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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)


„Hier waren sie, als ich den Bruder zuletzt sah,“ murmelt er, mit den Augen scharf die unregelmäßig verstreuten Leiber der Gefallenen musternd, während sein abgehetztes Pferd mit gesenktem langgestreckten Halse dahinschreitet; behutsam hebt das edle Tier die Füße über reglose Körper hinweg, windet sich hindurch, weicht schnaubend zurück vor einem Sterbenden zu seinen Füßen.

Hier war es, wo die preußischen Garden zum Sturm vorgingen auf St. Privat, todesmutig, unter brausendem Hurra heranbrandend in dem vernichtenden Gewehrfeuer, das ihnen aus jeder Hecke, hinter jeder Steinmauer des Dorfes hervor entgegenprasselte. Reihenweise hat sie der Tod niedergemäht.

Etwas abseits von einer solchen todesstarren Gruppe liegt lang hingestreckt am Boden die mächtige Gestalt eines Offiziers, das Antlitz, auf den verschränkten Armen ruhend, zur Erde gekehrt.

Langsam, den Kopf weit vorgebeugt, kommt der Reiter näher, und als sich ihm die Umrisse jenes Körpers aus dem Dämmerlicht loszulösen beginnen, zieht fahle Blässe über das Gesicht des Suchenden. „Bruder!“ stöhnt er und gleitet aus dem Sattel, an der Seite jenes Gefallenen niederknieend.

Sein Gaul senkt schnaufend die Nüstern zu einigen niedergetretenen Haferähren hinab, während die Hände seines Reiters den Körper des Hingestreckten betasten. „Bruno! Bruder!“ Er hält die eigenen Finger dicht vor die Augen, nach Spuren von Blut forschend.

Kein Laut, der dem Rufenden Antwort giebt. Oder doch? Ist es nicht, als ob ein Zittern durch den Körper da vor ihm gehe, als ob ein ersticktes Wimmern vernehmbar sei? „Bruno, wo bist Du verwundet? Kannst Du den Kopf nicht heben?“ Und wieder beginnt er mit den Händen zu tasten. Kein Tropfen Blut, nicht eine defekte Stelle in dem die breite Gestalt umschließenden blauen Waffenrock! Da – kein Zweifel! Ein krampfhaftes Zucken der Glieder ist fühlbar. Entschlossen hebt Hermann von Weßnitz das Haupt des Bruders empor, faßt ihn an den Schultern und schwerfällig dreht sich der Körper auf den Rücken.

„Was ist Dir, Bruder? So sieh mich doch an!“

Langsam öffnet Bruno die Augen, wie jemand, der sich fürchtet, durch das Sehen wieder die Außenwelt auf sich wirken zu lassen. Ein verstörtes ausdrucksloses Gesicht, zwei glanzlose stumpf starrende Augen! Aber das ist nicht der Blick eines schwer Verwundeten oder Sterbenden!

Die Brüder hängen mit ihren Blicken aneinander wie gebannt; der eine forschend, suchend, der andere mit einem Zucken in den Augenlidern, einem unruhigen Hin- und Herflackern. Dann schlägt Bruno beide Hände vor das Antlitz. „Was willst Du von mir? Geh, geh – laß die Hände weg! Fort von mir, sag’ ich! Doch nein, nein, bleib! Rasch einen Revolver! Ich verlor den meinen .... Was starrst Du mich an? So thu’ es doch! Schieß’ Deinem Bruder eine mitleidige Kugel vor die Stirne!“

Hermann prallt zurück. Seine Blicke irren entsetzt, verständnislos umher. Ist er wahnsinnig oder der Bruder? Eine unnennbare Vorstellung, eine unklare atemraubende Ahnung von etwas Schrecklichem, Undenkbarem zuckt ihm durchs Gehirn. Er stützt sich wie nach einem Halt suchend mit beiden Händen auf den Boden, seine Finger krampfen sich in das Erdreich.

Nun klingen wieder Worte an sein Ohr, abgerissen, stockend, hervorgestoßen aus einer ächzenden Menschenbrust. „So tritt mich doch mit den Füßen! Ein Weßnitz ein Feigling! Schlage mich, wenn Dir eine ehrliche Kngel zu gut dünkt! Ganz recht, Du willst nicht hersehen! Hier liegt Dein Bruder, Blut von Deinem Blut, haha – – pst! Ruhig! Duck’ Dich!“ Er versucht den Bruder zu sich herabzuzerren, während seine Augen mit dem Ausdruck eines geschlagenen Hundes den Gestalten zweier Krankenträger folgen, die in einiger Entfernung vorübergehen. „Daß sie uns hier nicht zusammen sehen! – O, im Anfang war das alles gar nichts! Man steckte so in der Masse drin, man hörte Kommandorufe und es ging vorwärts, man sah kaum rechts noch links. Aber dann ein Halt, weil wir nicht mehr vorwärts konnten, auch zu schießen vermochten wir nicht hinter dem Grabenwall. Nur die Verwundeten schrien. Jetzt wieder auf! Die Ersten, die heraussprangen, stürzten tot zurück. Wieder aus der Deckung! Reihenweise sanken sie zusammen. Den Vetter Ungern schossen sie durch den Kopf, er rollte wie ein Klotz mir vor die Füße und ich – nun ich stürzte über ihn weg – dort, dicht hinter mir, er liegt noch da. O, er kann wohl so ruhig daliegen! Ein ehrlicher Toter!“ Erschöpft hält der Sprecher inne und wischt mit dem Rücken der rechten Hand den Schweiß von der Stirne.

