werfend und die Prügel schleudernd ... unter ihnen stand der Marderecker, mit fahlem Gesicht, Zähren in den Augen, auf den bleichen Lippen nur immer das eine Wort: „Meine Geiß! Meine Geiß!“ Ein paar Sprünge noch, und Ruedlieb sah den Bären, der, die Ziege schleifend, in die Felswand einstieg, unbekümmert um das zeternde Geschrei, der Steine und Prügel nicht achtend, die um ihn herprasselten.

„Leut’, laßt das Werfen sein!“ schrie Ruedlieb und sprang mit gezücktem Messer über den Schutt empor, welcher besudelt war mit dem Blut der Ziege. Wirres Geschrei begleitete dieses Beginnen; die einen riefen den Buben zurück, die anderen feuerten ihn an mit heiserem Zuruf. Da gewahrte das Raubtier den Verfolger. Einen Augenblick zögerte der Bär, dann ließ er sein Opfer fallen, und während die verendete Ziege mit schlagenden Läufen niederrollte über den steilen Schutt, that der Bär einen mächtigen Sprung und gewann ein Felsenband, auf welchem er hineintrabte in das schroffe Gewänd.

Ruedlieb stand mit geschwungenem Messer und stieß einen klingenden Jauchzer aus. Die Leute unten wußten diesen Ruf nicht zu deuten – und sie wußten auch nicht, was sie denken sollten, da sie den Bären mitten im Gewänd auf einer schmalen Grashalde jählings verschwinden sahen, als hätte ihn die Felswand eingeschluckt. Frohlockend schwang sich Ruedlieb auf das Felsenband, aber nur wenige Schritte war er dem schmalen Pfad gefolgt, da klangen ihm plötzlich die Worte des Vaters im Ohr: „Laß Dir nicht in den Sinn kommen, daß Du mit einer Hand an das Gewild rührst!“ Lachend trat der Bub den Rückweg an; es wurde ihm nicht schwer, die Worte des Vaters zu befolgen – das Raubtier war gut aufgehoben, es bedurfte keiner Hand mehr, um ihm den Garaus zu machen. Als Ruedlieb die Leute erreichte, blieb er vor ihnen stehen, mit brennendem Gesicht, und sagte: „Geht heim, Leut’! Der Braungesell hat heut’ die letzte Geiß gerissen.“ Und das Messer in die Scheide stoßend, schritt er davon.

Der Marderecker kniete vor seiner zerfleischten Ziege und jammerte, die anderen schrien – noch immer begriffen sie nicht.

„Ich steig' hinauf!“ kreischte der ältere Hanetzer. „Ich muß wissen, was da geschehen ist!“ Es wurde ihm nicht leicht, das Felsenband zu gewinnen, als er die Stelle erreichte, an welcher der Bär verschwunden war, schrie er den Leuten mit gellender Stimme zu: „Da liegt er in einer Grub’! Seil’ her! Seil’! Den müssen wir fangen!“

Die es hörten, begannen zu johlen wie in trunkenem Jubel, die einen rannten den Hütten zu, um Seile zu holen, drei Sennen kletterten in die Felswand ein, die anderen, Almerinnen und Geißbuben umkreisten die Wand und erstiegen den Grat von der Almenseite. Als sie auf der Höhe niederblickten in die Grube, sahen sie das gefangene Raubtier aufrecht sitzen, mit den kleinen schwarzfunkelnden Augen zornig nach einem Ausweg spähend.

Schimpfworte und Spottreden kreischten von allen Seiten „Erschlagt ihn! Erschlagt ihn!“ schrie eine der Almerinnen, und eine andere: „Laßt die Felsen über ihn hinunter!“

„Nein! Nein!“ rief der Hanetzer. „Lebendig müssen wir ihn haben! Lebendig!“

Vier Seile wurden über die Felswand herabgelassen, in jedes schlug der Hanetzer eine Schlinge, und ihm und den drei Sennen gelang es ohne Mühe, die vier Tatzen des Bären in die festwürgenden Schlingen einzufangen. Unter wildem Geschrei ein Ruck an den Seilen ... und der Bär hob sich, rollte aus der Grube und pendelte, ein wehrloser Klumpen, an der Felswand. Gierige Hände griffen von überall her nach den Seilen, während der Hanetzer und die Sennen springend das Thal gewannen. Langsam schwebte der Bär an den Seilen herab, schaukelnd und schwankend in seiner ungestümen und dennoch nutzlosen Gegenwehr, im Kreis sich drehend und anprallend wider alle Steinschrofen. Mit den Haken der Grießbeile schleiften der Hanetzer und die Sennen das gefesselte Tier, als es den Boden berührte, in die Mitte des Thales, packten die Seile und rannten nach vier Seiten auseinander, so daß der Bär auf dem Rücken lag, mit seitwärts gezerrten Tatzen, wehrlos und entkräftet.

