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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Da sagen die Leute nun immer: „Holsatia non cantat“ – „Holstein singt nicht“, aber wer Fränzchen Genthin nur ein einzigesmal singen hörte, mußte sich schnell genug zu der Ansicht bekehren: Holstein kann dat doch!

Im Augenblick freilich herrschte tiefe Stille im ganzen Hause. Onkel Genthin war verreist, war mit den anderen Männern der schleswig-holsteinischen Abordnung nach Frankfurt gegangen, dem Bundestage die Wünsche des schwerbedrängten Landes vorzutragen. Die beiden kleinen Basen waren mit ihren Weihnachtspuppen in Kaffeegesellschaft; der hoffnungsvolle Erbprinz und Hauskomponist ruhte auf seinen Lorbeeren und schlief den Schlaf des Gerechten. Und Tante Hedwig – ach ja, die Tante!

Das Katteeker seufzte gar bitterlich, als es an diese Tante dachte, die in ihres Mannes Abwesenheit auf so furchtbare Irrwege geraten war. Und nicht allein das! Sie selber, Marie Kattein, genannt Katteeker, sie selber stand im Begriff, in die Fußstapfen dieser Tante zu treten!

In dieser Minute zwar stieg sie nur in den großen Holzpantoffeln der Köchin durch den festgefrorenen Schnee und schnitt mit viel Seufzen und heimlichen Gewissensbissen ganze Hände voll Grün von den Buchseinfassungen und den immergrünen Sträuchern ihres pflegeelterlichen Gartens ab, obgleich ein unbefangener Zuschauer durchaus nichts Böses oder Verbotenes an diesem Thun entdeckt haben würde. Höchstens hätte er denken können, das Katteeker wird sich einen gesegneten Schnupfen holen! Dennoch seufzte das Katteeker einmal ums andere. Endlich war der große Korb bis zum Rande gefüllt; das halberfrorene Mädchen zog sein dickes Tuch fester um die schmächtigen Schultern, denn es war ein bitterkalter Januartag, und begab sich auf den Rückweg, langsam und nachdenklich – erstlich, weil man in Stines schweren Holzpantoffeln überhaupt nicht schnell vorwärts kommen konnte, und zweitens, weil sie sich in einem tiefen Konflikt befand, wie siebzehnjährige Mädchen ihn zum Glück nicht oft durchkämpfen müssen. Nämlich in einem Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und der Liebe zu ...

„Aha, schaut’s da heraus?“ wird nun manch einer sagen. „Die alte Geschichte! Das kennen wir, haben es schon oft erlebt!“ Aber diesmal kommt’s doch anders, denn es handelt sich bei dieser Liebe um gar keinen Herrn, sondern um eine Dame und zwar um Katteekers angebetete Tante.

Patriotismus und Liebe miteinander im Zweikampf, und der Schauplatz ein siebzehnjähriges Mädchenherz – wie sollte das enden?

Frau Hedwig Genthin, die der jungen Nichte so große Sorge machte, saß indessen mit leidlicher Gemütsruhe in ihrem Wohnzimmer. Vor ihr auf dem Tisch stand ein Korb mit Tannenzweigen und allerhand Wintergrün, aus dem sie unzählige kleine Sträußchen wand, um sie dann mit schmalem schwarz-weißen Seidenbande zu schmücken. Sie war noch jung, mit dunklem Haar, dunklen Augen und einem ernsthaften Zug um den feingeschnittenen Mund. Das einfache Hauskleid in jener Mode der sechziger Jahre, die von dem jetzigen Geschlecht als geschmacklos belächelt wird, mit dem schmalen schneeweißen Leinwandstreifen um Hals und Hände, hob die eigenartige, fast südliche Schönheit der jungen Frau lebhaft hervor. Mit halber Stimme summte sie bei ihrer Arbeit einen Vers des alten Preußenliedes vor sich hin, unterbrach sich aber, als sie die Thür des Nebenzimmers gehen hörte, und rief hinüber: „Sind die Kleider geplättet, Christine?“

„Ja,“ kam es grollend zurück, „plätt’ sünd se. Awer wat schüllt[1] de oll Lütten doch mit de witten Kledaschen nu in Winter?“

Die alte Köchin breitete die Kinderkleider behutsam auf dem Sofa aus und blickte ihre Herrin vorwurfsvoll an. Die ließ sich indes nicht stören; nur ein Lächeln flog über das dunkle Gesicht, und begütigend sagte sie in etwas fremd klingender Mundart. „Wir zieh’n halt die Kinder recht warm darunter an, Christine. Es ist ja nur für ein Viertelstündchen!“ Dann, sich besinnend, fügte sie hinzu. „Es fehlen noch ein paar Knöpfe an dem einen Kleide; bring’ es zu Jette hinüber – sie soll auch die Schleifen festnähen!“

Kopfschüttelnd und immer noch leise vor sich hinbrummend, trat die Köchin die Reise nach der Kinderstube an, wo „Neihersch“, die „Näherin“, wie das alte Mädchen im ganzen Ort genannt wurde, beim letzten Tagesschein am Fenster saß und emsig stichelte.