„Du hast irgendwo eine matte Kngel, einen Prellschuß bekommen,“ sagt Hermann von Weßnitz in einem Ton, als klammere er sich an diese Möglichkeit fest.

Der Bruder schüttelt den Kopf. „So glaubte ich selbst im Anfang! Ein dumpfes lähmendes Gefühl im Kopf, als hielten mich tausend Hände an den Kleidern auf dem Boden fest. Dann kam das zweite Bataillon dicht an uns vorbei. Irgend einer sagte ganz laut. ,Da liegt Weßnitz, armer Kerl!‘ O, hätte er wahr gesprochen! Kurz darauf betastete jemand meinen Körper. Eine Stimme schrie herüber. ,Nicht den! Dem ist nicht mehr zu helfen, hier, nehmt diesen Offizier!‘ Dann war ich wieder allein. Ich kannte jene Stimme, es war die unseres Bataillonsarztes.“

„Noch war es nicht zu spät –“

„So, glaubst Du? Sollte ich hinterherlaufen und schreien: mir fehlt nichts, gar nichts, ich habe nur einen kleinen Nervenschauer gehabt! So antworte doch! Hermann!“ schreit er auf, „sieh mich nicht so an! So nicht! Genau wie der Vater! Nur der graue Bart fehlt und die schneeweißen Haare! Ja, ja, es ist gut, daß sein Haar schon weiß ist! Ein Weßnitz ein Feigling in seines Königs Rock!“ In namenloser Scham wirft sich Bruno wieder herum und wühlt das Gesicht in die Erde.

Tiefe Stille, es ist fast Nacht geworden. Unheimlich dröhnt von St. Privat das Prasseln zusammenstürzender Häuser herüber.

Hermann ist aufgestanden. Die Arme über der Brust gekreuzt, blickt er unbeweglich zu dem Bruder hinab. Tiefe Falten legen sich ihm um Mund und Augen, Schmerz, Groll, Schamgefühl graben scharfe Linien in sein junges Gesicht, rascher und härter, als Jahre es könnten.

Da tönen Stimmen herüber zu den beiden. Scheu fahren sie zusammen.

„Hermann, wenn jemond uns hier so fände! Geh, geh! Wo ist Dein Revolver? Rasch, ich beschwöre Dich! Der Vater, die Kameraden . . .“

Eine Sekunde zögert Hermann, dann zerrt er den Revolver aus der Satteltasche und drückt ihn dem Bruder in die feuchtkalte erdige Rechte. „O Bruder!“ ruft er stöhnend.

„So – danke Dir! Leb’ wohl! Und grüß’ die Lore – und . . .“

Das andere hört Hermann nicht mehr, halb besinnungslos, kaum die Bügel berührend, schwingt er sich in den Sattel und giebt dem Pferde die Sporen, in aufgeschreckten Sprüngen stürmt es davon. Plötzach ein heftiger Ruck an den Zügeln – er hält. Ein entsetzlicher Gedanke hat ihn erfaßt und macht ihm das Blut in den Adern erstarren: „Warum hast Du die That nicht verhindert? Mörder! Brudermörder!“ Er reißt das Pferd herum und will zurück. Da – ein kurzer Knall aus jener Richtung. Der Reiter zuckt zusammen und fährt langsam mit der Hand unter die Helmblende. „Zu spät! Es ist geschehen! Leb’ wohl, Bruno!“ kommt es heiser von seinen Lippen.

Winkt dort nicht im Schein mehrerer brennender Laternen ein rotes Kreuz auf weißem Grunde? Mechanisch wendet er sein Pferd dorthin.

Eine Verbandstelle. Mehrere Aerzte sind an der Arbeit, den einen davon kennt er persönlich.

„Herr Stabsarzt! Bitte, dort, an jenem kleinen Strauch – er hebt sich gegen den Feuerschein ab – dort muß mein Bruder liegen. Ich habe keine Sekunde Zeit – Meldung an das Generalkommando –“

„Werde sogleich hinschicken, selbstverständlich! Eine tolle Wirtschaft, und nun die Nacht dazu. Sie schleppen alles heran, Tote und Sterbende, und die anderen, denen noch zu helfen wäre, bleiben liegen. He, Krankenträger! Dort drüben – sie sehen den Strauch – ein verwundeter Offizier!“

„Ich danke Ihnen,“ preßt Hermann hervor und reitet davon. –

In einem halbzerschossenen Hause findet er seinen General.

„Was ist aus Ihrem Bruder geworden, lieber Weßnitz?“ fragt ihn der Vorgesetzte, unter den buschigen Augenbrauen hervor seinen Ordonnanzoffizier anblickend.

„Ich habe ihn nicht gefunden“, antwortet Weßnitz und wendet sein Gesicht von dem dürftigen Lichtschein einer wackligen Stalllaterne weg, die fast das einzige Mobiliar dieses Quartiers ausmacht.

„Na, es wird nicht so schlimm sein! Verdammt! Nach diesem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_450.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2021)