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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894)

Wandlungen.

Novelle von Gerhard Walter.

So habe ich es gern, wie es heute draußen war. Für einen verhältnismäßig schon alten Junggesellen just das rechte Spätherbstwetter. Mein lieber Neffe schalt auf den Sturm, wie er im Walde durch die gepeitschten Baumkronen raste, und fand den Weg zum Bahnhof höchst ungemütlich. Es steckt keine Poesie mehr in dem jungen Volk. Da waren wir anders. Die sind heute viel zu „patent“, viel zu geschniegelt geworden, um noch jung sein zu können. Und wir waren doch auch gerade nicht von der Bank gefallene Kinder, sondern Gesellen, die sich sehen lassen konnten in der Cereviskappe, mit Band und Bierzipfel. „Wenn wir durch die Straßen zogen, recht wie Bursch’ in Saus und Braus“ – das machte sich wenigstens ebensogut, wie wenn die jungen Herren heute mit Glacéhandschuhen und mit „durchgezogenem“ Scheitel Fensterparade machen. Doch was ereifere ich mich da um nichts und wieder nichts: es waren ja doch prächtige Tage, da der junge Gesell in meinem stillen Pfarrhaus weilte, und es thut mir leid darum, daß sie vorbei sind. Und nun sitze ich hier wieder allein und schreibe an meinem Tagebuch. Was soll man schließlich thun, wenn man niemand hat, mit dem man sprechen kann? Und gerade heute stürmen Erinnerungen so mancher Art auf mich ein. Was ein Wort, ein Name doch thun kann! Wie wir da durch den Sturm unsern Weg im Walde machten, kam uns ein Ponygefährt entgegen. Unseres Försters Töchterlein saß darin, frisch und blühend. Ich sprach einige freundliche Worte mit ihr, während Hermann abseits stand, nicht ohne mit wohlgefälligem Blick das saubere Mädel zu betrachten.

„Du, Onkel, die hättest Du mir eigentlich auch früher zeigen können,“ sagte er schmollend, als wir weitergingen. „Weißt Du, bei Dir war’s ja sehr nett, aber solch kleine Bekanntschaft, das ist doch der Tau in der Rose und die ideale Seite des studentischen Lebens.“

Ich verwies ihm seine leichtfertigen Reden, wie sich das für mich gebührte. „Ach was, Onkel, das ist nicht so schlimm!“ rief er lustig. Ihr würdigen Herren seid auch ’mal jung gewesen. Hab’s in Deinem alten Kommersbuch selbst gesehen, wie das Lied von dem Wanderburschen rot angestrichen war, und der Vers noch besonders:

So manches liebe Gläschen Wein
Müßt wahrlich ungetrunken sein;
So mancher Mund, der kußlich ist,
Der bliebe wahrlich ungeküßt;
Denn wenn kein Wanderbursche wär’,
Wo käm’ das liebe Wandern her?“

Und der Schlingel (übrigens hatte er recht) sang es mit heller Stimme in den herbstlichen Wald hinein. „Junge,“ sagte ich sehr ernst, „ich bitte mir etwas mehr Achtung vorm Alter aus.“

Da umfaßte er mich und sagte: „Ach Du mit Deinen zweiundvierzig Jahren könntest noch gerade so gut Student sein wie ich! Weißt Du was, Onkel? Heiraten mußt Du! Es ist Sünde und Schade um Dich, daß Du als Junggesell einem einsamen Tod entgegensiehst.“

„Habe nur keine gefunden, mein Junge, die mir so recht gefallen hätte; weißt Du eine?“ Er pfiff leise zwischen den Zähnen vor sich hin. „Ich weiß eine, Onkel, aber ich sag’ es Dir nicht! Ein bißchen jung ist sie freilich für Dich. Ein reizender Besen. Lernte sie bei Oberamtmann Fabri kennen. Da war sie ein Jahr im Hause. Waren alle närrisch in sie verschossen. Aber unnahbar wie die Gipfel des Himalaya und dabei doch freundlich wie ein Frühlingstag. Das Mädel hatte nur einen Fehler: sie war arm wie eine Kirchenmaus. Eine Pfarrerstochter. Aber ich sag’ Dir, Onkel, und wenn sie nur hunderttausend gehabt hätte ich hätt’ sie unbesehen genommen, die kleine Else Oswald.“

„Oswald?“ rief ich und blieb stehen, den Stock in die Erde stemmend. „Oswald hieß ja mein liebster Freund auf Erden, mein Waffenbruder und Spießgesell; weißt Du nicht, wo sie her war?“

„Freilich. Irgend so ein gräßliches Ding in Sand und Heide da hinten, wo des heiligen römischen Reiches Streusandbüchse anfängt, rühmt sich ihrer Geburt ...“

Keine Frage, ich hatte eine alte Spur wieder aufgefunden, und mein Herz klopfte bei dem Gedanken, als ich den langen Weg durch den dämmernden Abend wieder zurück machte, allein, in stillem Sinnen. Es kam etwas über mich wie Wehmut der Einsamkeit. Ich sehnte mich mit einem Mal nach altem Glück vergangener Tage. Tausend lichte Bilder stiegen vor meiner Seele auf, wie dunkler und dunkler die stürmende Nacht sich niedersenkte. Ich halte euch fest, ihr Bilder. –

