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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

den Knotenstock schwang mit hallendem Ruf: „Wo sind die Buben? Wo sind sie?“

„Buben? Was für Buben?“ stotterte sie. „Ich hab’ nur einen einzigen! Und der ist auf der Alben!“

Schweiker ließ den Prügel fallen und griff mit beiden Händen an seinen Kopf, in dem er einen Wirbel spürte, als wären seine Gedanken ein Häuflein Blätter, die der Wind gefaßt. Hinter dem Stall kam der Greinwalder hervorgeschlichen. „Da hört sich doch alles auf!“ brnmmte er. „Gleich ein Loch in den Hag rennen! So ein Unfirm!“ Er ging zum Thor, kraute sich hinter den Ohren und besah den Schaden.

„Warum habt Ihr denn das Thor nicht aufgethan? Ich hab’ doch gerufen!“ stammelte Schweiker.

„Gerufen, gerufen!“ Das Weib wurde rot bis über die Ohren und schielte nach ihrem Mann. „So ’was muß man doch hören eh’ man aufthun kann! Was willst denn eigentlich?“

Da mußte sich Schweiker besinnen, nach einer stummen Weile fiel es ihm ein: „Meinen Herrn hab’ ich suchen wollen. Ist er nicht dagewesen?“

„Nein, nein, hab’ nichts gesehen, hab’ nichts gehört.“

„Aber er muß doch dagewesen sein! Ich hab’ doch gesehen, wie er über die Halden heruntergestiegen ist. Wo sollt’ er denn gewesen sein, wenn nicht bei Deinem Kindl?“

Verlegen suchte die Bäuerin nach Worten, doch sie fand nur wieder die alte Rede: „Nein, nein, hab’ nichts gehört, hab’ nichts gesehen!“

Schweiker schüttelte den Kopf und machte ein paar Schritte gegen das Thor. Schwer atmend blieb er wieder stehen und fragte: „Wie geht’s ihr denn?“

„Gut, gut!“ lautete die hastige Antwort. „Da brauchst Dich nimmer sorgen! Kannst schon gehen! Wohl wohl! Sie wird bald wieder hüten können.“

„Der liebe Gott sei drum gelobt!“ Ein tiefer Seufzer, und Schweiker ging zum Thor; doch wieder kehrte er um, und seine Stimme schwankte: „Sag’ ihr ... sag’ ihr, ich thu’ sie grüßen lassen! Gelt, sag’ ihr das!“

Er wollte gehen; da klang es mit zitterndem Ruf aus der Stube: „Gottesmann!“

Mit einem Sprung war Schweiker bei der Thüre; stotternd wollte ihm die Bäuerin den Weg verlegen, aber den das Thor nicht aufgehalten, den hielten auch die Hände des Weibes nicht. Im Halbdunkel der Stube leuchtete ihm vom Bett das Gesichtlein der Hirtin und die weiße Binde entgegen. „Kindl! Kindl!“ Mehr brachte er nicht über die Lippen.

Wortlos streckte Hinzula die Hände nach ihm. Als er zögernd nähertrat, sah er ihre verweinten Augen und die Spur der Zähren auf ihren schmächtigen Wangen. „Gelt, so hab’ ich doch recht gehört!“ stammelte er. „Was ist denn geschehen, Kindl? Sag’ doch, sag’, warum denn hast Du geweint?“

„Weil, weil ...“ da gewahrte Hinzula die Zeichen, die ihr die Mutter hinter dem Rücken des Mönches machte. Sie senkte die Augen und lispelte: „Weil ich Schmerzen hab’.“

Erschrocken faßte er ihre Hände, setzte sich auf die Kante des Lagers und starrte mit kummervollen Augen auf ihre blassen Züge. Sie schien die Sprache seiner Blicke zu verstehen. „Mir ist schon wieder ein lützel besser,“ flüsterte sie mit scheuem Lächeln und ließ sich auf das Heupolster zurücksinken. „Thu’ nur meine Händ’ nicht auslassen!“

Bruder Schweiker hielt fest. Nach einer Weile aber wurde er unruhig und drehte immer wieder das Gesicht zur Thüre.

„Was schaust denn alleweil’?“ fragte sie.

Er zögerte mit der Antwort.. „Ich mein’, ich werd’ wohl fort müssen.“ Sie hob sich erschrocken auf und ihre zitternden Finger umklammerten seine Hände. „So schau’ doch, Kindl,“ jammerte er, „ich muß ja meinen Herrn suchen!“

Sie ließ das Köpflein sinken. Weshalb er gehen mußte, das kümmerte sie nicht – sie hörte nur, daß er nicht bleiben konnte, und seufzte. „So gut ist mir, wenn Deine Händ’ mich halten! Schier völlig gesunden hätt’ ich können ... jetzt muß ich halt wieder liegen in Schmerzen!“

Bei dem fassungslosen Zwiespalt, in welchen Bruder Schweiker durch diese Worte geriet, fiel es ihm gar nicht auf, daß dem Druck seiner Hände eine so wundersame Heilkraft innewohnte. Was sollte er thun? Konnte er gehen? Durfte er bleiben? Im Wirbel dieser Fragen kam ihm wie eine Erleuchtung die Erinnerung, daß Eberwein einst zu ihm gesprochen: „Findest Du ein Menschenkind in Not und Schmerzen, so denke nicht Deiner selbst, nicht Deiner Brüder und des Klosters, Not hat kein Gebot als nur das einzige des Erbarmens!“ Und es war doch sein Herz des „Erbarmens“ so voll, daß es ihm fast zerspringen wollte.

