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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

zwei Pflichten sind Dir auferlegt, die eine gegen Deinen Nächsten und die andere gegen Dich selbst. Sei gut, und Du erfüllst die erste. Sei Dir selbst getreu, und Du genügst der zweiten. Alles andere laß über Dich ergehen, wie es mag. Das kommende liegt vor Dir, ein Wirrwar dunkler Pfade. Welchen Du wandeln sollst ... frage nicht andere, nur immer Dich selbst. Beschreite jenen Weg, den Dein redliches Herz Dich gehen heißt, und überlasse die Führung jenen Mächten, die Du fühlen kannst, doch nicht erkennen. Glaube an Gott! Denn glauben mußt Du, Glaube ist Hoffnung, und Hoffnung ist der Atem alles Lebens. Glaube an Gott, an seine Kraft und Liebe ... doch hüte Dich, nach seinem Wesen und Antlitz zu forschen, nach seinem Rat und Willen. Du bist, wie Du geschaffen wurdest: menschlich ... daß Du mehr nicht sein und nicht hinauswachsen kannst über Deine irdischen Sinne bis zur Wolkenhöhe, das wird Dir die unergründliche Macht verzeihen, die Dich werden ließ, so, wie Du bist!“

Mit ernsten Augen hing Sigenot an Eberweins Lippen, und nach kurzem Schweigen sagte er langsam: „Ich mein’ wohl, ich fass’ Dein Wort ... und mein’ auch, daß ich’s im Leben halten kann nach Deinem Rat. Und weil ich mehr nicht hab’ lernen können, deswegen mußt Dich nimmer sorgen! ‚Mein guter Herre, Du mein Gott‘ ... das ist genug für meine Zung’. Was ich mehr brauch’, redet schon mein Herz dazu. Aber eins noch ...“ seine Stimme schwankte, und mit heißen Augen suchte er den Platz, an dem er einst lachend das scheue Roß gebändigt, „sag’, Herr ... giebt’s ein Wiederfinden sell droben in der helleren Zeit?“

Eberwein wollte sagen. „Ich hoffe!“ Doch als er in Sigenots Augen blickte und das Bangen in jedem Zug des vergrämten Gesichtes erkannte, sagte er mit fester Samme. „Ja, Sigenot! Glaube!“

„Gute Heimfahrt, Herr!“ stammelte Sigenot mit heiserem Laut. „Und kehr’ bald wieder! Dein Wort soll Eisen sein in mir!“ Hastig löste er die Hand und eilte davon. Mit stillem Lächeln sah Eberwein dem Verschwindenden nach. „Du, ein Mönch? Laß Dir genügen am Kleid der Kirche ... und an allem, was Deine Seele füllt mit Weh und Sehnen!“ Er blickte um sich, für kurze Rast eine Stätte suchend. Am Ufer der Ache fand er einen Stein und ließ sich nieder. Nicht lange währte seine Rast, und wieder folgte er dem Pfad, zu dessen Seiten noch überall die Spuren der Flut zu erkennen waren, welche an jenem Unglücksabend den Weg bis in die Ebene hinaus gesucht und gefunden hatte.

Hoch am Tag erreichte Eberwein die Salzaburg. Als er das Thor durchschritten hatte und der bischöflichen Pfalz sich näherte, sah er auf der steinernen Freitreppe einen Bruder seines Ordens sitzen, mit kahlem Haupt, das bleiche Furchengesicht umwuchert von den Stoppeln eines graugesprenkelten Bartes. Schlotterig hing die Kutte um den abgemagerten Leib. Es schien ein Genesender zu sein, der eine lange schwere Krankheit überstanden hatte und sich ein Stündlein an der Sonne wärmte. Müd’ und gebrochen sah er aus; doch plötzlich sprang er auf, schwenkte die Arme, eilte dem Kommenden entgegen und stürzte schluchzend vor ihm nieder.

„Bruder Wampo!“ In zitternder Freude hob Eberwein den Wiedergefundenen auf.

„Herr! Ach guter Herr! Geh’ nicht ins Gericht mit mir, weil ich die Klaus’ verlassen hab’ und gelaufen bin wie die Maus vor einer Katz’! Das Grausen hat mich gepackt, das Grausen! Aber schau’ mich an ... ich bin gestraft dafür! Sechs Wochen hab’ ich auf den Tod gelegen vom Schreck und von der Angst, sechs Wochen, Herr ... und all’weil’ Krankenkost ...“ In Schluchzen erloschen ihm die Worte, und Eberwein mußte unter Thränen lächeln.




38.