Ich war ein Bursche, der viel vom Leben verlangte – auch einen Freund. Und der sollte mir werden. Es war ein blütenreicher Tag gewesen, als wir zum erstenmal draußen im Waldschlößchen uns getroffen und mit warmen jungen Herzen erkannt hatten, daß wir zusammengehörten. Beim ersten Sternenschimmer, als wir Arm in Arm nach Hause gingen, kehrten wir noch einmal in der „Ohrwaschel“ ein, dem Wirtshaus im Steinbruch, über dem die Tannen rauschten, und da blieben wir sitzen. Das Bier war gut, am Bach sang eine einsame Nachtigall, die Mondsichel stand klar am Himmel und stieg höher und höher und als sie im Morgenrot unterging, da saß der Wirtin Töchterlein tiefschlafend hinterm Ofen; aber wir beide saßen noch beisammen. Hatten viel miteinander geredet in der Nacht, und es war Morgenlicht nicht nur über der Welt, als wir heimpilgerten, nein, auch in uns, wie wir singend durch den stillen Wald zogen.

Die „Dioskuren“ nannten sie uns, und mächtig wurden wir „gekeilt“ von allen Verbindungen. Es sah gut aus, wenn wir beide um Mittag durch die Hauptstraße bummelten. Und wir sprangen beide ein bei den „Märkern“. Zwei Renommierfüchse, wie sie im Buch stehen. Aber er, Werner, war mir über, wenigstens in einem Stück. Wo er zwei Mädchenaugen blitzen sah, da flog sein Herz hin. Der „schöne Märker“ hieß er bald, der ritterliche Gesell, der den Blondkopf so hoch trug. Und sie waren stolz darauf, die Mädel, deren Spur er folgte, und seine Streiche mochten so toll sein, wie sie wollten, ihm wurde alles verziehen, wenn er mit seinem siegreichen Lächeln auf den Plan trat, mit dem bittenden Blick der Augen, in denen ein eigentümlicher Zauber lag, dem wenige widerstanden. Ich habe ihn oft gewarnt: „Werner, eine kannst Du doch nur heiraten!“ Dann lachte er laut und fröhlich auf und schlug mich mit starkem Schlag auf die Schulter. „Ja, aber dann die beste und schönste von allen!“

Es gab großes Trauern, als er davonzog, er selbst leichtherzig, wie er gekommen, und manch Philistertöchterlein hat heimlich geweint, daß er ihr nimmer Ständchen brachte um Mitternacht und im Sternenschimmer nach der Rose suchte, die ihm zum Dank durch die Fensterspalte hinabgeworfen wurde.

Auf der Abschiedskneipe, da saßen wir noch einmal bis zum Morgengrauen beisammen und tranken noch einmal mit mächtigem Zug zusammen aus dem großen silberbeschlagenen Horn, dann gaben wir ihm singend das Geleit zum Bahnhof. Aus dem Wagenfenster drückte er mir die Hand, daß es mich schier schmerzte, sah mir mit jenem unbeschreiblichen Blick in die Augen und sagte leise dazu: „Siegfried, Deine Liebe ist mir köstlicher gewesen denn Frauenliebe; Gott befohlen – und auf Wiedersehen!“ So fuhr er hin – und mit ihm meine beste Jugendzeit.

Ist nun bald ein Vierteljahrhundert über dem allen dahin. Wir kamen auseinander, schneller, als ich für möglich gehalten. Aber vergessen thut man darum doch nicht. Ich such’ ihn mir, such’ ihn auf! Möchte noch einmal im Gasthof zur „Goldenen Jugendfreundschaft“ einkehren, um in ihm einen tiefen Trunk guten Feuer- und Freudenweines zu thun. Aber unvermutet möchte ich hineintreten in seinen Kreis, an seinem fröhlichen Erstaunen mich weiden, wenn da plötzlich solch ein alter Confuchs hereinschaut. Ein Bett ist ja immer übrig, und paßt es nicht, nun, dann geh’ ich halt in den Krug. Kommt Zeit, kommt Rat. Es liegt ja noch ein langer Winter zwischen heute und der Reisezeit. Aber wozu es doch manchmal gut ist, wenn einen ein Neffe besucht und ein Ponywagen durch den Wald fährt!


So schrieb ich voriges Jahr. Seitdem ist viel Wasser von den Bergen geflossen und vieles hat sich gewandelt, in anderer Leben und in meinem. Es ist Abend. Draußen ist alles so stumm, als wär’ ich allein in der Welt. Die Geschäfte des Tages, die großen und kleinen, sie ruhen nun, die Gedanken aber werden wach, traurige und fröhliche, wie sie so im Herzen beisammen wohnen. Solch Herz ist ja wie ein großer Gottesacker; sind viele Gräber drin, in denen eingesargte Wünsche, Freuden und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1894). Leipzig: Ernst Keil, 1894, Seite 607. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1894)_607.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2023)