„Ja, Kindl, ja, Du bist in Not und Schmerzen, da muß ich bleiben! Das hat er selber gesagt!“

Ueber die Züge der Hirtin ging ein Lächeln, so hell wie Sonnenschein ...

Draußen aber leuchtete kein Strahl. Grau hing das dicht geschlossene Gewölk über dem Thal, alle Spitzen der Berge verhüllend. Kein Windhauch regte sich, und das trübe Zwielicht verschleierte die Farben. Es hatte sich über alles Leben der Erde gesenkt wie eine dumpfe trostlose Stimmung. Lautlos dehnte sich der welkende Bergwald, und es schien, als stünde jeder halb entblätterte Strauch und jeder fröstelnde Baum in Furcht und Scheu vor einem nahenden Feind. Dunkler und dunkler sammelten sich die Wolken. Aus allen Bergscharten tauchten sie auf, glitten die Gehänge entlang und drängten sich über dem Thal zu Hauf, als wäre in den Lüften ein „Thing“ berufen, welches entscheiden sollte über die kommende Zeit. In schwärzlichem Blau wälzte sich ein gesonderter Wolkenzug, zwischen dem Totenmann und Steinberg, über das Ramsauer Thal einher.

Die ziehenden Schwaden streiften den steilen Bergwald, durch welchen der alte Runot von den Alben niederstieg. Er hatte seine Buben gerufen, um mit ihrer Hilfe sein in Trümmer gefallenes Haus neu wieder aufzurichten. Als er das Thal erreichte und am Kirchleiu vorüberschritt, sah er das greise Paar auf der Steinbank unter der Linde sitzen; um den Baum her war die Erde gelb von gefallenen Blättern. Der Bauer lüftete zum Gruß das lederne Käpplein und deutete nach der Höhe. „Schau’ hinauf, die tragen den weißen Winter im grauen Kittel.“

„Wohl wohl,“ nickte Hiltischalk, „tummel’ Dich nur, daß Du Dein Häusl unter Dach bringst, ’vor der Schnee am Hag hinaufwachst.“

„Ich mein’, es wird sich machen. Bieten doch alle Nachbarsleut’ die Händ’ zum Schaffen.“

„Recht so, recht, nur alleweil’ fest zusammenhalten! Bei solchem Bund ist Gottes Segen. Geh’ nur, geh’ und versäum’ kein Stündl!“

Der Bauer grüßte und wanderte weiter.

„Ist ein guter braver Mann!“ nickte der Greis. „Gott hat sich sichtlich an ihm erwiesen und wird ihm das neue Haus behüten.“

„Ja, das wird er!“ sagte Hiltidiu mit ihrer leisen Stimme und blickte mit verträumtem Lächeln auf das Sträußlein in ihren Händen. Es waren welkende Heideblumen ... die Blüten, die ihr Eberwein gesandt. Nach einer Weile suchten ihre Augen den Weg, der neben dem Kirchhof vorüberzog und am Ufer der Ache unter Bäumen verschwand. „Meinst, er kommt wohl heut’ noch?“

„Freilich, freilich, er hat es ja durch die Mätzel sagen lassen!“ Hiltischalk griff an seiner Kutte umher. „Wo hab’ ich nur das Birkenblättlein?“ Er zog aus einer Tasche die weiße Rinde hervor und las: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden!“ Er faßte die welken Hände der Greisin und wortlos schmiegten sie die faltigen Wangen aneinander. Um sie her fielen die Blätter, und hoch in den Lüften, fast im Gewölk, eilte eine Schwalbenschar der Ferne zu, wie auf hastiger Flucht ...

Die Greisin fuhr auf, zitternd, und deutete gegen das Thal der Ache. „Er kommt! Er kommt! Schau’ nur: zwischen den Bäumen seh’ ich das schwarze Häs!“

„Wohl wohl, das ist er schon!“ rief Hiltischalk. So schnell, als ihre alten Füße sie trugen, eilten sie zum Thor der aus Felsbrocken aufgeschichteten Umfriedung.

„Willkommen, willkommen!“ rief der Greis in bebender Erregung, „willkommen in Gott, Du mein guter Bruder ...“ Er verstummte und blickte erschrocken auf den Mönch, weicher wankenden Ganges den Hof betrat. Pater Waldram war es, kaum trugen ihn die Füße noch, und keuchend ging sein Atem; seine bleiche Wange war blutig geschunden wie von einem Sturz, und übel hatten die Dornen des Weges und die dürren Aeste des Urwalds seine Kutte zugerichtet. Und was er sonst noch auf diesem Wege erfahren, redete aus dem heiseren gereizten Klang seiner ersten Worte. „Ein Thor, das dem Diener Gottes offen steht? Wo sind die Hunde, um mich zu jagen? Wo die Steine, die mich treffen sollen?“ Seine Hände, die den Stab verloren, griffen nach einer Stütze, und taumelnd sank er auf die Steinbank nieder.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_346.jpg&oldid=- (Version vom 11.11.2020)