Alle, alle kamen sie jetzt herbeigesprungen. schrien und kreischten, johlten und jauchzten, wie befallen von Raserei, von einem Rausch der Grausamkeit. Was hatten sie um dieses Tier nicht alle leiden müssen, ohne Wehr’ und Hilfe! Tiefe blutende Wunden hatte es ihrem Dasein gerissen, ihrem kärglichen Besitz; gedarbt und gehungert hatten sie, gezittert und geweint, Not und Jammer getragen um dieses Tieres willen! Jetzt war es in ihre Hand gegeben ... und sollte büßen! In schreiender Wut bewarfen sie das Tier mit Steinen und stießen ihm die eisenbeschlagenen Schuhe in die Weichen. Der Bär gab keinen Laut, als wäre er zu stolz, den Peinigern seine Qual zu verraten; nur manchmal suchte er den blutigen Kopf zu erheben und drehte die funkelnden Augen nach allen Seiten. Mit Prügeln schlugen sie nach ihm und rissen ihm Fäuste voll Haare aus dem Pelz. Eine Dirne mit vergrämten Zügen spie dem Bären in die Augen und schrie mit schäumenden Lippen: „So wie der, so sollt’ ein anderer daliegen vor uns! Ein anderer!“ Wie Feuer schlug dieses Wort in die rasenden Gemüter. „Waze! Waze! Herr Waze!“ schrieen sie den Bären an, und ein Hagel von Steinen ging nieder über das wehrlose Tier.

Ruedlieb, den das Geschrei gerufen hatte, kam herbeigelaufen, und als er gewahrte, was geschah, rief er mit bleichen Lippen: „Aber Leut’! Leut’! Seid denn Ihr noch Menschen? Habt doch Erbarmen und laßt mich hin – ich will ihm den Gnadenstoß geben!“ Aber sie stießen den Buben zurück, und der Hanetzer schrie: „Was thun wir ihm an, daß er leiden muß, recht leiden, recht, recht!“ Da sah er den Kohlmann des Weges kommen. „Eigel! Eigel! Da komm her!“ Mit der Stimme des Hanetzer vermischte sich das Geschrei der anderen: „Da komm her! Sag’ Du, was wir ihm anthun sollen! Sag’, was das Grausigst’ ist!“

Der Kohlmann stand vor dem Bären; langsam blickte er über den Weg zurück, den er gekommen war, und sagte: „Das Grausigst’? Laßt ihn heiraten wie der Kaganhart!“

Einen Augenblick herrschte das Schweigen der Verblüffung, dann brach ein schallendes Gelächter los. Der Bär schien zu fühlen, daß die straff gespannten Seile sich lockerte, jählings machte er eine gewaltsame Anstrengung, überschlug sich und stand auf den Füßen; drei Seile flogen in der Luft, nur der Hanetzer hielt das seine noch fest umklammert. Ein gellendes Geschrei erscholl, die Dirnen flüchteten, die Männer, alle voran der Hanetzer, sprangen auf den Bären ein, aber dumpf brüllend erhob sich das Tier und schlug mit der Tatze. Erbleichend wich der Hanetzer zurück, und während das rote Blut von seinem Schenkel sprudelte, rannte der Bär in jagender Flucht thalabwärts, die Seile schleifend, deren Enden ihn umringelten wie graue Schlangen. Zwischen den Bäumen verschwand er. Wohl stürzten ihm Ruedlieb und die Sennen nach, aber sie bekamen ihn nicht mehr zu Gesicht; nur die Seile fanden sie, welche, da ihre Schlingen sich gelockert hatten, von den Tatzen des flüchtenden Bären abgefallen waren. Als sie die Verfolgung aufgaben, sagte Ruedlieb. „Das gönn’ ich Euch!“ Und die Sennen verlassend, stieg er gegen die Reginwand empor, um die Grube zu verschütten, die er ausgeworfen.

Die Sennen begannen miteinander zu hadern, und jeder warf dem anderen vor, daß er zuerst das Seil ausgelassen hatte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_150.jpg&oldid=- (Version vom 4.6.2020)