Christine richtete ihren Auftrag aus, blieb dann mit untergestemmten Armen neben der kleinen Verwachsenen stehen und entschloß sich endlich zu der schwerwiegenden Frage. „Neihersch – de Preuß’, is dat ’n Fründ oder ’n Fiend?“

„’n Fiend!“ antwortete die kleine Person mit Nachdruck, ohne sich nur eine Sekunde lang zu besinnen. Dabei bohrte sie ihre Nadel so heftig in den zierlichen Perlmutterknopf hinein, als hätte sie den Landesfeind in eigener Person vor sich.

„Un de Fru will em bewillkam’n!“ rief die Köchin in tiefer Entrüstung.

„Neihersch“ nickte und arbeitete eifrig weiter.

„Weet ik. Weet ik allens,“ sprach sie überlegen. „De Herr is mit de grote Deputatschon nah’n Bunnesdag un will de Lüd dar dat bedüden, dat wi hier keen Preußenvulk hebbn wüllt. De freten uns doch man schier arm ...“

„Ja,“ unterbrach Stine hier den politischen Vortrag der Kleinen – „un ’t is so allens all so düer!“

„Neihersch“ biß einen neuen Faden ab, fädelte ihn ein und sagte ärgerlich. „Dar kümmt dat hier nich up an, Stine! Dar reden wi nu nich vun. Ik segg man: de Herr is weg un will Hülp holen gegen de Preußens, un wat de Fru is, de ward sik ünnerdes ’n preuß’sche Fahn neih’n, swart un witt un söß[2] Ehlen lang, vun den besten witten Schirting – vun den swarten Orleang noch ganz to swiegen! – un ward en ganzen Scheepel[3] vull lütte Buketters maken ...“

„Un de oll Lütten de witten Kleeder antrecken – bi düsse Küll[4], Neihersch!“ schob die Köchin grollend ein.

„Ja, Stine. Se hebb je ümmer recht, lütt Stine!“ erwiderte die kleine Verwachsene mit einer gewissen gutmütigen Ironie, die man ihr kaum zugetraut hätte. Sie hielt mit ihrer Arbeit inne und fuhr nachdenklich fort. „Man up een Ort kann ik ehr dat nich verdenken! De Preußens sünd nu doch eenmal ehr Landslüd, un in teihn[5] Johren hett se keen vun ehr to sehn kregen. Kiek, wenn unsereen dat so güng, lütt Stine! Ik will man segg’n, wenn wi buten[6] in’t preuß’sche Lann un unner frömde Lüd weer’n, un wenn denn weck vun unse sleswig-holsteinsche Jungs kamen schüllt – wat, lütt Stine, schüllt wi denn nich ok wul en blag–rod–witte[7] Fahn neih’n un Kräns’ winnen un all so wat?“

Christine blickte in grenzenlosem Staunen auf das alte Mädchen, deren eingefallene Wangen brannten, deren kluge dunkle Augen in jugendlichem Feuer leuchteten. „Herre Jesus, Neihersch! Wat künnt Se doch eenmal klok[8] snaken – jüs as’n Paster!“ rief sie in ehrlicher Bewunderung.

„Ne, dat lat man, Stine!“ wehrte Jette bescheiden ab, hielt das weiße Kleidchen auf Armeslänge von sich und prüfte, ob die Schleifen auch gerade säßen. Sie schien die Unterredung für beendet zu halten, denn sie nickte der Köchin zu und sagte mit Nachdruck: „Wat ik man noch seggn wull, Stine. Wenn de Fru dat deiht, so ward dat doch wul sien Richtigkeit hebb’n un ward nix Unrechtes nich wesen. Un denn geiht dat je ok keen wat an – nich, lütt Stine?“

„Je, dat verstah ik denn wul nich so,“ meinte Stine; jedoch den andern Wink verstand sie und zog sich mit ihrem Groll gegen die Hausfrau in ihre Küche zurück, aber noch im Hinausgehen murmelte sie. „Blot mit de witten Kledaschen – un denn bi düsse Küll!“

Und abermals knarrte drüben neben dem Wohnzimmer eine Thür, und die junge Frau, in der Meinung, daß Stine zurückkäme, fragte. „Wo ist denn Fräulein Marie?“

„Hier ist sie in höchsteigener Person – und verleugnet all ihre Vaterlandsliebe, um ihrer angebeteten Tante den Willen zu thun!“ rief eine pathetische junge Stimme. Unter der Thür stand das Katteeker, in einem leuchtend rot- und blaugestreiften Kleid und einer großen weißen Schürze, denn Fräulein Marie Kattein kleidete sich mit Vorliebe in die schleswig-holsteinischen Landesfarben. Sie schleppte ihren schweren Korb voll Grünkram herbei und setzte ihn mit einem tiefen Seufzer zu den Füßen der Tante nieder.

„So – nun kann’s losgehen! Tante, wenn ich an Papa denke und an den Herzog und an all das andere, kommt es mir ordentlich schlecht vor, daß ich Dir helfe!“ sprudelte sie atemlos hervor und rieb die halberstarrten Finger.

Ein Schatten flog über das Gesicht der jungen Frau, aber sie antwortete nichts, stand schweigend auf und holte eine kleine braune Kanne aus der Ofenröhre.

„So!“ sagte sie dann freundlich, während sie Tassen und Teller zurechtstellte, wärme Dich erst einmal ordentlich, Kind!“

  1. sollen.
  2. sechs
  3. Scheffel.
  4. Kälte.
  5. zehn.
  6. draußen.
  7. blau–rot–weiß.
  8. klug.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 528. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_528.jpg&oldid=- (Version vom 16.9.2023)