Es war um die Sonnenwende des folgenden Jahres, an einem sengend heißen Tag, als ein langer Zug von Menschen, beladenen Saumtieren, Karren, Pferden und Rindern durch die Waldschlucht der Ache den Weg zum Berchtesgadem suchte. Propst Eberwein kehrte in sein Land zurück, und der Bau des Klosters sollte beginnen. Drei Väter kamen in seinem Geleit, und vier Brüder – unter ihnen Bruder Wampo, dessen Falten sich schon wieder zu glätten und zu füllen begannen. Er war auf der weiten Reise in bester Laune gewesen, denn einer der Karren war schwer befrachtet mit bauchigen Fäßlein. Doch je näher man der „schiechen Gegend“ kam, desto unruhiger blickten Bruder Wampos kleine hurtige Aeuglein. Um so heller aber strahlte die Freude in Eberweins Antlitz. Immer wieder eilte er an dem langen Zuge auf und nieder und musterte die Menschen, die Tiere und alles Gerät. Gegen hundert Gewerksleute und Knechte kamen mit ihm – und der Bau des Klosters und der steinernen Kirche sollte nicht ihre einzige Arbeit sein. Er streichelte die schweren Pferde und sah sie schon im Pfluge gehen und die rauhdurchschotterte Erde brechen. Und wie die Bauern staunen würden beim Anblick dieser Rinder! Es war ein fester stämmiger Schlag, der die verkümmerte Zucht des Gadems in wenigen Jahren verbessern würde. Ein Teil der Saumtiere war mit Säcken beladen, welche den Bedarf für die erste Wintersaat und Flachssamen für das kommende Jahr enthielten. Zwei Karren trugen mancherlei Gerät, nach dessen Muster die Bauern lernen sollten, ihre Stuben und Kammern freundlicher zu bestellen; ein anderer Karren war bepackt mit Handwerkszeug, wie es im Garmischgau und Wertofelser Land die Holzschnitzer führten; denn die Kunst, allerlei Bildwerk und zierlichen Hausrat zu schnitzen, gedachte Eberwein die heranwachsenden Knaben zu lehren, damit sie in den Tagen des langen Winters lohnende Arbeit hätten.

Je mehr sich der Zug dem Ende der Waldschlucht näherte, desto ungeduldiger eilte ihm Eberwein voran; es brannte in seinem Herzen die Sehnsucht, das vielgeprüfte Thal, die stille Klause und ihren einsamen Hüter wiederzusehen. Er überholte die zehn Knechte, welche mit Beilen einen Pfad für die Tiere und Karren bahnten, und wanderte aufwärts am Ufer der Ache. Als die Schlucht sich weitete, verhielt er freudig betroffen den Schritt: vom Lokiwald tönte die Glocke. Er hätte sich lieberen Gruß zum neuen Einstand in seinem Land nicht wünschen mögen. Von der Klause klangen ihm zahlreiche Stimmen entgegen, und als er die Lichtung betrat, sah er rings um das Kirchlein über hundert Menschen versammelt, und andere kamen noch immer herbeigeströmt von allen Seiten. Als die Leute den Mönch gewahrten, erhoben sie ein helles Geschrei und eilten ihm jauchzend entgegen. Sie drückten seine Hände, küßten sein Gewand und begrüßten ihn, recht wie ein dankbares Völklein seinen guten Fürsten. Seit Wochen schon hatten sie seiner Wiederkehr gewartet und aus den Höheu des Untersberges Späher aufgestellt, welche durch Rauchsäulen die Ankunft des Zuges verkündeten. Wohin Eberwein blickte, sah er bekannte Gesichter, aus dem Gadem und aus der Ramsau. Auch der alte Gobl fehlte nicht; er war säuberlich gekleidet, und auf Eberweins Frage, wie es dem Knaben ginge, sagte der Alte stolz: „Der hat sich herausgewachsen, Herr! Wohl wohl! Aus dem Bnben ist ’was geworden! Den kann man brauchen jetzt! Der hütet im Gadem die Säu’ ... das sind gemütliche Tier', wohl wohl, denen kommt er schon nach, wenn er auch ein lützel hinket!“

Den anderen währte die Rede des Greises zu lange, sie wollten auch zu Worte kommen und schoben ihn beiseite. Eberwein bekam die Hände nicht mehr frei. Jetzt hielt ihn der Jungsenn’, der zum Fischer geworden, und jetzt die Heilwig, die sich aus des Fischers Magd in eine Bäuerin verwandelt hatte; Mitleid und Erbarmen hatten ihr einen Mann geworben – den Kaganhart. Seine Trauer um die Hilmtrud schien sich gelegt zu haben. Das rote Gesicht strahlte vor Vergnügen, und seine Haare lagen schlicht und glatt, als wäre schon lang keine zausende Hand mehr dazwischen gefahren. Aber wo blieben Ruedlieb und Rötli? Wo weilte Bruder Sigenot?

„Sell drüben sitzt er beim Kirchlein!“ lautete die Autwort auf Eberweins Frage. „Er hat nimmer stehen können ... die Freud’ ist ihm in die Knie gefahren!“

Eberwein brach sich Bahn durch die Leute. Bis ins Herz erschrak er, als er auf einem Holzblock neben der Kirchenthür den gebrochenen Mann gewahrte, welcher zitternd saß, das graue Haupt an die Balkenwand gelehnt. „Sigenot! Mein Bruder!“ Lange hielten sie sich stumm umschlungen. Als Eberwein seiner Bewegung Herr geworden, strich er mit den Händen über die abgehärmten Wangen des Freundes und stammelte: „In aller Freude ein Schmerz! Ich hoffte, Dich anders zu finden ... mutig und stark, wie Du immer warst!“

„Stark, Herr? Stark ist nur Einer!“ Ein müdes Lächeln zuckte um Sigenots bleiche Lippen. „Ich will Dir sagen, was schuld ist ... es steht halt für mich die Klaus’ auf einem unguten Fleck. All’weil’ seh’ ich den halben Berg sell drüben ... und ich kann’s nicht wehren: so oft ich hinaufschau’, reißt er wir ein Stückl von meiner Seel’! Viel ist nimmer übrig, Herr!“

Geschrei und Lärm erhob sich, die Leute kamen in Bewegung;

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_511.jpg&oldid=- (Version vom 9.7.2020)